«Es wird nicht schwer sein, Sie in einer Kunstgalerie unterzu bringen«, sagte Lowy senior.»Der Krieg kommt Ihnen da zugute. Heutzutage besteht ein Mangel an Hilfskräften.«
«Ich komme mir bereits wie ein Kriegsgewinnler vor«, erwiderte ich ärgerlich.»Immer wieder muß ich hören, welche Vorteile der Krieg für mich hat.«
«Hat er das nicht?«Lowy kratzte sich den kahlen Schädel mit dem Schwert einer falschen Figur des heiligen Michael.»Ohne den Krieg wären Sie doch nicht hier.«
«Das stimmt. Aber ohne den Krieg wären die Deutschen auch nicht in Frankreich.«
«Sind Sie nicht lieber hier als in Frankreich?«
«Herr Lowy, das sind unnütze Fragen. In beiden Ländern komme ich mir vor wie ein Parasit.«
Lowys Gesicht erhellte sich.»Parasit, das ist es! Das wollte ich Ihnen erklären. Bei Ihrem Status können Sie vorläufig in einer Galerie nicht regulär angestellt werden. Sie müssen etwas finden, so ähnlich, wie Sie es hier gehabt haben. Schwarz, mit einem Wort. Da habe ich mit jemandem gesprochen, bei dem Sie viel leicht so etwas bekommen. Er ist ein Parasit. Ein reicher Parasit. Auch ein Kunsthändler. Ein Bilderhändler. Aber ein Parasit!«»Handelt er mit falschen Bildern?«
«Bewahre!«Lowy legte den falschen heiligen Michael fort und setzte sich in einen stark reparierten Savonarolastuhl aus Florenz, dessen oberer Teil echt war.»Der Kunsthandel ist ein Gewerbe des schlechten Gewissens«, dozierte er.»Man verdient eigentlich das Geld, das der Künstler hätte verdienen sollen. Man verdient immer das Mehrfache von dem, was der Künstler ein mal erhalten hat. Bei Antiquitäten und Kunstgegenständen ist das nicht so schlimm — schlimm wird es bei der >reinen Kunst<. Denken Sie an van Gogh. Er konnte nie ein Bild verkaufen und hatte nie genug zu essen; heute verdienen die Händler mit seinen Bildern Millionen. So war es immer. Der Künstler hungert, der Händler kauft sich Schlösser.«
«Glauben Sie, daß die Händler von Reue zerfressen werden?«Lowy zwinkerte.»Nur so weit, daß der Gewinn noch würziger wird. Kunsthändler sind ein sonderbares Volk. Sie möchten nicht nur reich werden an den Werken der Künstler, sondern oft selbst noch auf deren Niveau stehen, weil der Künstler, der ihnen etwas verkaufen will, fast immer ein armes Aas ist, das kein Geld für das Abendbrot hat. Die Überlegenheit eines Menschen, der ihm Geld für das Abendbrot zahlen kann, ist Ihnen klar, wie?«
«Sehr sogar. Auch ohne Künstler zu sein. Ich bin da ein Kenner.«»Da haben Sie es. Der Künstler wird immer ausgenutzt. Um nun wenigstens den Anschein zu erwecken, daß sie die Kunst lieben, von der sie glänzend leben, und den Künstler, den sie ausnutzen, haben die Kunsthändler Galerien. Das heißt, sie machen ab und zu Ausstellungen. Sie tun das natürlich, um an den Künstlern, die sie durch Verträge angekettet haben, Geld zu verdienen — aber auch, um Maler bekannt zu machen. Das ist ihr ziemlich dürftiges Alibi, etwas für die Kunst zu tun.«
«Das sind also die Parasiten der Kunst?«sagte ich amüsiert.
«Das sind sie nicht!«erklärte Lowy senior und zündete sich eine Zigarre an.»Sie tun wenigstens noch etwas für die Kunst. Die Parasiten sind die Händler, die ohne Läden und ohne Galerien verkaufen. Sie nutzen das Interesse aus, das die anderen durch ihre Ausstellungen erwecken, und haben dabei keine eigenen Kosten. Sie verkaufen aus ihrer Wohnung heraus. Sie haben keine anderen Unkosten als eine Sekretärin. Die Wohnungsmiete ziehen sie bei der Steuer als Geschäftsunkosten ab, weil sie ihre Bilder dort hängen haben. Die ganze Familie lebt heiter und kostenlos in dieser Wohnung. Während wir ändern im Geschäft stehen und mit Angestellten Ärger und Kosten haben, schläft der Parasit bis neun Uhr, diktiert dann Briefe und wartet wie eine Spinne auf Käufer.«
«Warten Sie nicht auf Käufer?«
«Nicht so luxuriös wie eine Spinne. Wie ein Angestellter meiner selbst. Nicht wie ein Pirat!«
«Warum werden Sie nicht auch ein Parasit, Herr Lowy?«
Er sah mich stirnrunzelnd an.
