XIX

«Betty soll morgen operiert werden«, sagte Kahn am Telefon.»Sie hat große Angst. Wollen Sie sie nicht besuchen?«»Selbstverständlich. Was hat sie?«

«Man weiß es nicht genau. Gräfenheim und Ravic haben sie untersucht. Die Operation wird zeigen, ob die Geschwulst gutartig ist oder nicht.«

«Mein Gott!«sagte ich.

«Ravic wird auf sie achtgeben. Er ist Assistent im Mount-Sinai- Hospital geworden.«

«Wird er sie operieren?«

«Er wird dabeisein. Ich weiß nicht, ob er schon selbständig operieren darf. Wann gehen Sie hin?«

«Um sechs, wenn ich hier fertig bin. Haben Sie von Hirsch gehört?«

«Ich war da. Alles in Ordnung. Gräfenheim hat das Geld bereits. Es ihm auszuhändigen war schwieriger, als es von Hirsch zu bekommen. Anständige Menschen können manchmal eine große Plage sein, bei Gaunern weiß man immer gleich, woran man ist.«»Kommen Sie auch zu Betty?«

«Ich war gerade da. Vorher habe ich eine Stunde mit Gräfenheim gekämpft. Ich glaube, er hätte das Geld an Hirsch zurückgegeben, wenn ich ihm nicht gedroht hätte, es an >Kraft durch Freude< in Berlin zu senden. Er wollte sein eigenes Geld nicht von einem Lumpen annehmen. Dabei hat er kaum etwas zu essen. Gehen Sie zu Betty. Ich kann nicht noch einmal gehen. Sie hat Angst. Außerdem würde sie mißtrauisch werden, wenn ich zweimal käme. Sie bekäme noch mehr Angst. Gehen Sie zu ihr und sprechen Sie deutsch mit ihr. Wenn man krank ist, braucht man nicht auch noch englisch zu sprechen, meint sie.«

Ich ging hin. Es war warm und grau, und der Himmel hatte die Farbe weißer Asche. Betty lag im Bett in einem chinesischen lachsroten Mantel, den der Hersteller in Brooklyn wahrscheinlich als Mandarinenrock gedacht hatte.

«Sie kommen gerade recht zu meiner Henkersmahlzeit«, rief Betty.»Morgen geht’s auf die Guillotine.«

«Aber Betty«, sagte Gräfenheim.»Morgen machen wir eine kleine Routine-Untersuchung. Nur zur Vorsicht.«

«Guillotine bleibt Guillotine«, erwiderte Betty mit falscher, zu lauter Fröhlichkeit.»Ob einem darunter die Fußnägel abgeschnitten werden oder der Kopf.«

Ich sah mich um. Es waren ungefähr zehn Leute da. Die meisten kannte ich. Auch Ravic war da. Er saß am Fenster und starrte auf die Straße. Es war sehr heiß im Zimmer, dennoch waren die Fenster geschlossen. Betty fürchtete, es würde noch heißer werden, wenn man sie öffnete. Ein Ventilator summte auf einem Vertiko wie eine müde, große Fliege. Die Tür zum Nebenzimmer war offen. Die Koller-Zwillinge brachten Kaffee und Apfelstrudel herein, ich erkannte sie zuerst nicht wieder. Sie waren blond geworden. Ihr Gezwitscher flog durch den Raum, als wären sie helle Schwalben. Sie waren gutgelaunt, flink wie Wiesel und trugen enge, kurze Röcke und baumwollene, quergestreifte Sweater mit kurzen Ärmeln.

«Sehr appetitlich, wie?«fragte Tannenbaum.

Ich wußte nicht gleich, wen er meinte, den Apfelstrudel oder die Mädchen. Er meinte die Mädchen.

