Vic wußte, es lag nicht an Jinx, daß sie neuerdings tatsächlich alle Frauen, denen sie begegnete, in Augenschein nahm. Sie bemerkte ihre Brüste, ihre Taille, achtete darauf, ob sie durchtrainiert oder wabbelig waren, ob ihre Frisur ihrem Gesicht schmeichelte oder nicht.
Als sie am Morgen aufgewacht war, hatte sie Chris angerufen. Ihr war eingefallen, daß Chris um acht Uhr eine Vorlesung hatte. Sie sagte ihr, sie würden sich nach den Vorlesungen sehen.
Danach rief sie Charly an. Er sagte, er liebe sie und könne ohne sie nicht leben, und ob sie sich nach den Vorlesungen treffen könnten? Es versetzte ihr einen Stich, ihm sagen zu müssen, heute ginge es nicht, aber sie würden sich morgen nach seiner Sportlermahlzeit sehen.
Nichts, was in den Vorlesungen gesagt wurde, drang durch ihre Schädeldecke. Auf dem Nachhauseweg kaufte sie Sandwiches und einen Strauß Astern in einer blauen Vase. Sie hatte immer noch keine Möbel außer dem Küchentisch, vier Stühlen, dem Bett und einer Kommode. Jetzt schmückten die Blumen die Mitte des Tisches. Sie deckte für zwei, und die Zeit kroch dahin, bis sie Chris' Schritte im Treppenhaus hörte.
Chris überreichte Vic einen riesigen Strauß Rosen.»Für eine Rose, auch wenn sie einen anderen Namen hat. «Sie küßte sie auf die Wange.
«Wie schön die sind. Wir hatten dieselbe Idee, bloß, deine war besser. «Vic hatte keine zweite Vase, aber eine Kaffeedose. Sie schüttete den gemahlenen Kaffee in einen verschließbaren Plastikbeutel, spülte die Dose aus, füllte sie mit Wasser und stellte die Rosen hinein.
«Die kippen ja um. «Chris lachte.»Entweder, ich geh nach Hause, eine Vase holen, oder ich muß sie unten abschneiden.«
«Nein, geh nicht weg. «Vic hielt sie am Handgelenk fest.
«Schön, dann gib mir 'ne Schere.«
Vic wühlte in der Krimskramsschublade, in der sie Bindfaden, Gummihandschuhe, Stifte und Gutscheine aufbewahrte.»Hier.«
Vic sah Chris zu, beobachtete die Bewegung ihrer Hände, als sie jeden einzelnen Stiel unter fließendem Wasser schräg abschnitt.
«Bist du hungrig?«
Chris schüttelte den Kopf.»Nicht sehr.«
«Falls du Hunger kriegst, ich hab Sandwiches im Kühlschrank. Du mußt mich loben, ich hab tatsächlich an was zu essen gedacht.«
«Was hast du gestern gemacht? Ich hab dich vermißt. «Chris hielt die Luft an, atmete dann schnell ein.»Danke, daß du mich angerufen hast. Ich hatte schon gefürchtet, es war so eine Affäre a la rein, raus, aus die Maus.«
Vic legte ihre Hände um die Taille von Chris, die über den Ausguß gebeugt stand. Sie küßte ihren Nacken.»Von wegen, Maus.«
«Ich krieg 'ne Gänsehaut davon. «Chris zog die Schultern hoch.
«Ich auch. «Vic liebkoste sie mit der Nase.
«Was war gestern?«
«Ich war zu Hause. Tante Bunny hat sich ein starkes neues Fernglas gekauft. Mom läßt dich grüßen. Ich bin abgefahren, bevor Mignon aus der Schule kam.«
«Toll, daß du deine Familie so liebst.«
«Ach, manchmal geht sie mir auf den Wecker, aber ich liebe sie. «Sie ließ Chris' Taille los, lehnte sich gegen die Anrichte, die Ellbogen nach hinten, so daß sie Chris' Gesicht sehen konnte.»Eigentlich wollte ich noch mal mit Mom über den Abbruch meines Studiums sprechen. Aber Tante Bunny war da.«
«Das Studium abbrechen?«Chris wurde bleich.