Ich begriff, daß ich einen Fehler gemacht hatte.»Aus ethischen Gründen, was?«fragte ich.
«Schlimmer. Aus finanziellen Gründen. Diese Seeräuberei kann man nur betreiben, wenn man Geld hat. Und gute Ware. Sonst wird man ein Schlepper. Sehr gute Ware.«
«Verkauft der Pirat billiger? Er hat doch weniger Unkosten. «Lowy stieß die Zigarre in einen Renaissance-Mörser, holte sie aber gleich darauf wieder heraus, glättete sie und zündete sie neu an.»Teurer!«schrie er.»Das ist ja der Witz! Und die reichen Dummköpfe lassen sich düpieren und glauben, günstiger zu kaufen. Leute, die Millionen in harter Arbeit gemacht haben, fallen darauf rein. Wenn man ihren Snobismus und ihre gesellschaftliche Ehre, nebbich, kitzelt, kriechen sie wie Fliegen auf den Leim!«Lowys Zigarre sprühte wie ein Feuerwerksrad.»Die Verpackung!«zeterte er.»Sagen Sie einem neugebackenen Millionär, er solle einen Renoir kaufen — er lacht Sie aus, weil er glaubt, das sei ein Fahrrad! Sagen Sie ihm aber, ein Renoir er höhe seine gesellschaftliche Bedeutung, dann kauft er gleich ein paar! Verstehen Sie?«
Ich lauschte mit Entzücken. Von Zeit zu Zeit erhielt ich von Lowy diesen kostenlosen Unterricht über das praktische Leben, gewöhnlich nachmittags, wenn nicht viel zu tun war, oder abends, bevor ich im Keller Schluß machte. Heute war es früher Nachmittag.
«Wissen Sie, warum ich Ihnen diesen Kursus im höheren Bilder handel gebe?«fragte Lowy senior.
«Um mich auf den Krieg im Geschäftsleben vorzubereiten. Den ändern kenne ich ja schon.«
«Sie kennen etwas vom ersten totalen Krieg der Welt und glauben, das sei eine Neuigkeit. Im Geschäftsleben gibt es, seit die Erde sich dreht, nichts anderes als den totalen Krieg. Die Front ist überall. «Lowy senior reckte sich.»Ähnlich wie in einer Ehe.«
«Sind Sie verheiratet?«fragte ich. Ich liebte es nicht, den Krieg in irgendwelche albernen Vergleiche gezogen zu sehen. Dazu war er zu sehr jenseits aller Vergleiche, selbst der nicht albernen.
«Ich nicht!«erwiderte Lowy senior plötzlich umdüstert.»Aber mein Bruder trägt sich mit dem Gedanken. Stellen Sie sich das vor! Eine Tragödie! Eine Schickse will er heiraten! Das wäre unser Ruin.«
«Eine Schickse?«
«Na ja, so eine Christin mit Wasserstoffsuperoxyd-Gezottel um die Ohren, mit Augen wie ein Hering und einem Maul, das vor lauter Gier nach unsern sauer ersparten Notgroschen achtund vierzig Zähne hat. Nach unseren Dollars, meine ich. Eine künstliche blonde Hyäne mit zwei krummen rechten Füßen!«
Ich wartete einen Augenblick, um mir dieses Bild klarzumachen.»Meine arme Mutter, hätte sie das noch erlebt«, fuhr Lowy fort,»sie würde sich im Grabe umdrehen, wenn sie nicht vor acht Jahren eingeäschert worden wäre.«
Ich kam nicht dazu, über diesen Wirrwarr nachzudenken. Ein Wort hatte mich getroffen wie eine Signalglocke.»Ein geäschert?«
«Im Krematorium. Sie war eine fromme Jüdin, noch in Polen geboren. Hier gestorben. Sie wissen — «
«Ich weiß«, sagte ich hastig.»Und Ihr Bruder? Warum soll er nicht heiraten?«
«Aber doch nicht eine Schickse!«empörte sich Lowy.»Es gibt in New York mehr ordentliche jüdische Mädchen als sonstwo. Soll er da keine finden? Ganze Stadtteile voll gibt es hier! Aber nein, er muß seinen Kopf durchsetzen. Das ist, als wollte er in Jerusalem ein Mädchen namens Brunhilde heiraten.«
Ich hörte mir den Ausbruch schweigend an. Ich hütete mich, Lowy auf seinen umgekehrten Antisemitismus aufmerksam zu machen. Es war auch hier wie mit dem Krieg: es gab keine Witze mehr und nicht einmal ironische Vergleiche.
