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Das Jonglieren mit zwei Geliebten forderte Vics Kreativität heraus. Charly, mit männlicher Kurzsichtigkeit gesegnet, wenn es um Frauen als Liebende ging, hatte keinen blassen Schimmer. Chris, die weitaus scharfsichtiger war, mutmaßte, daß Vic mit Charly schlief, hatte jedoch Angst zu fragen. Sie wußte, daß Vic ihr die Wahrheit sagen würde.

Wegen seiner abendlichen Ausgangssperre lud Vic Charly zu sich ein, wenn Chris Vorlesungen hatte und er nicht. Das ging nur Mittwochnachmittags, aber er beklagte sich nicht; er war ganz euphorisch, weil sie miteinander ins Bett gingen. Jede Nacht schlief Vic bei Chris oder umgekehrt. Sie konnten nicht voneinander lassen. Da sie unterschiedliche Kurse belegt hatten, sah man sie auf dem Campus selten zusammen. Außerhalb des Campus waren sie unzertrennlich.

Pflichtgetreu besuchte Vic die nächsten Football-Heimspiele; Jinx und Chris nahm sie mit. An den Wochenenden, an denen auswärts gespielt wurde, fuhr sie nach Hause. Sie hatte Geldsorgen, und mit denen lenkte sie ihre Gedanken von der Verwirrung wegen Chris und Charly ab. Mignon hatte einen Wachstumsschub und schoß fünf ganze Zentimeter in die Höhe. Sie sagte, ihr täten die Knochen weh vom Wachsen. Als der Oktober sich mit kristallklarem Himmel und beginnender Herbstfärbung entfaltete, gelangte Mignon zu größerer Reife. Die ganze Familie stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Die Wallaces zankten sich, warfen aber keine Dachpfannen herunter, verschossen keine Schrotkugeln. Hojo färbte sich die roten Haare strohblond. Bunny nahm die Gründung des Gartenbaubetriebes mit bewährter Präzision in Angriff. R. J. machte Frank klar, daß er ihr alles überschreiben müsse. Er fügte sich und verfiel prompt in eine leichte Depression. Die Schwestern steckten das Terrain ab, wo sie Bäume und Sträucher für ihre Gärtnerei pflanzen wollten.

Die Tage blieben warm, die Nächte waren frisch, und mit jedem Tag wurde das Licht milder. Die Herbstfärbung erreichte in Surry County gewöhnlich Ende Oktober, Anfang November ihren Höhepunkt, und in diesen frühen Novembertagen zeigte sie sich besonders leuchtend.

In Williamsburg auf der anderen Seite des James drängten sich die Touristen. Der Campus des William and Mary College glühte in buttergelbem Licht, die Backsteine nahmen einen warmen Paprikaton an, die weißen Fensterrahmen und Türpfosten wirkten durch den Kontrast noch weißer. Jugendliche, die mit ihren Eltern umherspazierten, verliebten sich bei einem solchen Besuch oft in das William and Mary College. In ein paar Jahren würden sie wiederkommen, um hier zu studieren. Die gegenwärtigen Studenten schlenderten über den Innenhof und die Rasenflächen. Die mörderischen Prüfungen lagen in sicherer Ferne. Wie vor der Küste ankernde Schiffe würden sie für eine Weile nicht in den Hafen einlaufen. Ende Oktober und Anfang November waren die Menschen einfach glücklich, geradezu schwindelig vor Glück, und viele erklärten, dies sei die schönste Jahreszeit. Dasselbe sagten sie auch im frischen Frühling. Aber in den Gobelin des Herbstes waren neben den leuchtenden Rot-, flammenden Orange- und satten Kadmiumtönen auch ein paar melancholische Fäden eingewoben. Das Wissen vom kommenden Winter versüßte diese Jahreszeit.

Besinnliche Menschen oder solche, die alt genug waren, um sich zu erinnern, haben sich darüber Gedanken gemacht, daß die Menschen am Vorabend einer Katastrophe wie besessen feiern, sich hemmungslos paaren, in Champagner baden. Tagebücher und Briefe geben Zeugnis, daß die tollsten Feste in Virginia von 1859 bis 1863 gefeiert wurden. Das war irgendwie verständlich, genau wie die ausgelassene Fastnacht vor der Fastenzeit. Der Herbst brachte dieses Gefühl des Zuendegehens, der flüchtigen Schönheit mit sich.