«Sehr«, sagte ich.»Ein verwirrender Gedanke, mit Zwillingen ein Verhältnis anzufangen, besonders wenn sie sich so gleichen wie die beiden hier.«

«Doppelte Sicherheit«, erwiderte Tannenbaum und zerteilte ein

Stück Strudel.»Wenn eine stirbt, kann man die andere heiraten. Wo findet man das sonst?«

«Ein etwas makabrer Gedanke. «Ich sah zu Betty hinüber, aber sie hörte nichts. Sie hatte sich von den Koller-Mädchen die Kupferstiche von Berlin bringen lassen, die sonst im Vorzimmer hingen, und stellte sie auf die beiden Nachttische neben ihrem Bett.»Ich dachte nicht daran, daß man die Zwillinge nacheinander heiraten könnte«, sagte ich,»ich dachte auch nicht gleich ans Sterben.«

Tannenbaum wiegte die von schwarzen Haaren umflatterte Glatze, die aussah wie die glänzende Rückseite eines Pavians.»Woran denkt man sonst? Wenn man jemand liebt, denkt man doch: Einer von uns muß vor dem anderen sterben, und einer wird allein bleiben. Wenn man das nicht denkt, liebt man nicht wirklich. Es ist die große Urangst, modifiziert, das gebe ich zu. Aus der primitiven Angst, daß man selbst sterben muß, wird durch die Liebe die Angst um den ändern. Eine Sublimation, die diese Liebe zu einer fast noch größeren Tortur macht, denn sie liegt bei dem, der übrigbleibt.«

Tannenbaum leckte sich den Streuzucker von den Fingern.»Da man deswegen nicht angstvoll allein durchs Dasein wandern kann — denn auch das Alleinsein ist eine Tortur —, sind Zwillinge der gescheiteste Ausweg. Besonders, wenn sie so hübsch sind wie die beiden Kollers.«

«Würden Sie wahllos eine heiraten?«fragte ich.»Sie können sie doch nicht unterscheiden. Oder würden Sie mit sich selbst darum würfeln?«

Er sah mich über seinen Kneifer hinweg unter buschigen Augen brauen an.»Machen Sie sich nur lustig über einen Menschen, der arm, krank, glatzköpfig und jüdisch ist, Sie arisches Scheusal, das wie ein weißer Rabe unter Leuten sitzt, die ihre höchste Kultur schon erreicht hatten, als Ihre Vorfahren noch auf den Bäumen zu beiden Seiten des Rheins saßen und in ihre Felle schissen.«

«Ein schönes Bild«, erwiderte ich.»Bleiben wir bei unseren Zwil lingen. Warum springen Sie nicht über Ihre Minderwertigkeits komplexe hinweg und blasen zum Angriff?«

Tannenbaum sah mich eine Weile kummervoll an.»Das sind Mädchen für Filmproduzenten«, sagte er dann.»Hollywoodfutter.«

«Sind Sie nicht Schauspieler?«

«Ich spiele Nazis, kleinere Nazis. Ich habe keinen Glamour.«»Mich interessiert es, mit Zwillingen zu leben, und es interessiert mich nicht wie Sie, mit Zwillingen zu sterben. Wenn man mit der einen Krach hätte, könnte man zur anderen gehen. Wenn die eine einem durchginge, bliebe immer noch die andere. Es gibt da sicher reizvolle Möglichkeiten.«

Tannenbaum betrachtete mich angeekelt.»Haben Sie das fürch terliche letzte Jahrzehnt durchgemacht, um mit solchen Frivolitäten zu enden? Wissen Sie nicht, daß der größte Weltkrieg aller Zeiten tobt? Ist das alles, was Sie daraus gelernt haben?«»Tannenbaum«, sagte ich.»Sie waren es, der angefangen hat, von appetitlichen Ärschen zu reden. Nicht ich!«

«Ich habe es im metaphysischen Sinne gemeint. Tragisch, um dem Weltdilemma zu entkommen. Nicht vulgär, wie Sie, Sie späte Blüte am Mispelbaum der Edda«, meinte Tannenbaum traurig. Eines der Koller-Mädchen kam mit einer neuen Platte Apfelstru del zu uns herüber. Tannenbaum lebte auf, starrte mich an, als habe er eine Erleuchtung, deutete auf ein Stück Strudel, und als der Zwilling es ihm auf den Teller legte und somit beide Hände voll hatte, tatschte er ihm zaghaft auf den runden Hintern.»Aber Herr Tannenbaum«, flüsterte der Zwilling und lachte.»Aber doch nicht hier!«Er schwänzelte davon.

«Nun, Sie Metaphysiker«, sagte ich.»Sie späte Blüte am trocke nen Kaktus des Talmuds!«

«Sie haben mich dazu gebracht«, erklärte Tannenbaum verwirrt und aufgeregt.

