XXXIV

Es war nicht so einfach, wie Vriesländer es sich gedacht hatte. Es dauerte noch mehr als zwei Monate, che cs soweit war, und es war schwierig. Trotzdem aber war es die leichteste Zeit für mich seit vielen Jahren. Alles, was mich gequält hatte, war noch da, und es vervielfältigte sich sogar; aber es wurde erträglich, weil ich jetzt ein Ziel hatte und ihm nicht mehr hilflos gegenüber stand. Ich hatte einen Entschluß gefaßt, und es wurde mir täg lich klarer, daß es keinen anderen für mich gab. Ich versuchte auch nicht, darüber hinauszudenken. Ich mußte zurück, alles an dere würde sich drüben ergeben. Meine Träume verließen mich nicht. Sie kamen sogar öfter als sonst, und sie waren fast noch in tensiver. Ich sah mich in Brüssel in einen Schacht kriechen, der immer enger wurde, bis ich mit einem Schrei erwachte. Ich sah das Gesicht des Mannes vor mir, der mich versteckt hatte und da für weggeschleppt worden war. Jahre hindurch war es in meinen Träumen undeutlich und verhängt wie von Schleiern gewesen, als hätte eine schwere Angst, daß es unerträglich sein würde, es vor mir versteckt. Jetzt sah ich es plötzlich deutlich, die müden Augen, die faltige Stirn und die zu weichen Hände. Ich wachte auf, tief verstört, aber nicht mehr so verwirrt und nahe dem Selbstmord wie sonst. Ich wachte auf, voll von Bitterkeit und Rachegefühlen, aber nicht mehr hingeschlagen und wie von einem Lastwagen überfahren, sondern geduckt und gesammelt und in einer furchtbaren Ungeduld und dem finsteren Bewußt sein, noch am Leben zu sein und mein Leben benutzen zu können. Es war nicht mehr das Gefühl eines hoffnungslosen Endes — es war das Gefühl eines hoffnungslosen Beginnens. Hoffnungslos deshalb, weil nichts wieder lebendig zu machen war. Was gefol tert, ermordet und verbrannt war, war geschehen und nicht wie dergutzumachen und nicht mehr zu ändern. Zu ändern war aber die andere Seite des Geschehens. Das war nicht mit Rache zu ver wechseln, obwohl es ihr glich und aus denselben primitiven Wur zeln kam wie sie. Es war das Gefühl, das nur dem Menschen eigen war: Daß ein Verbrechen nicht ungesühnt bleiben sollte, weil sonst alle moralischen Fundamente zusammenbrechen und Chaos herrschen würde.

Es war sonderbar, daß diese letzten Monate trotz allem etwas Gewichtsloses hatten. Das Bild hatte sich verschoben, das Schat tenhafte, Unwirkliche, das der ganze Aufenthalt in Amerika an sich gehabt hatte, war auf einmal einer stillen, zauberhaften Landschaft gewichen. Es war, als hätte sich ein Nebel gehoben, Farben waren da, ein Idyll am frühen Abend im goldenen Licht, eine stille Fata Morgana über einer rastlosen Stadt. Es war das Bewußtsein des Abschieds, der alles verklärte und idealisierte. Es war immer der Abschied, dachte ich, und ein Leben voller Ab schiede schien mir einen Augenblick lang wie das wirkliche Pen dant zum Traum des ewigen Lebens, nur daß es an die Stelle einer unerträglichen ahasverhaften Monotonie ein volles Dasein von verklärten Toten setzte. Jeder Abend war der letzte.

Ich hatte mich entschlossen, Natascha erst im letzten Augenblick zu sagen, daß ich zurückginge. Ich spürte, daß sie es ahnte, aber sie sagte nichts, und ich wollte es lieber auf mich nehmen, als De serteur und Verräter dazustehen, als der Quälerei eines lang hin ausgezogenen Abschieds mit Vorwürfen, Gekränktsein, kurzen Versöhnungen und den anderen Schwierigkeiten ausgesetzt zu sein. Ich konnte es auch nicht. Was ich an Kraft hatte, war auf ein anderes Ziel gerichtet. Ich konnte nichts davon entbehren und in fruchtloser Trauer, Streit und Erklärungen verschwenden.

