16

«Herrgott, Vic, das muß man dir lassen, du machst keine halben Sachen. «Jinx saß in ihrem Wohnzimmer, das mit gerahmten Postern von impressionistischen Gemälden dekoriert war.

Wegen seiner abendlichen Ausgangssperre hatte Vic Charly vor seinem Wohnheim abgesetzt. Sie hatte zudem Chris angerufen, sobald sie durch Jinx' Tür getreten war, und ihr gesagt, sie hätte nach Hause gemußt, jetzt sei sie bei Jinx und sie würden sich morgen nach den Vorlesungen sehen. Dann plumpste sie wie eine abgeschossene Ente in einen Sessel und erzählte Jinx alles haarklein.

«Was soll ich jetzt tun?«

«Es genießen. «Jinx lachte. Sie hatte Kaffee gemacht, stand auf, um einzuschenken und kam mit zwei großen Bechern zurück.»Hier, Koffein klärt dein getrübtes Hirn.«

«Ich glaube, es ist für immer getrübt.«

Jinx setzte sich ihrer besten Freundin gegenüber.»Und keiner von beiden weiß vom anderen?«

«Nein. Doch, Chris weiß natürlich von Charly. Sie weiß nur nicht, daß ich mit ihm geschlafen habe.«

Homosexualität würde ihren Preis von Vic fordern; das tat sie bei allen. Jinx hegte keine Abneigung dagegen, aber sie erkannte, daß es ein kompliziertes Leben war.

«Liebst du Charly?«

«Was gibt's da nicht zu lieben?«

«Liebst du Chris?«

«Das ist es ja eben, Jinx. Ich kenne die Frau kaum. Aber ich kann nicht in ihrer Nähe sein, ohne ihr die Kleider vom Leib reißen zu wollen. Stürmischer Sex.«

Jinx legte die Füße auf die Kiste, die als Couchtisch diente.»Bevor das passiert ist — hattest du da schon mal mit dem Gedanken gespielt, mit einer Frau zu schlafen?«Vic schüttelte den Kopf. Jinx fuhr fort:»Ich dachte immer, Teeney Rendell wär in dich verknallt.«

Teeney Rendell, ein hübsches Mädchen, ein Jahr jünger als Vic, war ihr während der Highschoolzeit auf Schritt und Tritt gefolgt wie ein Hündchen.

«Ach?«

«Sie hat dich nicht zum Flattern gebracht?«

«Jinx, bleib auf dem Teppich. So was stand nicht auf dem Programm.«

«Sie ist scharf — sieht gut aus. Ich wollte, ich hätte ihre Beine.«

«Ist mir nie in den Sinn gekommen. Hör mal, du kennst mich seit einer Ewigkeit, seit wir auf der Welt sind. Wenn ich lesbisch wäre, meinst du nicht, daß du es wüßtest? Oder gespürt hättest oder so?«

Jinx zuckte mit den Achseln.»Wie hätte ich es wissen können, wenn du es selbst nicht wußtest?«

«Die Menschen spüren so was bei anderen.«

«Nur wenn's hier oben gespeichert ist. «Jinx tippte sich an den Kopf.»Wieso hätte ich drauf kommen sollen? Aber da du dich jetzt einer anderen Frau so stürmisch an den Busen geworfen hast — wie war's?«

«Du Ferkel.«

Jinx hob die Augenbrauen.»Als ob du mich umgekehrt nicht dasselbe fragen würdest.«

«Hab ich dir doch gesagt, stürmisch. «Vic fuchtelte mit dem Kaffeebecher, hielt ihn gerade noch rechtzeitig still, bevor er überschwappen konnte, und stellte ihn auf dem provisorischen Couchtisch ab.»Ich weiß nicht, ob ich es erklären kann, aber wenn sie mich berührt, brenne ich lichterloh. Ich bin so gut wie hirntot.«

«Hört sich für mich einfach toll an, abgesehen davon, daß es sich um eine Frau handelt. Ich meine, von meiner Seite aus gesehen. Ich verurteile das nicht. Du weißt, ich hab nichts dagegen. «Jinx beugte sich vor.»Was ist mit Charly? Ich dachte, du würdest mit ihm schlafen und hättest es mir bloß nicht erzählt.«

«Ach komm. Ich hätte es dir erzählt. Jinx, ich erzähl dir alles. Ich kann nicht glauben, daß du das denkst. «Vic war empört.

«Ja, aber man ist halt zwangsläufig, sagen wir mal, skeptisch.«

Vic seufzte, sah aus dem Fenster — es regnete immer noch.»Ich mag alles, was ihn glücklich macht. Außerdem erregt es mich, wenn ich sehe, daß er erregt ist.«

«Und?«Jinx hob die Stimme.