«Natürlich! Immer der andere, Sie deutscher Nußknacker! Nur keine Verantwortung übernehmen.«

«Ich meine, das danke ich Ihnen! Sie hat es nicht übelgenommen, wie? Glauben Sie nicht auch?«

Tannenbaum begann zu erblühen. Er reckte den Hals und bekam eine rostrote Farbe, die an Eisen erinnerte, das lange im Regen gelegen hat.»Sie haben einen Fehler gemacht, Herr Tannenbaum«, sagte ich.»Sie hätten auf dem Rock ein kleines Kreide-Zeichen hinterlassen sollen, damit Sie wissen, welcher der Zwillinge Ihre vulgäre Annäherung geduldet hat. Es könnte nämlich sein, daß der andere gar keinen Sinn dafür hat und Ihnen, wenn Sie es wiederholen, die Platte Apfelstrudel einschließlich des Kaffees über den Schädel stülpt! Wie Sie sehen, tragen beide Zwillinge im Augenblick neue Platten mit Apfelstrudel herein. Wissen Sie, welches Mädchen es war? Ich weiß es nicht mehr.«»Ich… es war… nein…«Tannenbaum warf mir einen haß erfüllten Blick zu. Wie geblendet starrte er auf die Zwillinge. Dann rang er sich mit übermenschlicher Kraft ein süßliches Lächeln ab. Wahrscheinlich glaubte er, der gekniffene Zwilling würde zurücklächeln. Statt dessen lächelten beide zurück. Tannenbaum stieß einen dumpfen Fluch aus. Ich verließ ihn und ging wieder zu Betty hinüber.

Ich wollte gehen. Ich konnte solche Situationen schlecht ertragen, die angefüllt sind mit einer Mischung aus süßlicher Sentimentalität und echter, großer Angst. Sie reizten mich zum Erbrechen. Ich haßte diese unausrottbare Sehnsucht, dieses falsche Heimweh, die, selbst wenn sie in Haß und Abscheu umschlugen, stets nach einer Entschuldigung suchten, um wieder aufzutauchen. Zu viele Gespräche hatte ich schon angehört, die damit begonnen hatten,»daß die Deutschen nicht alle so wären«, eine Phrase, von der jeder wußte, daß sie stimmte, und die dann hinüberleitete zu dem üblichen Gewäsch von den schönen Zeiten in Deutschland, bevor die Nazis kamen. Ich verstand Betty bis in ihr gutes naives Herz, ich liebte sie deswegen und konnte es trotzdem nicht anhören. Die schwimmenden Augen, die Bilder von Berlin und die Sprache ihrer Heimat, an die sie sich in ihrer großen Angst vor morgen klammerte, rührten mich zu Tränen. Ich glaubte selbst den Geruch der Resignation zu spüren, der ohnmächtigen Rebellion, die schon weiß, daß sie ohnmächtig ist, bevor sie sich entfaltet, und die deshalb, obschon ehrlich gemeint, den hohlen Klang bloßer Gesten bekommt. Ich glaube, das alles wieder zu spüren, diese Gefangenschaft ohne Stacheldraht, dieses Hausen in der toten Luft der Erinnerung, diesen schattenhaften Haß, der ins Leere greift. Ich sah mich um, ich kam mir wie ein Deserteur vor, weil ich gehen, weil ich nicht in dieser Atmosphäre leben wollte, obschon ich doch wußte, daß sie auch gesättigt war mit schwerem Leid und mit Verlusten, die kaum zu tragen waren; Verlusten an Angehörigen, die lautlos verschwunden waren; Verlusten, die zu groß waren, um fruchtlos darüber zu brüten und selbst dadurch zerstört zu werden. Ich wußte plötzlich, warum ich gehen wollte. Ich wollte nicht selbst in diese ohnmächtige Schattenrebellion und Resignation hineingeraten, denn das eine führte zum ändern. Ich war ohnehin immerfort gefährlich nahe daran, aber ich wollte nicht eines Tages nach den Jahren des Wartens aufstehen und feststellen, daß ich vom Warten und nutzlosen Schattenboxen mürbe und morsch geworden war, ich wollte selbst meine Vergeltung und meine Rache suchen, nicht mit Klagen und Protesten, sondern mit meinen eigenen Händen, und um das zu tun, mußte ich der Klagemauer und dem Lamento an den Wassern von Babylon so fern bleiben wie möglich.