Vic feierte keine Feste, sie feierte jeden Atemzug. Sie liebte den Herbstgeruch. Sie liebte es, wenn die Blätter sich bunt färbten. Sie liebte das leise Matschgeräusch des Grases unter ihren Füßen. Sie liebte es, nach Hause zu gehen, auf dem Fluß zu rudern, wenn das Wasser glänzend von den Rudern platschte. Sie liebte das William and Mary College mit der Inbrunst derer, die sich bald verabschieden mußten. Daß sie im letzten Studienjahr war, wurde ihr voll bewußt. Sie liebte ihre Mutter, ihren Vater und ihre Schwester. Sie liebte Piper. Sie liebte die sahnigen, majestätischen Kumuluswolken, die über dem schmucken, zweckmäßigen Grundriß des ältesten Teils des Campus schwebten. Sie liebte die Zinnien im Garten, die spätblühenden Rosen. Sie liebte die Rose zwischen Chris' Beinen. Sie liebte Jinx' Lachen. Sie liebte die weichen Haare auf Charlys Brust. Sie liebte ihren eigenen Körper, seine Behendigkeit und Kraft. Sie liebte die Schreie der Möwen, das Geräusch, wenn Taue gegen einen Mast schlugen. Die duftende Schönheit des Lebens enthüllte sich endlich, das Muster des Mosaiks wurde klar: feiern, tanzen, lachen, lieben.

Sex hatte ihre Erleuchtung eingeleitet, doch sie verbreitete sich weit darüber hinaus. Vic begriff, daß ihre Mutter das Leben auf eine Weise liebte, wie es Bunny nicht gegeben war. Sie dachte, daß Charly sich mit der Zeit auf die Schönheit der Welt einlassen würde. Sie fragte sich, ob Männer länger dazu brauchten oder ob sie durch andere Männer von dieser wilden, gewaltigen Emotionsflut abgehalten wurden. Sie hatten die Pflicht am Hals hängen, ein schweres Joch, das sich stark von dem an Frauenhälsen und, schlimmer noch, von der Denkweise der Frauen unterschied. Sie fing an, die Männer anders zu sehen; sie sah ihre Qual, und ihr Herz öffnete sich ihnen wie nie zuvor. Die Liebe zu Chris sensibilisierte sie für Männer. Die Liebe zu Charly sensibilisierte sie für Frauen.

Das Leben war älter als die Vernunft. Das wußte sie jetzt, und es wunderte sie, wie viele Menschen es nicht wußten. Sie glaubten an falsche Propheten, wenn doch der kleinste Schmetterling ein Beweis für die Heiligkeit des Lebens war.

Sie hoffte, daß Chris ihr in dieses Neuland des Fühlens, der Visionen, der Empfindungen folgen würde. Sie wußte, daß Chris sie liebte, und sie erkannte allmählich, daß Chris, von inneren Ängsten eingeengt, eine größere Bürde trug als sie. Vic begann auch zu begreifen, daß die Liebe zu Chris eine peinvolle gesellschaftliche Belastung sein würde, wenngleich sie das Sprungbrett zu ihrer eigenen geistigen Erweckung, zur ganzen Fülle der Gefühlsregungen war.

Sie liebte Charly und Chris. Sie liebte sie auf unterschiedliche Weise und hatte seltsamerweise den Wunsch, daß sie einander liebten. Warum eine Wahl treffen? Warum die Einschränkungen der Welt hinnehmen? Es war leicht, mehr als einen Menschen auf einmal zu lieben. Die Welt machte es schwer, das Herz machte es leicht.

Gottlob hatte sie Jinx. Ihr konnte sie erzählen, was sie fühlte, und Jinx hörte aufmerksam zu. Gelegentlich spürte sie bei Jinx einen Anflug von Eifersucht auf die Zeit, die sie mit Chris verbrachte, aber das verging rasch. Freundschaft war die wahrhaftigste Liebe.

Charly, der schier platzte vor Glück, träumte von einer Zukunft mit Vic, mit einem Haus, zwei Autos und schließlich Kindern. Obwohl er so intelligent war, blickte er nicht unter die Oberfläche, stellte er die schwierigen Fragen nicht. Warum auch? Die Welt war für Charly gemacht. Er hatte ein gutes Herz. Er wollte die Welt verbessern. Die Liebe schenkte ihm mehr Mitgefühl, aber er stellte die ungeschriebenen Gesetze nicht in Frage.