Lowy beruhigte sich.»Entschuldigen Sie«, sagte er.»Manchmal kocht der Kaffeekessel über. Aber ich wollte mit Ihnen über etwas anderes reden. Über Parasiten. Ich habe gestern mit einem Parasiten über Sie gesprochen. Er könnte eine Hilfe brauchen, die einige Kenntnisse von Bildern hat. Nicht so viel, um selbst etwas abzugucken und es dann an die Konkurrenz weiterzuge ben. Jemand wie Sie, der sich lieber versteckt als rumredet. Sie sollen sich einmal bei ihm vorstellen. Heute abend um sechs Uhr. Ich habe für Sie zugesagt. In Ordnung?«
«Vielen Dank«, sagte ich überrascht.»Wirklich vielen Dank!«»Sie werden nicht allzuviel verdienen. Aber es kommt nicht auf den Anfang an, sondern auf die Möglichkeiten, pflegte mein Vater zu sagen. Hier — «, Lowy machte eine Bewegung über den Laden hin.»Hier haben Sie keine Möglichkeiten.«
«Ich bin dankbar für meine Zeit hier. Und ich bin dankbar, daß Sie mir weiterhelfen. Warum eigentlich?«
«Das dürfen Sie nie fragen: Warum?«Lowy betrachtete mich.»Ja, warum? Wir sind sonst keine solche Menschenfreunde. Wissen denn Sie, warum? Ich glaube, weil Sie so hilflos wirken!«»Was?«sagte ich sehr überrascht.
«Das muß es sein«, erwiderte Lowy, selbst überrascht.»Sie sehen dabei gar nicht so aus. Aber Sie wirken so. Mein Bruder kam auf den Gedanken, als wir über Sie sprachen. Er meinte, Sie würden Glück bei Frauen haben.«
«So was?«meinte ich halb entrüstet.
«Nehmen Sie das nicht ernst. Ich habe Ihnen ja erklärt, was für ein Rhinozeros mein Bruder in dieser Beziehung ist. Aber gehen Sie mal zu dem Piraten. Silvers heißt er. Heute abend.«
Silvers hatte kein Schild an der Tür. Er wohnte in einem Privat haus. Ich hatte eine Art zweibeinigen Hai erwartet. Statt dessen sah ich einen sanften, schmächtigen und eher scheuen Menschen, sehr gut gekleidet und zurückhaltend. Er gab mir einen Whisky- Soda und fragte mich vorsichtig aus. Dann holte er aus einem Nebenraum zwei Bilder und stellte sie auf eine Staffelei.»Welches Bild gefällt Ihnen besser?«
Ich deutete auf das rechte.»Warum?«fragte Silvers.
«Muß man dafür gleich einen Grund haben?«
«Es interessiert mich. Wissen Sie, von wem die Bilder sind?«
«Es sind zwei Zeichnungen von Degas. Das kann doch jeder sehen.«
«Nicht jeder«, sagte Silvers mit merkwürdig scheuem Lächeln.»Einige meiner Kunden nicht.«
«Weshalb kaufen sie dann?«
«Um einen Degas bei sich hängen zu haben«, sagte Silvers melancholisch.
Ich erinnerte mich an die Lektion von Lowy senior. Sie schien also zu stimmen. Ich hatte Lowy natürlich weniger als die Hälfte geglaubt, er neigte zu Übertreibungen, besonders dann, wenn er unsicher war.