«Ich wäre nicht weit weg.«
«Du darfst mich nicht verlassen. Ich hab dich gerade erst gefunden.«
«Ich würde dich nicht verlassen. Ich würde das College verlassen. Ich brauche einen Job. Muß Geld verdienen.«
«Steht's so schlimm?«
«Es steht nicht gut. «Vic lächelte matt.
«Es schadet nie, einen Abschluß zu haben«, sagte Chris weise.
«Schon möglich. «Vic roch den Duft der Rosen, die eine aufregende rosa Farbe hatten.»Und ich geh wirklich gern aufs William and Mary College. Ich hätte nichts gegen ein gerahmtes Abschlußzeugnis vom selben College, auf dem Thomas Jefferson war.«
Chris stellte die Rosen auf den Tisch.»Soll ich die Astern ins Schlafzimmer bringen, was meinst du?«
«Ja, gut. «Vic folgte ihr. Chris stellte die blaue Vase mit den Astern mitten auf die Kommode. Als sie sich umdrehte, legte Vic ihre Hände auf Chris' Schultern, beugte sich vor und küßte sie.
Chris schlang die Arme um Vics Taille. Im Nu waren sie aus den Kleidern und im Bett. Sie konnten nicht genug von einander bekommen. Als die Abenddämmerung hereinbrach, gewann der Hunger die Oberhand, und sie gingen in die Küche, Sandwiches essen. Chris trug Vics Morgenrock. Vic hatte sich ein Handtuch um die Hüfte gebunden.
Nach dem Essen gingen sie wieder ins Bett, lehnten sich an die Kissen, lehnten sich aneinander, sahen die Sterne aufgehen, als der letzte Rest der langen Septemberdämmerung schwand.
«Chris, hast du schon mal mit Frauen geschlafen?«
«Würde das etwas ändern?«
«Du meinst, ob ich eifersüchtig wäre oder mir wie eine Nummer vorkäme? Glaub ich nicht, ich wollt's halt nur wissen.«
«Auf der Highschool. Ich hatte eine Freundin, und wir haben rumgefummelt. Aber wir haben auch mit den Jungs rumgefummelt. Ich bin gar nicht auf den Gedanken gekommen, ich könnte lesbisch sein, verstehst du?«Chris legte den Kopf an Vics Brüste; sie lag zwischen Vics Beinen.»Und du?«
«Nein. Auf die Idee bin ich nie gekommen.«
«Komisch.«
«Wieso?«
«Weil ich dich auf den ersten Blick für lesbisch gehalten habe. Ich dachte, du bist die schönste Frau, die ich je gesehen habe, und ich war ganz aufgeregt, weil du lesbisch warst.«
«Soll das ein Kompliment sein?«
Chris' Lachen war hell, perlend.»Ich meinte nicht, daß du durch und durch andersrum bist, aber du bist muskulös und groß und, ich weiß nicht, irgendwie selbstständig oder so. Jetzt ist vielleicht der falsche Moment, es zu sagen, aber bei mir war es Liebe auf den ersten Blick.«
Vic platzte heraus:»Bei mir auch.«
Als sie schweigend da lagen, maunzte in der Nähe eine Katze.
Chris sagte:»Es wundert mich, daß du keine Katze oder keinen Hund hast.«
«Ich hab Piper. Ich hätte gern eine Katze, aber nicht, solange ich noch studiere. Ich möchte ein Tier nicht allein zu Hause lassen müssen. «Sie legte die Hände unter Chris' Achseln und drückte sie hoch.»Sekunde. «Sie wand sich unter ihr hervor und setzte sich ihr dann so gegenüber, daß sie ihr ins Gesicht sah.»Ich hab dein Gesicht vermißt. Wenn ich eine Weile zu Hause arbeiten und wohnen würde, um Geld zu sparen, dann wäre die Katze nicht einsam.«
«Könntest du in Surry Crossing leben?«
«Ich dachte, vielleicht überlassen Mom und Dad mir ein Stückchen Land. Da könnte ich dann ein Häuschen bauen. Aber ich weiß, was Mutter sagen würde:>So ein Blödsinn. Ich allein in diesem Riesenkasten. Früher haben vierzehn, zwanzig Personen in so einem Haus gewohnt, plus Dienstboten.<« Vic ahmte ihre Mutter gekonnt nach.