Es waren klare Wochen, die so voll von Liebe waren wie ein Bienenkorb mit Waben voller Honig. Der Mai wuchs in den Som mer hinein, und die ersten Nachrichten aus Europa kamen durch. Es war, als öffne sich ein Grab, das lange zugemauert gewesen war. War ich früher oft den Nachrichten ausgewichen oder hatte ich sie nur mit der oberen Schicht meines Bewußtseins registriert, um von ihnen nicht umgestoßen zu werden, so stürzte ich mich jetzt darauf. Sie hatten mit dem Ziel zu tun, das mir wie ein Pfahl im Fleische steckte: abzufahren. Ich war blind und taub gegen alles andere.

«Wann fährst du?«fragte Natascha mich plötzlich.

Ich schwieg eine Sekunde.»Anfang Juli«, sagte ich dann.»Woher weißt du es?«

«Nicht von dir. Warum hast du es mir nicht gesagt?«

«Ich habe es erst gestern erfahren.«

«Du lügst.«

«Ja«, erwiderte ich,»ich lüge. Ich wollte es dir nicht sagen.«

«Du hättest es mir ruhig sagen können. Warum nicht?«

Ich schwieg.»Es fällt mir schwer«, murmelte ich dann.

Sie lachte:»Warum? Wir waren eine Zeitlang zusammen, und wir haben uns nichts vorgemacht. Einer hat den anderen benützt. Jetzt trennen wir uns. Was ist dabei?«

«'Ich habe dich nicht benützt.«

«Aber ich dich. Und du mich auch. Lüge nicht! Es ist nicht not wendig.«

«Ich weiß.«

«Es wäre gut, wenn du einmal nicht lügen würdest. Wenigstens zum Schluß nicht.«

«Ich werde es versuchen.«

Sie sah mich rasch an.»Du gibst es also zu?«

«Wie kann ich das? Aber wie kann ich es auch bestreiten? Du mußt glauben, was du willst.«

«Das ist einfach, wie?«

«Nein, das ist gar nicht einfach. Ich gehe fort, das ist wahr. Ich kann dir nicht einmal erklären, weshalb. Alles, was ich sagen kann, ist, daß es so ist, als wenn jemand in den Krieg muß.«»Muß?«fragte sie.

Ich schwieg gequält. Ich mußte es durchstehen.»Ich kann nichts dazu sagen«, erwiderte, ich schließlich.»Du hast recht. Wenn Recht irgend etwas damit zu tun hat. Ich bin alles das, was du gesagt hast. Ein Lügner, ein Schwindler, ein Egoist. Und ich bin es auch nicht. Wer kann alles das unterscheiden in einer Situation, in der die Wahrheit das Unrichtigste ist?«

«Und was ist wichtiger?«

«Daß ich dich liebe«, sagte ich mit Anstrengung.»Dies ist nicht die Zeit, um das zu sagen.«

«Nein«, sagte sie, plötzlich sanft.»Dies ist nicht die Zeit, Robert.«

«Doch«, erwiderte ich.»Es ist immer die Zeit.«

Daß ich sie so leiden sah, schmerzte mich, als schnitte ich mir die Hand an einem schartigen Messer. Ich hätte es gerne anders ge habt, aber ich wußte auch, daß das ein jammervoller, komforta bler Egoismus war.

«Es macht nichts«, sagte sie.»Wir waren uns weniger, als wir dachten. Wir waren beide Lügner.«

«Ja«, erwiderte ich ergeben.

«Ich war in unserer Zeit auch mit anderen Männern zusammen. Du warst nicht der einzige.«

«Ich weiß, Natascha.«

«Du weißt es?«

«Nein«, sagte ich rasch.»Ich habe es nicht gewußt. Ich hätte es nie geglaubt.«

«Du kannst es glauben. Es ist wahr.«

Ich sah den trostlosen Ausweg für ihren Stolz. Ich glaubte ihr auch in diesem Augenblick nicht.»Ich glaube es dir«, sagte ich.»Ich hätte es nie erwartet.«