«Bilder sind Emigranten, wie Sie«, erklärte Silvers.»Und sie landen oft an merkwürdigen Plätzen. Ob sie sich da wohl fühlen, ist eine andere Frage.«
Er holte zwei Aquarelle aus dem Nebenraum.»Wissen Sie, was das ist?«
«Das sind Cezanne-Aquarelle.«
Silvers war überrascht.»Können Sie mir auch sagen, welches das bessere ist?«
«Bei Cezanne ist jedes Aquarell gut«, erwiderte ich.»Das teuerere würde wohl das linke sein.«
«Warum? Weil es größer ist?«
«Nicht deshalb. Es ist ein spätes Bild und schon fast kubistisch. Eine sehr schöne Landschaft aus der Provence mit dem Mont St. Victoire. In Brüssel, im Museum, gibt es eine ähnliche.«
Das Gesicht Silvers’ hatte sich verändert. Er stand auf.»Wo haben Sie früher gearbeitet?«fragte er scharf.
Ich erinnerte mich an Natascha Petrowna.»Ich habe nirgendwo gearbeitet«, erwiderte ich ruhig.»Bei keiner Konkurrenz, und ich bin kein Spion. Ich war eine Zeitlang in Brüssel im Museum.«»Wann?«
«Während der Zeit, als es besetzt war. Ich wurde dort versteckt, aber ich konnte entkommen, über die Grenze. Daher stammen meine harmlosen Kenntnisse.«
Silvers setzte sich wieder.»Man kann in unserm Beruf nicht vorsichtig genug sein«, murmelte er.
«Warum?«sagte ich, froh, keine weiteren Erklärungen abgeben zu müssen.
Silvers zögerte etwas.»Bilder sind wie lebende Wesen. Wie Frauen. Man soll sie nicht überall herumzeigen, wenn sie ihren Zauber behalten sollen. Und ihren Wert.«
«Aber sie sind doch dazu gemacht?«
«Vielleicht, aber ich bin dessen nicht ganz sicher. Für den Händler ist es wichtig, daß nicht jeder sie kennt.«
«Merkwürdig. Ich dachte, das würde den Preis erhöhen.«
«Längst nicht immer. Bilder, die zu viel gezeigt werden, heißen in der Fachsprache >verbrannt<. Im Gegensatz dazu stehen die >Jungfrauen<, die immer in derselben Hand in Privatbesitz gewesen sind und die kaum jemand kennt. Sie werden höher bezahlt. Nicht weil sie besser sind, sondern weil da die Lust des Kenners und Sammlers am Entdecken dazukommt.«
«Und dafür bezahlt er?«
Silvers nickte.»Leider gibt es heute zehnmal so viele Sammler wie Kenner. Die eigentliche Epoche des Sammlers, der auch Kenner war, endete nach dem Kriege 1918. Mit jeder politischen und wirtschaftlichen Umwälzung kommt eine finanzielle. Vermögen wechseln. Sie werden verloren, und neue entstehen. Alte Sammler müssen verkaufen, neue kommen, aber oft haben sie das Geld, sind aber keine Kenner. Zum Kennerwerden gehören Zeit, Geduld und Liebe.«
Ich hörte ihm zu. In dem mit grauem Samt ausgeschlagenen Raum mit den beiden Staffeleien schien sich die verlorene Stille einer friedlichen Zeit gefangen zu haben. Silvers stellte ein neues Bild auf eine der Staffeleien.»Kennen Sie das?«
«Ein Monet. Ein Mohnblumenfeld.«
«Gefällt es Ihnen?«
«Es ist herrlich. Welch ein Friede! Und welch eine Sonne! Die Sonne von Frankreich.«
«Wir können es ja einmal versuchen«, sagte er schließlich.»Sie brauchen hier keine großen Kenntnisse. Zuverlässigkeit und Verschwiegenheit sind wichtiger. Wie wäre es mit sechs Dollar am Tage?«
Ich wurde mit einem Schlage lebendig.»Für welche Zeit? Vormittags oder nachmittags?«
«Vormittags und nachmittags. Aber Sie haben zwischendurch viel Zeit.«
«Das ist ungefähr so viel, wie ein besserer Laufbursche verdient.«
Ich erwartete jetzt, daß Silvers mir erklären würde, meine Stellung sei auch nichts weiter. Doch er war subtiler. Er rechnete mir vor, was bessere Laufburschen verdienen. Es war weniger.