«Oh, Sex mit Charly?«Vic faltete die Hände.»War okay.«

«Bloß okay?«

Jetzt beugte Vic sich zu ihrer Freundin vor, griff über den Tisch nach ihrer Hand.»Was willst du von mir hören? Nach Chris mußte ich es einfach rausfinden. Vielleicht war es nicht klug oder richtig oder fair, aber ich hab es rausgefunden. Sex mit Charly ist Vergnügen, nicht Leidenschaft.«

Jinx drückte Vics Hand und ließ sie dann los.»Ah, das ändert einiges, wie?«

«Vielleicht muß ich öfter mit beiden schlafen. Sehr oft. So oft ich kann. «Vics Miene hellte sich auf.»Erfahrungen austauschen, Vergleiche anstellen.«

«Meinst du, du könntest Chris lieben?«

«Irgendwie hoffe ich, ich kann's, und irgendwie hoffe ich, ich kann's nicht.«

«Warum nicht zwei Menschen gleichzeitig lieben? Fänd ich plausibel, aber sie würden es wohl nicht plausibel finden«, sagte Jinx.

«Ich kann das Feuer noch so gut verstecken, der Rauch wird mich verraten. Außerdem bin ich eine schlechte Lügnerin.«

Jinx hob die Hände.»Erzähl keinem von beiden was. Vorerst. Du weißt noch nicht genug. Ehrlich. Du willst deine Beziehung mit Charly nicht Verblasen, wenn du mir den Ausdruck verzeihst. Und falls Chris wirklich diejenige welche ist, willst du sie auch nicht vergraulen.«

«Komisch, Charly könnte ich's erzählen. Und noch was ist komisch, ich fühl mich ihm so nahe, nicht weil ich mit ihm geschlafen habe, sondern wegen dem, was ich für Chris empfinde. Es ist, als wäre ich aufgewacht. Ich sehe die Welt. Ich sehe ihn. Für mich ist er schön.«

«Ich glaub dir aufs Wort, aber verstehen tu ich's nicht.«

«Ich auch nicht. «Vic griff nach ihrem Becher und trank ihn leer.»Verflixt, ich verstehe überhaupt nichts. Aber ich fühle alles.«

Ein durchtriebenes Lächeln huschte über Jinx' Lippen.»Oh, erzähl mir mehr Einzelheiten.«

«Zum Beispiel?«

«Sag mir, wie sie sich anfühlen, da du ja alles fühlst und ich vermutlich nie mit einer Frau schlafen werde. Ich brauche einen Ersatzkitzel.«

«Sie riecht anders als er, süß, sehr süß. Er riecht irgendwie schärfer, aber das mag daran liegen, daß Männer ihre Achselhöhlen nicht rasieren. Sauber, aber schärfer. Ihre Haut ist glatter. Er ist schwerer, irgendwie kompakter, auch irgendwie wehrloser. Das liebe ich an Charly, und vielleicht trifft das auf alle Männer zu: Sie sind stark, aber gleichzeitig zart. Ich meine, er ist körperlich stark, stärker als ich, dabei bin ich kein Schwächling.«

«Ein Kraftbolzen. Deine Mutter sagt, du bist ein Kraftbolzen. «Jinx' Augen funkelten. Sie genoß die Einzelheiten.

«Er hat so breite Schultern, ich glaube, er könnte die Welt auf ihnen tragen.«

«Vic, du hast fast so breite Schultern wie Charly.«

«Ach was. Ich liebe ihn, Jinx. Wirklich. Ich liebe seinen Mund, seine Muskeln — Gott, er hat einen schönen Körper. Ich liebe seinen Schwanz. Ich liebe sein Lachen. Ich liebe ihn. Aber ich empfinde für ihn nicht dasselbe, was ich für Chris empfinde.«

Ein Schatten zog über Jinx' Gesicht, die Einsicht, daß die Dinge sich im Bruchteil einer Sekunde ändern, daß Pläne platzen, neue Wege aus den Trümmern auftauchen. Sie wußte nicht, was das alles für sie oder für ihre Freundin bedeutete. Aber sie erkannte, daß das Leben geschieht, daß es einfach geschieht. Die Versuche der Menschen, es in den Griff zu bekommen, würden immer absurd sein.

«Vic, könntest du Charly heiraten?«Jinx hob die rechte Hand, als Vic antworten wollte.»Unterbrich mich nicht. Alle, Charly eingeschlossen, rechnen damit, daß ihr heiratet. Aber könntest du ihn heiraten, Kinder kriegen und vergessen, was du für Chris empfindest? Könntest du leben ohne — stürmischen Sex oder glühende Liebe oder was immer du jetzt kennst?«

Vic hob abrupt die Hand ans Gesicht. Sie hielt sie einen Moment vor die Augen, wie um sie zu beschatten; dann ließ sie die Hand sinken.»Jinx, ich glaube nicht, daß ich es könnte. Ich denke, früher oder später würde ich eine Frau finden oder eine Frau würde mich finden. Warum nur?«Sie schlug die Hände zusammen.»Alles wird dadurch versaut. Meine Eltern kommen um vor Kummer. Bunny kriegt einen Anfall. Wir werden Surry Crossing verlieren.«

