Eine Fotografie von>Unserer lieben Frau vom Bratrost< zierte die Titelseite der Regionalausgabe der Zeitung. Pastor Whitby stimmte ein bitteres Klagelied über die gottlose Jugend an. Übermut kam ihm nicht in den Sinn. Keine Verdächtigen waren festgenommen worden. Von Sachschaden wurde nichts berichtet, aber das Blatt brachte auf der Titelseite einen Artikel über das zunehmende Rowdytum der Studenten und führte Beispiele an, ebenso von anderen Colleges wie vom William and Mary College.
Charly sah die Zeitung, als er seinen Platz in der Geschichtsvorlesung — Amerika vor der Revolution — einnahm. Chris bekam sie erst nach den Vorlesungen zu sehen. Vic las den Bericht während der Vorlesung, weil es ihr unmöglich war, sich auf den Stoff zu konzentrieren.
Nach der Vorlesung holte sie Jinx ab, die aus der Turnhalle gehüpft kam, die Sporttasche über der Schulter. Als sie über den Campus schlenderten, erzählte Vic ihr alles.
«War es nicht peinlich?«, fragte Jinx.
«Weil sich so viele Arme und Beine verheddern konnten?«
«Nein. «Jinx hängte sich die Sporttasche über die andere Schulter.»Heute Morgen. Was habt ihr euch gesagt?«
«Ach, nichts. Wir mußten uns alle beeilen, um in die Vorlesung zu kommen. Keiner von den beiden wirkte verlegen. Sie mögen sich.«
«Das will ich hoffen«, sagte Jinx.
«Was soll ich jetzt machen?«
«Dein Leben scheint nicht gerade nach Plan zu verlaufen.«
«Ich hatte nie einen Plan. «Vic legte ihren Arm um Jinx' Schulter.»Mom und Dad, Tante Bunny — sie haben vielleicht Pläne für mich, aber ich nicht. Ich wollte das Studium hinschmeißen und arbeiten gehen, aber Mom hat's mir ausgeredet. Ich hab nichts gegen Arbeit. Ich will bloß nicht in einem Büro rumsitzen.«
«Das schränkt deine Aussichten stark ein.«
«Vielleicht muß ich gar nichts machen.«»Schon möglich.«
«Du klingst nicht überzeugt. «Vic seufzte und ließ den Arm von Schultern sinken.
«Ich stelle mir vor — und ich muß es mir vorstellen, weil ich niemanden in deiner Lage kenne und wohl mit Sicherheit sagen kann, daß ich nie in so was hineingeraten werde — , aber ich stelle mir vor, daß Charly dich früher oder später heiraten will, und dann ist eh Schluß damit. Und wer kann sagen, daß er noch mal mit euch beiden schlafen will? Aus rein sexueller Sicht klingt's fantastisch, aber aus emotionaler Sicht — ich weiß nicht.«
«Äh-hm.«
Sie verließen den Campus und gingen zu Jinx' Apartment.
«Und?«Jinx hob die Augenbrauen.
«Und ich weiß nicht, was ich tue.«
«Das sehe ich. Okay, wenn ich dir eine Pistole an den Kopf halten und sagen würde,>du mußt dich entscheiden, was dann? Überleg nicht, antworte einfach.«
«Chris.«
«Ah. «Jinx senkte einen Moment den Kopf und hob ihn wieder.»Dein Leben verspricht interessant zu werden.«
«Ist es schon. So fühle ich nun mal. Bloß, ich weiß, daß es aus tausend Gründen viel leichter wäre, mit Charly zusammen zu sein.«
«Weiß er, was du fühlst?«
«Natürlich nicht. Ich meine, ich liebe ihn. Wirklich. Wie kann ich ihm so was sagen? Diese Nacht, das war spontan. Ich glaube nicht, daß er wußte, daß Chris und ich uns lieben. Er wollte es nicht wissen.«
«So, Mädchen, und wie lange kannst du — ähem — alle Eier im Nest behalten?«
«Wir könnten einfach so weitermachen. «Vic zuckte mit den Achseln.
«Zu dritt?«Jinx hob die Stimme.
«Na ja, nicht alle drei die ganze Zeit zusammen im Bett, Jinx. Aber. Scheiße. «Ihr Magen sank auf Grundeis, Angst durchfuhr sie blitzartig.
«Vic, wenn du es kannst, dann tu's. Ich maße mir kein Urteil an. Ich glaube bloß nicht, daß die Situation über längere Zeit zu halten ist. Früher oder später wird einer von beiden anfangen, an dir zu zerren. Du bist das Schweinchen in der Mitte.«
«Blöder Ausdruck.«
«Meinst du, Chris könnte mit einer Frau leben? Eine Affäre ist eine Sache, Lesbe sein ist ja wohl was anderes, möchte ich meinen.«
«Sich outen?«, fragte Vic.