Ich sah mich um, als hätte man mich ertappt.»Ross«, sagte Betty.»Wie schön, daß Sie gekommen sind. Es ist wunderbar, daß man so viele Freunde hat.«

«Sie sind die Mutter der Emigranten, Betty. Ohne Sie wären wir nichts als Treibgut.«

«Wie geht es Ihnen bei dem Bilderhändler?«

«Sehr gut, Betty. Ich werde an Vriesländer bald etwas zurück zahlen können.«

Sie hob ihren heißen Kopf und blinzelte mit einem Auge.»Damit lassen Sie sich nur Zeit. Vriesländer ist ein sehr reicher Mann. Er braucht das Geld nicht. Sie können es ihm auch noch zurückzahlen, wenn alles vorbei ist. «Sie lachte.»Ich bin froh, daß es Ihnen gutgeht, Ross! Es geht so wenigen von uns gut. Ich darf nicht lange krank bleiben. Die anderen brauchen mich. Finden Sie nicht auch?«

Ich ging mit Ravic hinaus. An der Tür sah ich Tannenbaum stehen. Er blickte unschlüssig von einem Zwilling zum ändern. Seine Glatze blinkte. Er haßte mich bereits wieder.»Hatten Sie Streit mit ihm?«fragte Ravic.

«Nur ein frivoles Geplänkel, um mich abzulenken. Ich bin kein Krankenbesucher. Es macht mich ungeduldig und ärgerlich. Ich kann mich deshalb nicht ausstehen, aber so ist es nun einmal.«

«Das geht fast jedem so. Man fühlt sich schuldig, weil man selbst gesund ist.«

«Ich fühle mich schuldig, weil der andere krank ist.«

Ravic blieb auf der Treppe stehen.»Sie sind doch nicht auch schon angeknackt?«

«Ist das nicht jeder?«

Er lächelte.»Es kommt auf den Grad der Verdrängung an. Die, die am besten verdrängen, sind die gefährdetsten. Wer alles aus spuckt, hat wenig zu fürchten.«

«Ich werde mir das merken«, sagte ich.»Was ist mit Betty?«

«Wir müssen sie aufmachen. Vorher kann man wenig sagen.«»Haben Sie Ihre Examen alle hinter sich?«

«Ja.«

«Operieren Sie Betty?«

«Ja.«

«Auf Wiedersehen, Ravic.«

«Ich heiße jetzt Fresenburg. Mein wirklicher Name.«

«Und ich immer noch Ross. Nicht mein wirklicher Name.«

Er lachte und ging rasch davon.

«Du siehst dich um, als hätte ich irgendwo ein totes Kind versteckt«, sagte Natascha.

«Das ist eine alte Gewohnheit. Man wird sie so schnell nicht los.«»Mußtest du dich oft verstecken?«

Ich sah sie überrascht an. Es war eine zu blödsinnige Frage — so, als ob sie gefragt hätte, ob ich atmen müßte. Dann fiel mir ein, daß sie ja nichts von dem Leben wußte, das ich geführt hatte, und das gab mir merkwürdigerweise ein warmes Gefühl der Freude. Gottlob, dachte ich, daß sie nichts davon weiß.

Sie stand in einem niedrigen Zimmer vor einem breiten Fenster. Sie stand da, dunkel vor dem starken Licht, und ich brauchte ihr keine Erklärungen zu geben und mich nicht als Flüchtling zu fühlen. Ich nahm sie in die Arme und küßte sie.»Wie warm deinen Schultern von der Sonne sind«, sagte ich.