Chris stellte sie insgeheim in Frage. Sie hatte Angst vor der Zukunft. Die Liebe machte sie glücklich und unglücklich zugleich; denn sie fürchtete Vic zu verlieren. Warum sollte eine Frau wie Vic wegen der Liebe zu ihr auf die Vorzüge einer Heirat mit Charly verzichten? Es schien Chris unbegreiflich, daß jemand aufrichtig der Stimme des Herzens folgen würde; denn in ihrer Kindheit war ihr beigebracht worden, daß gesellschaftlicher Rang und Dinge wichtiger waren als Menschen. Sie sah wohl, daß die Savedges nicht so waren, aber konnte sie die eingeimpfte Überzeugung ablegen? Und warum sollte Vic Charly nicht heiraten? Je öfter Chris mit ihm zusammen war, desto klarer wurde ihr, was für ein liebenswerter Mensch er war. Sexuelle Gefühle für Männer waren ihr ziemlich fremd, aber sie konnte seine besondere Schönheit erkennen. Je mehr man liebt, desto mehr hat man zu verlieren. Sie versuchte, ihrer Liebe zu Vic einen Dämpfer aufzusetzen, konnte es aber nicht. Die Macht der Gefühle sprengte alle Fesseln. Sie erlebte Augenblicke, da die Angst sich auflöste; in Vics Umarmung fühlte sie sich geborgen, leicht, sogar übermütig. Sie lebte für diese Augenblicke und für das Lachen. Nie hatte sie soviel gelacht wie mit den Savedges, Jinx und Charly. Sogar Piper brachte sie zum Lachen, und sie verliebte sich in die Golden-Retriever-Rasse.

Eine Woche vor den Thanksgiving-Ferien wurde das Lachen crescendoartig. Niemand konnte sich auf das Studium konzentrieren, weil alle Studenten nur noch daran dachten, daß sie in den Ferien zu Hause oder bei Freunden sein würden. Sogar die Professoren, die tapfer versuchten, Fakten, Theorien und Stoff in die jungen Köpfe zu stopfen, hatten Mühe sich zu konzentrieren.

Donnerstagabend um sieben war es bereits samtig dunkel. Vic und Chris holten Charly von seiner>Zwangsernährung< am Sondertisch ab. Er bestand darauf, die Frauen zum Essen auszuführen, wo er eine Cola trank und ihnen beim Essen zusah.

«Wir müssen etwas tun, um dieses Jahr in Erinnerung zu behalten. Etwas Unerhörtes. Etwas, das auf dem William and Mary College zur Legende wird«, sagte Vic.

«An was hast du da gedacht?«Chris kaute an einem Pommes frites.

«Wenn ich Tambourmajor wäre, das letzte Mal bei einem Heimspiel, das Verklingen des Trommelschlags beim letzten Song, würde ich veranlassen, daß die ganze Kapelle der gegnerischen Seite den Rücken zudreht und die Hosen runterläßt. Diese Art Legende.«

«Wäre es nicht aufregender, wenn sie auch ihre Vorderseite zeigen würden?«Chris kicherte.

«Ich könnte den Ball fangen, natürlich ein Touchdown erzielen, aber dann statt anzuhalten laufen, laufen, einfach weiterlaufen«, erbot sich Charly.

Chris lächelte.»Poetisch.«

«Hört mal, irgendwas müssen wir machen«, beharrte Vic.»Die Leute sollen wissen, daß wir hier waren. Wir müssen sie provozieren, uns zu übertreffen.«

«Wir könnten alle Türen der Verwaltungsbüros versperren. Die Schlösser mit einem Lötkolben versiegeln«, schlug Charly vor.

«Gut«, sagte Chris anerkennend.

«Oder wir könnten was auf den Rasen im Innenhof malen«, meinte Charly.

«Und was?«, fragte Chris.

«Eine nackte Frau«, antwortete Charly.

«Das erregt nur die Hälfte der Studierenden. Wir müßten auch einen nackten Mann malen«, meinte Chris.

«Ich weiß nicht«, sagte Vic.»Eine nackte Frau gefällt doch allen. «Sie achtete nicht auf ihre Worte, sie fühlte sich so frei.

«Was ist mit den vielen Teenie-Würstchen, die von Mommy und Daddy über den Campus geschleppt werden?«Chris stellte sich die Entrüstung vor. Zumal die Verwaltung immer noch bemüht war, die Erinnerung an den Alpha-Tau-Vorfall zu tilgen.

«Also gut, laßt uns was machen. «Chris verputzte ihre letzten Pommes. Es wäre ihr gegen den Strich gegangen, welche übrig zu lassen.

«Mir nach. «Vic stand auf.

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