«Deine Mutter ist die zweitschönste Frau, die ich je gesehen habe.«
«Werde ich deine Mutter mal kennen lernen?«
«Vic, ich denke schon, aber. «Chris hielt inne.»Ich kann meine Hände nicht von dir lassen. Bei deinem Anblick dreht sich mir alles, ich fühle sämtliche kitschigen Liebeslieder in mir, die ich je gehört habe. Wenn ich dich mit nach Hause nähme, würde meine Mutter im Nu über uns Bescheid wissen. Sie wäre nicht erfreut.«
«Erwartet man von dir, daß du eine gute Partie machst?«
«Erwartet man das nicht von jeder Frau?«
Vic schwieg einen Moment, dann fragte sie schließlich:»Weißt du schon, was du später mal werden willst?«
Chris legte ihre Beine über Vics.»Ja und nein. Ich will nicht arm sein. Meine Eltern haben mich in dieser Hinsicht vielleicht zu sehr verwöhnt, aber ich will Geld haben. Genug, um zu tun, was ich will. Ich muß nicht superreich sein, aber ich will nach London fliegen, dann. «Sie machte mit den Händen eine Flugbewegung.»Ich hab nichts dagegen zu arbeiten. Bin froh, wenn ich was zu tun habe. Ich glaube nicht, daß ich einen reichen Mann heiraten und eine karikativ engagierte Gattin sein könnte. Als Lehrerin hab ich die Sommermonate frei. Diese Vorstellung gefällt mir. Weiter ist mein Plan noch nicht gediehen.«
«Dann hast du einen festeren Plan als ich.«
«Ich hätte nichts dagegen, am College zu unterrichten. Zur Geschäftsfrau oder Wissenschaftlerin hab ich kein Talent. Da bleibt nicht mehr viel übrig. Aber ich will mich auf keinen Fall langweilen!«, sagte Chris entschieden.
«Ich auch nicht, aber wenn ich mich ein bißchen langweilen muß, um zu lernen, was ich wissen muß, wird das wohl nicht so schlimm sein. Zum Beispiel die Arbeit bei Onkel Don in diesem Sommer. Ich hab alles gemacht. Autos gewaschen und gewachst. Reifen gewechselt. Ich hab die Rezeptionskonsole, wie er das nennt, gemanagt, wenn Hojo weg war und sonst was getan hat. Ich hab auf dem Dach gearbeitet, wenn Schindeln ersetzt werden mußten. Ich hab die Abwechslung genossen, kein Tag war wie der andere. Und besonders hat mir gefallen, daß ich im Freien sein konnte. Am Anfang wollte Onkel Don mir Mädchenkram aufhalsen. Ich hab einen Aufstand gemacht, der sich gewaschen hat. Darauf ernannte er mich zu seinem Mädchen für alles. Ich hab 'ne Menge gelernt.«
«Zum Beispiel?«
«Die Kundschaft ist anspruchsvoll. Du mußt die Arschlöcher genauso anlächeln wie die netten Leute. Es ist ihr Geld. Wenn sie es in deinem Laden lassen, haben sie ein Anrecht auf gute Ware und guten Service. Das hat Onkel Don mir beigebracht. Tante Bunny, die sehr klug ist, hat mir beigebracht, vorauszudenken und die Konkurrenz auszuspähen. Ich bin also bei anderen Autohandlungen rumgekreuzt. Wie haben sie ihre Wagen präsentiert? Was für Öffnungszeiten hatten sie? Hört sich doof an, aber hat mir richtig Spaß gemacht. Am meisten hab ich's genossen, an der frischen Luft zu sein.«
«Ich glaube nicht, daß Farmer Geld verdienen«, zog Chris sie auf.