«Ich bin gestern hier eingezogen. Der Eisschrank ist voll. Wir brauchen den ganzen Tag nicht auf die Straße zu gehen. Es ist Sonntag heute, das hast du vielleicht vergessen.«

«Ich habe es nicht vergessen. Ist im Eisschrank auch etwas zu trinken?«

«Zwei Flaschen Wodka. Und zwei Flaschen Magermilch.«»Kannst du kochen?«

«So so. Aber ich kann Steaks auf dem Grill braten und Konserven aufmachen. Außerdem haben wir Mengen von Obst und Sa lat und ein Radio. Wir können ein bürgerliches Leben beginnen. «Sie lachte. Ich hielt sie im Arm und lachte nicht. Mich traf das alles wie ein Dutzend weicher Pfeile; Sie schmerzen nicht, aber man spürt sie doch.»Das ist nichts für dich, wie?«fragte Natascha.»Zu philisterhaft.«

«Es ist das größte Abenteuer, das es gibt in unserer Zeit«, erwiderte ich und atmete den Geruch ihres Haares ein, das nach Ze der roch.»Jeder Buchhalter hat heute soviel Abenteuer wie früher König Artus. Ich könnte Wochen vorm Radio sitzen, Bier trinken und die Kleinbürgerlichkeit wie einen Purpurmantel um meine Schultern fühlen.«

«Hast du schon einmal Television gesehen?«

«Wenig.«

«Das dachte ich mir. Du würdest bald fluchend aufhören. Dein Purpurmantel würde bald unerträglich jucken.«

«Mir ist heute alles gleich. Weißt du, daß es der erste Tag ist, an dem wir nicht in einer Kneipe oder im Hotel herumlungern müssen?«

Sie nickte.»Das habe ich dir schon früher gesagt. Du aber hast Fraser verdächtigt.«

«Ich verdächtige ihn auch jetzt noch. Aber es ist mir egal.«

«Du wirst schon besser. Beruhige dich. Du hast keinen Grund.«

Ich sah mich um. Es war ein kleines Appartement im fünfzehnten Stock, das ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer, eine Küche und ein Bad hatte. Es war nicht elegant genug für Fraser. Das Wohnzimmer und das Schlafzimmer hatten große Fenster, die eine weite Aussicht über New York zeigten; man konnte von der 17. Straße bis Wallstreet sehen, vorbei an den Wolkenkratzern und hinweg über die vielen Reihen der niedrigeren Häuser.»Wie findest du es?«fragte Natascha.

«So, wie man in New York leben sollte. Mit soviel Licht und Weite und diesem Blick. Du hast recht, wir wären verrückt, wenn wir uns heute von hier fortbewegten!«

«Hol’ uns die Sonntagszeitungen! Der Kiosk ist gleich an der Ecke. Dann haben wir alles, was wir brauchen. Ich werde inzwischen versuchen, Kaffee zu machen.«

Ich ging zum Aufzug hinüber.

Ich kaufte die Sonntagsausgaben der New York Times und der Herald Tribüne, jede einige hundert Seiten stark. Ich dachte dar über nach, ob die Leute zur Zeit Goethes glücklicher waren, als nur die reichen und gebildeten Leute Zeitungen lasen. Ich kam zu dem Ergebnis, daß das, was man nicht weiß, einen nicht unglücklich machen kann — ein ziemlich bescheidenes Resultat.

Ich starrte in den frischen Himmel, in dem ein Flugzeug kreiste, und schüttelte meine Gedanken ab wie Höhe. Ich ging ein Stück die Zweite Avenue entlang. Links war ein bayrischer Metzger, daneben der Delikatessenladen der drei Brüder Stern.

Ich bog wieder in die 57. Straße ein und fuhr zum fünfzehnten Stock empor mit einem Schwulen, der sich als Jasper vorstellte, rothaarig war und ein kariertes Sportjackett trug. Sein Pudel war weiß und hieß Rene. Jasper lud mich zum Frühstück ein. Ich entkam, um vieles heiterer, und klingelte.

Natascha empfing mich, einen Turban um den Kopf gebunden, ein Badetuch um die Hüften und nahezu nackt.»Großartig!«sagte ich und warf die Zeitungen auf einen Stuhl im Vorzimmer.»Das paßt zur Beschreibung dieser Etage!«

«Was für eine Beschreibung?«

«Die Nick, der Zeitungsverkäufer an der Ecke, gegeben hat. Er behauptet, daß hier früher einmal ein Puff gewesen sei.«

«Ich habe ein Bad genommen«, sagte Natascha.»Ein zweites. Diesmal kalt. Du kamst nicht wieder. Hast du am Times Square die Zeitungen geholt?«

«Ich war in einer fremden Welt. Bei den Homos. Weißt du, daß es hier davon wimmelt?«