«Ich kann es nicht unter zehn Dollar machen«, sagte ich.»Ich habe Schulden, die ich abtragen muß.«
«Schon?«
«Für den Anwalt, der meine Aufenthaltserlaubnis bearbeitet. «Ich wußte, daß Silvers das von Lowy gehört hatte, er tat aber so, als wäre das ein Makel, und er müsse sich jetzt neu überlegen, ob er mich nehmen könne. Endlich zeigte das Raubtier seine Zähne.
Wir einigten uns auf acht, nachdem Silvers mir mit scheuem Lächeln beigebracht hatte, daß ich ja, da ich schwarz arbeite, keine Steuern zu zahlen hätte. Außerdem spräche ich ja auch kein fließendes Englisch. An diesem Punkt aber faßte ich ihn. Dafür spräche ich Französisch, erklärte ich, und das sei doch in seinem Geschäft ein Vorteil. Darauf bewilligte er mir die acht Dollar und versprach, wenn ich gut einschlage, könnten wir noch einmal darüber reden.
Als ich das Hotel erreichte, bot sich mir ein ungewöhnliches Bild. In der altmodischen Bude brannten mehr Lichter als sonst. Auch die, die von der sparsamen Direktion gewöhnlich abgeschaltet wurden. Um einen Tisch in der Mitte war eine interessante gemischte Gesellschaft versammelt. Raoul präsidierte. Er hockte wie eine schwitzende Riesenkröte in einem beigefarbenen Riesenanzug an der Schmalseite des Tisches, der zu meinem Erstaunen weiß gedeckt war und an dem ein Kellner bediente. Melikow saß neben ihm; außerdem war Lachmann da mit der Puertoricanerin; der Mexikaner mit rosa Schlips, steinernem Gesicht und rastlosen Augen; ein sehr blonder junger Mann, der eine Baß stimme hatte, obschon jeder einen hohen Sopran vermutet hätte; zwei Mädchen unbestimmten Alters, zwischen dreißig und vierzig, wachsam, spanisch, reizvoll und dunkel. Und auf der anderen Seite Melikows Natascha Petrowna.
«Herr Ross!«rief Raoul.»Geben Sie uns die Ehre!«
«Was ist passiert?«fragte ich.»Ein Massen-Geburtstag? Oder hat jemand das große Los gezogen?«
«Setzen Sie sich zu uns, Herr Ross«, erwiderte Raoul mit schwerer Zunge.»Einer meiner Retter«, erklärte er dem blonden jungen Mann mit dem Baß.»Schüttelt euch die Hände! Dies ist John Bolton.«
Ich hatte ein Gefühl, als hielte ich einen toten Fisch zwischen meinen Fingern. Nach der tiefen Stimme war ich auf einen kräftigen Händedruck vorbereitet gewesen.»Was möchten Sie trinken?«fragte Raoul.»Alles, was Ihr Herz begehrt, Coca-Cola, Seven-up, Aalborg, Bourbon, Rye Scotch — meinetwegen sogar Champagner. Was sagten Sie das letztemal, als mein Herz vor Traurigkeit schwitzte? Alles fließt, sagten Sie. Nach einem alten Griechen, wie? Heraklit oder Demokrit oder Demokrat. Wie es an der Siebten Avenue heißt: Nichts währt ewig, der schönste Jud wird schäbig. Wie wahr. Aber andere, junge wachsen nach. Also, was wollen Sie trinken? Alfons!«Er winkte dem Kellner wie ein römischer Kaiser.
«Was trinken Sie?«fragte ich Natascha Petrowna.
«Wodka, was sonst!«erwiderte sie fröhlich.
«Wodka«, sagte ich zu Alfons.
«Doppelt!«erklärte Raoul mit schwimmenden Augen.
«Ist es das Mysterium des menschlichen Herzens, die Liebe?«fragte ich Melikow.
«Es ist das Mysterium der menschlichen Illusion, in der jeder glaubt, der andere sei sein Gefangener.«
«Le coup de foudre«, sagte Natascha Petrowna.»Einseitig!«
«Was machen Sie hier in dieser Gesellschaft?«
«Zufall. «Sie lachte.»Und welch ein prächtiger. Ich mußte ein mal heraus aus der sterilen Monotonie der Party im Colony Club. Aber dies hätte ich nicht erwartet!«
«Sie sind wieder auf dem Wege zum Photographen?«
«Heute nicht. Warum? Wären Sie mitgekommen?«
Ich wollte es eigentlich nicht direkt sagen und sagte es dann doch:»Ja.«
«Endlich ein klares Wort«, erwiderte Natascha Petrowna.»Salut.«
«Salut.«
«Salut, Salve, Salute«, rief Raoul und stieß mit allen an. Er versuchte dazu sogar aufzustehen, sank aber zurück, wobei der falsche Thronsessel, in dem er saß, krachte. Dieses alte Haus besaß zu all seinen anderen Schrecken auch noch eine rieugotische steife Möbelausstattung.