«Tja, ich hab sogar daran gedacht, beim Forstdienst der Regierung zu arbeiten oder so was. «Sie lächelte.»Ich könnte Anglerführerin werden. Ich kenne den Fluß. «Vic setzte sich aufrecht.»Man weiß ja nie. Es sind schon die merkwürdigsten Dinge passiert. «Dann ließ sie sich wieder aufs Kissen fallen.
«Was ist mit heiraten?«
«Alle rechnen damit, daß ich Charly heirate.«
«Und?«
«Ich hab damit gerechnet Charly zu heiraten — bis jetzt.«
Die Anspannung, die Chris stärker zugesetzt hatte, als ihr bewußt gewesen war, löste sich.»Oh.«
«Und wie ist das bei dir?«
Chris schüttelte den Kopf.»Nein. Ich glaube nicht, daß ich das könnte. Andererseits will ich nicht, daß man mich in der Luft zerreißt, weil ich andersrum bin.«
Vic versank in Schweigen, dann sprach sie wieder.»Sind wir Lesben?«
Chris lachte.»Wenn wir zusammen sind, bestimmt. «Sie beugte sich auf Händen und Knien nach vorn und küßte Vic. Sie küßte ihre Brüste, fuhr mit der Zunge um den Warzenhof. Dann glitt sie am Bauch hinunter.
«Was machst du mit mir?«Vic fuhr mit den Fingern durch Chris' blonde Haare.
«Bleib liegen und laß mich dich anbeten.«
Vic hatte einen Orgasmus, und sie fragte sich, ob ein Mensch sterben könnte, während er kam.
Dann glitt Chris wieder nach oben, legte die Hand unter Vics Kinn.»Der Beweis.«
«Was?«
«Lesbenbeweis.«
Vic küßte sie aufs Haar, als Chris sich in eine bequemere Lage manövrierte.»Vielleicht bin ich nicht lesbisch. Das liegt bloß an — dir. Was du mit mir machst.«
«Spielt das eine Rolle?«»Nein. «Vic atmete tief ein.»Ich glaube, ich kann keine von denen sein, die imSchrank leben.«
«Mach dir jetzt deswegen keine Sorgen. Darüber können wir uns später Gedanken machen.«
Eine glänzende Mondsichel erklomm den Himmel.
Vic sah die Kiefern schwanken.»Ich mach mir eigentlich keine Sorgen. Ich will es bloß nicht an die große Glocke hängen. Für eine Weile werde ich wohl meine Worte abwägen müssen.«
«Ich auch. «Chris schloß die Augen und schlug sie wieder auf, wechselte abrupt das Thema.»Hast du gehört, was bei Alpha Tau passiert ist?«
«Nein.«
«Die Anwärter für die Aufnahme in die Verbindung haben ein Wettsaufen veranstaltet, und einer von den Jungs hat sich so vollaufen lassen, daß er aus dem Fenster im ersten Stock gefallen ist. Er hat sich die Beine, die Rippen und wer weiß was noch gebrochen. Heute stand nichts darüber in der Zeitung, aber es kommt früh genug in die Presse. Die Verwaltung wird es nicht unter Verschluß halten können.«
«Das ist ja schrecklich. Ich hab nichts davon gehört.«
«Kannst du dir vorstellen, so breit zu sein?«, fragte Chris.
«Nein«, antwortete Vic. Sie hörte draußen einen Vogel zwitschern.
«Es wird die üblichen Verurteilungen geben, wenn es in die Zeitung kommt, du weißt schon, die Jugend von heute ist eine Schande und so«, sagte Chris.
«Mmm.«
«Ich glaube,die alten Leute sind wütend auf uns, weilsie alt sind und wir nicht. Als ob wir was dafür könnten.«
«Darüber hab ich nie nachgedacht. «Chris kuschelte sich an Vic.»Wir wollen ewig leben.«
«Abgemacht. «Vic küßte sie.