Sie nickte und warf ihr Badetuch weg.»Ich weiß es. Diese Wohnung gehört auch einem, der anders ist, damit du es endlich weißt.«

«Hast du mich deshalb in diesem Aufzug empfangen?«

«Darüber habe ich nicht nachgedacht. Aber ich meinte, es könnte dir nicht schaden.«

Wir lagen auf dem Bett. Nach dem Kaffee tranken wir Bier. Da zu hatten wir uns von der Sonntagsvertretung der Brüder Stern Pastrami, Salami, Butter, Käse und dunkles Brot herüberschicken lassen. Man braucht in Amerika ja nur zu telefonieren, um alles zu erhalten. Auch am Sonntag. Es wurde einem sogar herüber gebracht, man brauchte nur die Tür einen Spalt zu öffnen und es entgegenzunehmen. Ein herrliches Land, wenn man Empfänger dieser überraschenden Segnungen war.

«Ich bete dich an, Natascha«, sagte ich. Ich hatte mich gerade geweigert, einen rotseidenen Pyjama des anonymen Wohnungsbesitzers anzuziehen, den sie mir zugeworfen hatte.»Ich bete dich an, wie Gott mich geschaffen hat, aber ich werde dieses Ding nicht anziehen.«

«Aber Robert. Es ist doch gewaschen und gebügelt, und Jerry ist ein sehr sauberer Mensch.«

«Wer?«

«Jerry. Du schläfst doch auch in deinem Hotel in Bettüchern, in denen weiß wer vorher geschlafen hat!«

«Richtig. Ich denke trotzdem nicht gern daran. Außerdem ist es anonym. Ich kenne die Leute nicht.«

«Jerry kennst du auch nicht.«

«Ich kenne ihn durch dich. Es ist ein ähnlicher Unterschied, wie wenn man ein Huhn ißt, das man nicht kennt, oder eines, das man aufgezogen hat und das man beim Namen ruft.«

«Schade! Ich hätte dich gern in einem roten Pyjama gesehen. Aber jetzt bin ich schläfrig. Läßt du mich eine Stunde schlafen? Ich bin warm von Pastrami, Bier und Liebe. Du kannst die Zeitungen lesen.«

«Ich denke nicht daran. Ich bleibe neben dir liegen.«

«Glaubst du, daß ich dann schlafen kann? Ich glaube es nicht.«»Wir können es versuchen. Vielleicht schlafe ich auch ein.«

Sie war nach einigen Minuten fest eingeschlafen. Ich betrachtete sie eine Zeitlang, ohne sie richtig zu sehen. Die Klimaanlage

summte fast unhörbar,und von unten kam gedämpftes Klavier spiel. Jemand übte dort, der schlecht spielte, aber gerade daß er so schlecht spielte, gab mir plötzlich die Illusion meiner Kindheit zurück und die heißen Sommertage, wenn zögerndes, langsames Klavierspiel aus einer anderen Etage durch die Wohnung tropfte und die Kastanien vor dem Fenster träge im Wind raschelten.

Ich schreckte auf. Ich hatte auch geschlafen. Vorsichtig stand ich auf und ging ins Nebenzimmer, um mich anzuziehen. Meine Sachen lagen dort herum. Ich suchte sie zusammen, stand dann am Fenster und schaute auf die fremde Stadt, die nichts von Erinnerungen und Tradition an sich hatte. Nichts von Erinnerungen. Sie war neu und voll ungestümer Zukunft. Ich stand lange und dachte über vieles nach. Das Klavierspiel setzte wieder ein, aber es war eine Sonate von Clementi und keine Etüde von Czerny, die da geübt wurde. Jemand spielte einen Blues, einen langsamen Tanz. Ich ging zur Mitte des Zimmers, von wo ich Natascha sehen konnte. Sie schlief nackt auf der Decke, eine Hand in ihrem Haar, den Kopf auf der Seite. Ich liebte sie sehr. Ich liebte ihre Bedenkenlosigkeit. Sie war immer ganz da, aber sie fiel einem nie zur Last, und sie war fort, ehe man es sich versah. Ich ging wie der zurück zum Fenster und blickte wieder in die fast orientalisch wirkende weiße Steinlandschaft, diese Mischung aus Algier und dem Mond. Ich horchte auf das ununterbrochene Raunen des Verkehrs und betrachtete die lange Reihe der Verkehrsampeln an der Zweiten Avenue, wie sie automatisch von Grün auf Rot und wieder zurück auf Grün wechselten. Die Regelmäßigkeit hatte etwas Beruhigendes und gleichzeitig Unmenschliches an sich, als würde die Stadt bereits von Robotern regiert. Dies schien nichts Erschreckendes an sich zu haben. Ich ging in die Mitte des Zimmers zurück und entdeckte, daß ich, wenn ich mich um wandte, Natascha auch in einem gegenüberliegenden Spiegel im Schlafzimmer sehen konnte. Es war ein sonderbares Wechselspiel, das mir nach einiger Zeit unheimlich wurde — als wäre keiner von uns beiden wirklich, und ich wäre in einem Turm zwischen zwei Spiegeln aufgehängt, die sich gegenseitig ihre Bilder zuwarfen, bis sie sich ins Unendliche verloren.