Sie reckte das Kinn höher. Ich liebte sie sehr, als ich sie so sah. Ich war verzweifelt wie sie, nur war sie es noch mehr. Der zurück bleibt, ist es immer, selbst wenn man ihm die Waffe überläßt', um einen zu verwunden.»Ich liebe dich, Natascha. Ich wollte, du könntest das verstehen. Nicht für mich. Für dich.«

«Nicht für dich?«

Ich merkte, daß ich wieder einen Fehler gemacht hatte.»Ich bin hilflos«, erklärte ich.»Siehst du das nicht?«

«Wir gehen auseinander wie gleichgültige Leute, die zufällig ein Stück Weges zusammen gegangen sind und die sich nie verstan den haben. Wie könnten wir auch?«

Ich wartete darauf, daß mein Charakter als Deutscher wieder herhalten mußte, aber ich sah auch, daß sie wußte, daß ich dar auf wartete. Was sie nicht wußte, war, daß ich nicht widerspro chen hätte. So unterließ sie es.»Es ist gut, daß es so gekommen ist«, sagte sie.»Ich wollte dich verlassen. Ich wußte nur nicht, wie ich es dir beibringen sollte.«

Ich wußte, was ich antworten sollte. Ich konnte es nicht.»Du wolltest Weggehen?«fragte ich schließlich doch.

«Ja. Schon lange. Wir waren schon viel zu lange zusammen. Affären wie unsere sollten kurz sein.«

«Ja«, sagte ich.»Ich danke dir, daß du gewartet hast. Ich wäre sonst verloren gewesen.«

Sie drehte sich um.»Warum lügst du schon wieder?«

«Ich lüge nicht.«

«Worte! Immer hast du so viele Worte. Immer die passenden.«»Jetzt nicht.«

«Jetzt nicht?«

«Nein, Natascha. Keine. Ich bin traurig und hilflos.«

«Schon wieder Worte!«

Sie stand auf und griff nach ihrem Kleide.»Sieh mich nicht an«, sagte sie,»ich will nicht mehr, daß du mich so ansiehst.«

Sie zog ihre Strümpfe und Schuhe an. Ich blickte aus dem Fenster. Die Flügel standen offen, und es war warm. Jemand übte auf einer Geige >La Paloma<. Er machte immer denselben Fehler und wie derholte die ersten acht Takte unermüdlich. Ich fühlte mich sehr elend und begriff nichts mehr. Ich fühlte nur, daß, selbst wenn ich bliebe, jetzt alles zu Ende wäre. Ich hörte, wie Natascha hinter mir ihren Rock anzog.

Ich drehte mich um, als ich die Tür hörte, und stand auf.»Bring mich nicht hinaus«, sagte sie.»Bleib hier. Ich will allein gehen. Und komm nicht wieder. Nie. Komm nie wieder.«

Ich blieb im Zimmer stehen. Ich starrte sie an, ihr blasses, aus drucksloses Gesicht, die Augen, die über mich hinwegsahen, ihren Mund und ihre Fiände. Sie winkte nicht, sie war schon fort, be vor sie die Tür hinter sich schloß.

Ich lief ihr nicht nach. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Ich stand und starrte.

Ich dachte daran, daß ich Natascha noch erreichen könnte, wenn ich ein Taxi nähme. Ich stand schon an der Tür, aber dann dachte ich darüber nach, was geschähe, und ich ging zurück. Ich wußte, daß es zwecklos wäre. Ich stand noch eine Weile im Zimmer. Ich wollte mich nicht setzen. Schließlich ging ich nach unten. Meli- kow war da.»Hast du Natascha nicht nach Hause gebracht?«fragte er verwundert.