«Hey, du kannst nicht für sie leben. Sie haben für sich entschieden. Und deine Eltern werden nicht umkommen. Ich glaube nicht, daß sie es dir vergelten werden. Ja, ich nehme an, deine Heirat mit Charly könnte Surry Crossing retten…«Sie hielt inne.»… aber du kannst dein Zuhause auch ohne ihn retten. Ich weiß nicht wie, aber es muß einen Weg geben. Es geht hier nicht um Surry Crossing. Es geht um dich. Kannst du mit einer Lüge leben?«

Vic hob die Stimme.»Charly zu lieben ist wohl kaum eine Lüge.«

«Du weißt, was ich meine.«

«Vielleicht geht's bloß ums Bumsen.«

«Nein.«

Vic ließ sich an die Lehne des gemütlichen Ohrensessels sinken.»Vielleicht nicht. Warum kann ich nicht beide haben? Andere Leute tun das auch.«

«Nenn mir wen.«

«Ich hab darüber gelesen. Warum kann ich nicht zwei Geliebte haben, solange es mir Spaß macht?«

«Vielleicht kannst du's. Kann aber auch sein, daß du dann beide verlierst.«

«Alles ist ein Wagnis. «Sie hielt inne.»Wer sagt, daß ich nicht mit beiden ins Bett gehen kann, wir zu dritt?«

Jinx setzte sich kerzengerade auf.»Gute Idee! Meinst du, du kannst sie dazu überreden?«

Vic zuckte mit den Achseln.»War nur Spaß.«

«Ich frag mich manchmal, warum es immer zwei sein müssen. Vielleicht ist es schwer genug, mit einem Menschen auszukommen zuzüglich der Kinder. Nimmt man noch einen dazu, wird's unmöglich. Unter einem Dach, meine ich. Die Menschen haben weiß Gott ständig Affären. Vielleicht brauchen sie das, schöpfen so die Kraft, um nach Hause gehen zu können. Ich werde es wohl nie rausfinden. Ich werde mein Leben als Single beschließen.«

«Jinx, das ist Blödsinn.«

«Victoria, du bist absolut hinreißend. Du kannst alle haben, die du willst und wann du sie willst. Ich bin ganz entschieden nicht hinreißend. Und ich muß zehn Pfund abnehmen.«

«Für mich bist du schön. Du bist für jeden schön, der sich die Zeit nimmt, dich kennen zu lernen. Wenn du zehn Pfund abnehmen willst, dann tu's. Ich kann's nicht mehr hören, du mit deinen zehn Pfund.«

«Kennen lernen< ist das Schlüsselwort. Die Männer wollen einen nicht kennen lernen. Sie entscheiden mit einem einzigen Blick, ob sie sich die Mühe machen wollen oder nicht. Es geht einzig und allein um Sex.«

«Nein, das ist nicht wahr. Manche Jungs sind da klüger. Klar, sie gucken hin, und manche Frauen sehen besser aus als andere. Aber ich weiß, es gibt Jungs, die dich so sehen können, wie ich dich sehe. Und betrachte es doch mal so: Du hast die oberflächlichen Hohlköpfe schon ausgesiebt.«

«Chris sieht klasse aus. Wärst du so scharf auf sie, wenn sie, sagen wir mal, zehn Pfund zu viel auf den Rippen hätte?«

«Ich weiß nicht.«

«Siehst du? Du bist genauso oberflächlich wie die Jungs«, zog Jinx sie auf.

«Wie soll ich das wissen? Ich hab vorher nie nach Frauen geguckt!«

«Von jetzt an wirst du's tun. Du wirst über den Campus schlendern und überlegen, welche fickenswert ist und welche nicht. Wart's nur ab. Du wirst die wogenden Brüste der Frauen beobachten, und dann guckst du dir die mit den niedlichen runden Ärschen an und.«

«Jinx, vielleicht bist du diejenige, die lesbisch ist.«

«Das glaub ich wirklich nicht, aber vorstellen kann ich's mir.«»Brüste sind was Tolles. Was echt Tolles. «Vic grinste.»Ich glaub, ich bin durchgeknallt, bin sexsüchtig geworden. Über Nacht. Ich kann nicht aufhören, daran zu denken.«

«Ich hab nicht mal welchen, und ich kann auch nicht aufhören daran zu denken.«

«Irgendwie strapaziös das alles.«

«Vic, willst du jetzt dauernd mit Chris zusammen sein?«

«Was?«Vic war mit ihren Gedanken noch dabei, wie strapaziert sie war.

«Ist eine weibliche Geliebte, warte, laß mich das anders formulieren, ist Chris deine neue beste Freundin?«

«Nein. Warum fragst du?«

«Weil. «Jinx' Stimme erstarb.

«Meine beste Freundin bist du. Du bist und bleibst meine beste Freundin.«

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