Natascha regte sich. Sie seufzte und wandte sich um. Ich überlegte, ob ich das Tablett mit Bierbüchsen und Papieren, mit Pa strami und Brpt in die Küche tragen sollte. Aber ich ließ es sein. Es lag mir nichts daran, mit hausfraulichen Tugenden zu glänzen. Ich stellte nicht einmal die Flasche mit Wodka in den Eisschrank, ich wußte allerdings, daß noch eine zweite kalt drinnen stand. Ich dachte darüber nach, wie sonderbar mich diese eigentlich doch alltägliche Situation angerührt hatte — nach Hause zu kommen und jemand finden, der auf mich wartet und der jetzt nebenan voll Vertrauen und ohne Furcht schläft. Es war lange her, daß mir etwas Ähnliches widerfahren war, und damals war es eine trügerische Situation gewesen, an die ich nicht zurückdenken wollte, bevor ich nicht wieder drüben war. Denn ich wußte, daß diese Gedanken sehr gefährlich waren, daß ich auf einem schmalen Weg ohne Geländer dahinschritt, der zu beiden Seiten in die Tiefe ging, und auf dem weder Platz für Ironie noch für Reflektion war, sondern nur für Weitergehen ohne Besinnen. Wenn ich wollte, konnte ich auf diesem Wege tanzen; aber ein falscher Schritt war ebenso gefährlich wie bei einem Seiltänzer.

Ich blickte zu Natascha hinüber. Ich liebte sie sehr, aber ich spürte, daß keine Sentimentalität dabei war. Solange sich daran nichts änderte, wußte ich, daß ich einigermaßen sicher war. Ich konnte abbrechen, ohne verletzt zu werden. Ich sah auf die schönen Schultern und den faszinierenden Arm und machte lautlose, beschwörende Zeichen mit den Händen: Bleib da, du herrliches fremdes Stück Welt! Verlaß mich nicht, bevor ich dich verlasse! Sei gegrüßt, du Stück wilder Frieden!

«Was machst du da?«sagte Natascha.

Ich ließ die Hände sinken.»Wieso kannst du mich sehen?«fragte ich.»Du liegst doch auf dem Bauch!«

Sie deutete auf einen kleinen Spiegel, der neben dem Radio auf dem Nachttisch stand.»Versuchst du mich zu verhexen?«fragte sie.»Oder hast du schon genug vom Leben am häuslichen Herd?«»Keines von beiden. Und wir rühren uns nicht aus dieser Burg zwischen der schon fast entwichenen Puffmagik und der so nahen Homosexualität! Höchstens nachmittags machen wir wie ordentliche Amerikaner, die schon mit der >Mayflower< herüberkamen,einen Spaziergang über die Fifth Avenue. Doch dann gleich zurück zu Radio, Steak am elektrischen Grill und Liebe.«

Wir gingen nicht einmal nachmittags auf die Straße. Wir öffneten stattdessen die Fenster für eine Stunde und ließen die heiße Luft herein, dann stellten wir die Klimaanlage wieder auf volle Fahrt, damit wir nicht schwitzten, während wir uns liebten. Ich hatte am Ende dieses Tages das Gefühl, als hätten wir fast ein Jahr im gewichtslosen Frieden eines Vakuums gelebt.

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