«Nein. Sie wollte allein gehen.«

Er sah mich an.»Das gibt sich wieder. Morgen ist das vergessen. «Eine unsinnige Hoffnung packte mich.»Meinst du?«

«Natürlich. Gehst du schlafen? Oder trinken wir noch einen Wodka?«

Die Hoffnung hielt an. Ich hatte ja noch zwei Wochen bis zur Abfahrt. Alles verwandelte sich plötzlich in eine fließende Freu de. Ich hatte das Gefühl, wenn ich jetzt mit Melikow tränke, würde Natascha morgen anrufen oder kommen. Es war unmög lich, daß wir uns so trennten.»Gut«, sagte ich,»trinken wir einen. Was macht dein Prozeß?«

«In einer Woche ist er dran. Ich habe also noch eine Woche zu leben.«

«Warum?«

«Wenn ich lange eingesperrt werde, überlebe ich das nicht. Ich bin siebzig Jahre alt und hatte bereits zwei Herzinfarkte.«

«Ich kannte jemand, der ist im Gefängnis gesund geworden«, sagte ich vorsichtig.»Kein Alkohol mehr, leichte Beschäftigung im Freien, ein geregeltes Leben. Und nachts Schlaf, nicht am Tage.«

Melikow schüttelte den Kopf.»Alles Gift für mich. Aber wir werden sehen. Man soll nicht nachdenken, wenn es unnötig ist.«»Nein«, sagte ich.»Das soll man nicht. Wenn man es nur könnte.«

Wir tranken nicht viel. Wir hatten beide das Gefühl, als hätten wir uns noch eine Menge zu sagen, und wir setzten uns hin, als würde es eine lange Nacht. Aber dann war auf einmal sehr wenig zu reden, wir blieben fast stumm. Jeder war in seine eigenen Gedanken versunken, und da war nichts mehr mitzuteilen. Ich hätte nicht nach Melikows Prozeß fragen sollen, dachte ich, aber das war es nicht. Ich stand schließlich auf.»Ich bin unruhig, Wladimir. Ich werde noch so lange herumlaufen, bis ich müde bin.«

Er gähnte.»Und ich werde schlafen — obschon ich dazu sicher später noch genug Zeit haben werde.«

«Glaubst du, daß man dich verurteilen kann?«

«Man kann jeden Menschen verurteilen.«

«Ohne Beweise?«

«Man kann auch für alles Beweise finden. Gute Nacht, Robert. Man soll sich vor Erinnerungen hüten, das weißt du ja, oder?«»Ja, das weiß ich. Das habe sogar ich gelernt. Sonst lebte ich nicht mehr.«

«Erinnerungen sind ein verdammt schweres Gepäck. Besonders wenn man eingesperrt ist.«

«Das weiß ich auch, Wladimir. Du doch auch?«

Er hob die Schultern.»Ich glaube es. Aber wenn man alt wird, vergißt man sie oft ganz. Oder sie kommen plötzlich wieder. Bei mir kehren Dinge zurück, an die ich seit vierzig Jahren nicht mehr gedacht habe. Sehr merkwürdig.«

«Sind es gute Erinnerungen?«

«Teils, teils. Das ist eben das Merkwürdige. Die guten sind schlecht, weil sie vorbei sind, und die schlechten sind gut, auch weil sie vorbei sind. Glaubst du, daß man im Gefängnis mit so etwas leben kann?«