Lachmann kam während des Prostens heran.
«Heute abend«, wisperte er mir zu,»ich mache den Mexikaner besoffen.«
«Und du selbst?«*
«Ich habe Alfons bestochen. Er bringt mir nur Wasser. Der Mexikaner glaubt, er tränke mit mir Tequila. Hat dieselbe Farbe, nämlich keine.«
«Ich würde lieber mit der Frau trinken«, sagte ich,»der Mexikaner hat nichts dagegen. Es ist ja die Frau, die nicht will. «Lachmann wurde einen Augenblick unsicher.»Macht nichts«, sagte er dann trotzig.»Es wird schon klappen. Es muß ja. Es muß, verstehst du?«
«Trink mit beiden — und mit dir selbst. Vielleicht fällt dir im Rausch etwas ein, woran du nüchtern nie gedacht hättest. Manche Leute sind im Rausch unwiderstehlich.«
«Aber dann hätte ich doch nichts davon. Ich weiß dann nichts mehr. Es wäre dann, als wäre es nie gewesen!«
«Wenn du dir das doch umgekehrt einbilden könntest. Als wäre es gewesen und du wüßtest nichts mehr davon.«
«Aber hör mal, das wäre ja Falschmünzerei!«protestierte Lachmann erregt.»Man muß doch ehrlich bleiben!«
«Bist du ehrlich mit dem Tequila?«
«Ich bin ehrlich zu mir selbst. «Lachmann beugte sich an mein Ohr. Sein Atem war heiß und feucht, obwohl er nur Wasser schlürfte.»Ich habe herausgekriegt, daß Inez nur einen steifen Fuß hat und nicht amputiert ist. Sie trägt diese Chromstütze aus Eitelkeit!«
«Aber Lachmann!«
«Ich weiß es. Du kennst die Frauen nicht. Vielleicht will sie deshalb nicht? Damit ich es nicht herausfinde.«
Ich war einen Moment sprachlos. Amore, amour, Blitzschlag des Irrtums, Hoffnung der tiefsten Hoffnungslosigkeit, sorgloses Wunder weißer und schwarzer Magie, dachte ich, sei gegrüßt! Ich verneigte mich feierlich.»Lieber Lachmann, ich grüße in dir den Sternentraum der Liebe!«
«Ach du mit deinen Witzen! Ich meine es todernst.«
Raoul hatte sich emporgerappelt.»Meine Herrschaften«, sagte er schweißüberströmt,»es lebe das Leben. Ich meine: gut, daß wir noch leben. Wenn ich mir vorstelle, daß ich mir noch vor kurzem dieses Leben nehmen wollte, so könnte ich mich ohrfeigen. Was sind wir doch für Idioten, wenn wir glauben, am edelsten zu sein.«
Die Puertoricanerin begann plötzlich zu singen. Es war ein spanisches Lied, wahrscheinlich aus Mexiko. Sie hatte eine pracht volle Stimme, tief und stark, wenn sie sang, die Augen unentwegt auf den Mexikaner gerichtet. Es war ein Lied von einer so vehementen, natürlichen Wollust, klagend fast, weit von jedem Nachdenken und jeder Zivilisation, aus einer Zeit, in der die Menschheit ihr menschlichstes Gut, den Humor, noch nicht erlernt hatte, direkt und schamlos und unschuldig. Der Mexikaner rührte nicht einen Muskel. Auch die Frau blieb bewegungslos bis auf ihren Mund und ihre Augen. Sie sahen sich an, ohne zu blinzeln, und die Melodie strömte und strömte. Es war eine Vereinigung, ohne daß sie sich berührten, und jeder fühlte, daß es das war. Ich sah, wie alle schwiegen, und ich sah sie alle, während das Lied langsam strömte — Raoul und John, Lachmann und Melikow und Natascha Petrowna, alle ernst und über sich selbst hinausgehoben durch diese Frau, die nichts sah als den Mexikaner und in ihm, in seinem schäbigen Gigologesicht, das Leben, und es war weder sonderbar noch lächerlich.