«Ja«, sagte ich.»Es vertreibt die Zeit. Solange du so darüber denkst wie jetzt.«

Ich ging durch die Stadt, bis ich todmüde war. Ich ging an Na- taschas Haus vorbei, blieb vor einigen öffentlichen Telefonen stehen, aber ich rief nicht an. Ich hatte noch vierzehn Tage Zeit, dachte ich. Das schwerste war es immer, die erste Nacht zu über winden, weil sie einem in solchen Situationen nahe am Tode zu liegen schien. Was wollte ich denn? Einen bürgerlich rührenden Abschied, mit Küssen an der Gangway eines dreckigen Schiffes und dem Versprechen zu schreiben? War es nicht besser so? Wie hatte Melikow gesagt? Man sollte keine Erinnerungen mit sich herumschleppen. Sie waren ein schweres Gepäck, wenn man nicht so alt war, daß sie das einzige waren, was einem blieb. Und wie hatte ich selbst immer gedacht? Man sollte keine Erinnerungen züchten, sondern sich so weit davon weghalten, daß sie einen nicht wie Lianen im Urwald abwürgen konnten. Natascha hatte getan, was richtig war. Warum tat ich es nicht? Warum lief ich umher wie ein sentimentaler Schüler, in die miserablen Fetzen heulender Sehnsucht und Feigheit gekleidet, nicht fähig zum einen noch zum ändern? Ich spürte die weiche Nacht, fühlte die unge heure Stadt und anstatt locker auf dem Leben zu sitzen und sei nem Wehen zu folgen, irrte ich wie in einem Spiegelkabinett um her, nach einer Ausflucht suchend und immer nur wieder mir selbst.begegnend. Ich kam bei van Cleef vorbei und wollte nicht hineinsehen und zwang mich, stehenzubleiben. Ich sah den Schmuck der toten Kaiserin in der Juninacht und dachte daran, wie Natascha ihn getragen hatte — ein geliehener Schmuck mit einer geliehenen Frau in einem Falschmünzerdasein. Ich hatte da mals die Ironie in falscher Behaglichkeit genossen. Jetzt blickte ich auf das Geglitzer und wußte plötzlich nicht, ob ich nicht im Begriff war, einen schweren Irrtum zu begehen und einen Rest fliegenden Glücks gegen ein Bündel verstaubter und lächerlicher Vorurteile einzutauschen, die zu nichts weiter führen konnten als zu einem quichottcsken Ritt gegen Windmühlen, die nicht mehr da waren. Ich starrte auf die Schmuckstücke und wußte nicht, was ich tun sollte. Ich wußte nur, daß ich dieser Nacht entkom men mußte, und ich klammerte mich daran, daß ich noch zwei Wochen Zeit in New York hätte, ich klammerte mich an das Morgen und das Übermorgen wie an Rettungsringe. Ich mußte nur über diese Nacht hinwegkommen. Aber wie, wenn ich gerade in dieser Nacht noch Natascha erreichen konnte. Wenn sie darauf wartete, daß ich sie anrief. Ich stand da und flüsterte: Nein, nein, immer wieder, ich flüsterte es wirklich, ich sagte es so, daß ich es deutlich hören konnte, es war etwas, das ich einmal gelernt hatte, es hatte mir früher schon ab und zu geholfen, daß ich zu mir selbst sprach, eindringlich wie zu einem Kinde: Nein, nein, nein und: Morgen, morgen, morgen, und ich tat es jetzt wieder, monoton, als müßte ich mich beschwören und hypnotisieren. Nein, nein! Morgen, morgen, bis ich fühlte, daß es meine Erregung stumpf machte, und ich weitergehen konnte, langsam zuerst und dann fast keuchend, bis ich das Hotel erreichte.

Ich sah Natascha nicht wieder. Es mag sein, daß wir beide erwar tet hatten, der andere würde sich melden. Ich wollte es oft, aber jedesmal sagte ich mir vor, daß es zu nichts führen könne. Ich konnte nicht über den Schatten springen, der mein Dasein be gleitete, und ich erklärte mir immer wieder, daß es besser sei, etwas beerdigt zu lassen, so, wie es war, als sich noch weiter zu verletzen, denn auf etwas anderes würde es nicht hinauskommen. Ich hatte manchmal den Gedanken, daß Natascha mich vielleicht mehr geliebt hat, als sie je zugegeben hätte. Das machte mich atemlos und unruhig, aber es ging dann in der allgemeinen Un ruhe des Aufruhrs unter, der jeden Tag höher und höher am Horizont emporwuchs. Ich suchte Natascha, wenn ich auf der Straße war, aber ich traf sie nie. Ich beruhigte mich mit den törichtesten Mitteln, unter denen die Idee einer Rückkehr nach Amerika noch das geringste war. Melikow wurde zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Ich war die letzten Tage allein. Silvers schenkte mir fünfhundert Dollar als Bonus.»Vielleicht sehe ich Sie in Paris«, sagte er.»Ich will im Herbst hin, einiges kaufen. Schreiben Sie mir. «Ich klammerte mich daran und versprach, ihm zu schreiben. Es tröstete mich, daß er nach Europa kam und aus einem so bequemen Grunde. Es machte Europa weniger mör derisch, als es mir erschien.

Als ich nach Europa zurüddtam, fand ich eine Welt vor, die ich nicht mehr kannte. Ich fand das Museum in Brüssel, aber nie mand konnte mir darüber Auskunft geben, was in der Zwischen zeit geschehen war. Man kannte noch den Namen des Mannes, der mich gerettet hatte; niemand aber wußte, was aus ihm ge worden war. Ich suchte einige Jahre lang. Ich suchte auch in Deutschland. Ich suchte nach den Mördern und nach meinem Vater. Ich dachte oft mit großem Schmerz an Kahns Worte, er hatte recht gehabt. Die schwerste Enttäuschung war die Rüde kehr, sie war eine Rückkehr in die Fremde, eine Rückkehr in

Gleichgültigkeit, versteckten Haß und Feigheit. Niemand erin nerte sich mehr daran, zur Partei der Barbaren gehört zu haben. Keiner übernahm die Verantwortung für das, was er getan hatte. Ich war nicht mehr der einzige mit einem falschen Namen. Es gab jetzt viele Hunderte, die rechtzeitig ihre Pässe umgetauscht hat ten und eine Emigration von Mördern bildeten. Die Besatzungs behörden waren gutwillig, aber ziemlich hilflos. Sie waren bei Auskünften auf deutsche Mitarbeiter angewiesen, die Angst vor späterer Rache haben mußten oder immer an den Ehrenkodex dachten, das eigene Nest nicht zu beschmutzen. Ich fand das Ge sicht aus dem Krematorium nicht wieder; niemand konnte sich an Namen erinnern; niemand an seine Taten; viele nicht einmal daran, daß Konzentrationslager existiert hatten. Ich stieß auf Schweigen, auf Mauern von Angst und Ablehnung. Man versuch te es damit zu erklären, daß das Volk zu müde geworden sei. Es habe selbst so viele Kriegsopfer und Tote gehabt. Jeder hatte selbst genug durchgemacht; man konnte sich nicht auch noch um andere kümmern. Die Deutschen waren kein Volk der Revolu tionen. Sie waren ein Volk von Befehlsempfängern. Der Befehl ersetzte das Gewissen. Er wurde die beliebteste Ausrede. Wer auf Befehl gehandelt hatte, war nicht verantwortlich.

Ich weiß nicht mehr, was ich in diesen Jahren alles getan habe. Es gehört auch nicht in diese Aufzeichnungen. Es war sonderbar, daß die Erinnerung an Natascha langsam immer stärker aufstieg. Es war kein Bedauern darin und keine Reue, aber ich wußte erst jetzt, was sie für mich gewesen war. Ich hatte es damals nicht be griffen, aber nun, wo alles andere von mir abfiel oder zu Ent- täuschungen, Ernüchterung und Irrwegen sich zusammendrängte, wurde es mir mehr und mehr klar. Es war, als schmelze man aus einem rohen Golderz das reine Metall hervor. Es hatte nichts mit meiner Enttäuschung zu tun, aber ich hatte angefangen, klarer zu sehen und Distanz zu gewinnen. Je weiter die Zeit zurück wich, um so bestürzender wurde die Erkenntnis, daß Natascha das wichtigste Erlebnis meines Lebens gewesen war, ohne daß ich es gewußt hatte. Es mengte sich keine Sentimentalität hinein, auch nicht das Bedauern, daß ich es zu spät erkannt hatte. Ich glaube vielmehr, daß, wenn ich es damals schon begriffen, Nata-

scha mich wahrscheinlich verlassen hätte. Meine Unabhängigkeit, die daher kam, daß ich sie zu leicht nahm, war wohl gerade das, was sie länger bei mir hielt. Ich dachte manchmal auch darüber nach, daß ich in Amerika hätte bleiben können, wenn ich vorher gewußt hätte, was in Europa auf mich wartete. Doch das waren Gedanken wie der Wind, sie wurden weder zu Tränen noch zu Verzweiflung, denn ich wußte, daß das eine nicht ohne das an dere möglich gewesen war, und danach ging eben das andere auch nicht mehr. Man kann nicht zurückkehren, nichts steht still, we der man selbst noch der andere. Alles, was übrigblieb, war manchmal ein Abend voll Schwermut, die Schwermut, die jeder Mensch fühlt, weil alles vergeht und er das einzige Tier ist, das es weiß und das ebenso weiß, daß das ein Trost ist, obschon es ihn nicht versteht.

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