«Nein, nicht unbedingt. Ich meine, sich für eine Frau entscheiden und dabei bleiben. Lügen die meisten Homosexuellen denn nicht das Blaue vom Himmel?«
«Verdammt, woher soll ich das wissen?«Eine Spur Verärgerung sprach aus Vics Stimme.»Ich lüge nicht.«
«Was, wenn sie lügen will und du nicht?«
«Ich weiß nicht. Ich denke nicht über so was nach.«
«Das sehe ich.«
«Danke.«
«Jemand muß vorausdenken, Vic. Ich bin nicht drauf aus, was kaputtzumachen. Ich stelle nur Fragen. «Jinx kickte ein paar Blätter aus dem Weg.»Du kannst keine Beziehung mit einer Frau haben, wenn sie sich verstecken will und du nicht. Will sie überhaupt eine Beziehung mit dir?«
«Ja. Da bin ich mir ziemlich sicher.«
«Weiß sie, daß du mit Charly geschlafen hast?«
«Wir haben nie darüber gesprochen.«
«Das heißt nicht, daß sie es nicht weiß, Herrgott noch mal.«
«Ja, ich glaube, sie weiß es.«
«Weiß er, daß du mit ihr geschlafen hast?«
Vic antwortete:»Hab ich dir doch gesagt. Ich glaube nicht, daß er's weiß.«
«Meinst du, er dreht durch?«Jinx war froh, daß sie nicht in Charlys Haut steckte.
«Nein, er würde eher verletzt sein.«
«Je länger er mit dir zusammenbleibt, desto länger braucht er, um eine andere zu finden.«
«Quatsch. Ich kann ihn lieben, ohne ihn zu heiraten.«»Du kannst nicht mit ihm schlafen. Ich meine, du kannst, aber Chris, die dich, glaube ich — das ist die Meinung einer Frau — über alles liebt, wird eher in die Luft gehen als er. Er ist ein Mann, Männer nehmen Frauenbeziehungen nicht ernst. Wenn er zwei und zwei zusammenzählt, wird er's verdrängen. Er würde nicht denken, daß er sexistisch ist oder so, aber die Männer setzen voraus, daß sie an erster Stelle kommen. Er ist auch nicht anders.«
Den Rest des Weges zu Jinx' Apartment legten sie schweigend zurück.
Als Jinx die Haustür öffnete, sagte Vic schließlich:»Du hast Recht. Ich denke, du hast Recht. Die Männer glauben, sie kommen zuerst.«
«Solange sie besser bezahlt werden, wird das so bleiben. Und wer wird ihnen sagen, daß sie nicht an erster Stelle kommen?«, erklärte Jinx, als sie auf dem Weg in die Küche waren.»Hunger?«
«Ausgehungert.«
«Schmier du Butter auf die Brote. Ich mach den Rest. «Jinx warf eine Packung gekochten Schinken und einen großen Würfel Schweizer Käse auf die Anrichte; dann griff sie nach einem Glas mit sauren Gürkchen und einem Glas Mayonnaise.»Glaubst du, jemand weiß von dir und Chris?«
«Nein.«
«Bunny wird als Erste dahinter kommen. Sie ist immer auf dem Ausguck, tastet den Radarschirm ab«, erklärte Jinx.
«Sie tastet Don ab, nicht mich.«
«Sie tastet alle und jeden ab. Sie muß es einfach wissen. Mom ist genauso. Ich komm da nicht ganz mit. Ich hab viel zu viel zu tun, um mich drum zu kümmern, was alle Welt macht. Ich leg Gurken drauf, okay?«
«Unmengen.«
Vic trat aus dem Weg, als Jinx sich die bestrichenen Brote vornahm.»Die Liebe muß mächtig sein. Mächtiger als — eines Tages werd ich's wohl wissen.«
«Sie ist wunderbar und erschreckend. Du kannst nicht mehr denken. Bis zum Tage meines Todes werde ich mich erinnern, wie ich zum ersten Mal das Licht auf Chris' Busen sah. Ich war wie vom Blitz getroffen. Ich mußte sie haben. Ich mußte sie anfassen und riechen. Und dann«, sie lachte,»klangen die Liedertexte, diese dämlichen, seichten Texte auf einmal wahr und weise, und Gott, es ist echt furchtbar.«
«Und dasselbe fühlst du wirklich nicht bei Charly?«
«Nein. Ich liebe ihn. Ich liebe Sex mit ihm. Ich bin gern mit ihm zusammen. Wir kennen uns durch und durch, aber es ist nicht dasselbe.«
«Und hat es dich nicht wahnsinnig gemacht zu sehen, wie er mit Chris schlief?«
«Im Gegenteil. «Sie biß in das Sandwich.»Und ich hab es inszeniert. Weißt du, was wirklich unheimlich ist — ich wußte nicht, daß ich das in mir habe. Wenn du mir im September gesagt hättest, ich würde gleichzeitig mit einer Frau und einem Mann ins Bett gehen, ich hätte dich für verrückt erklärt.«
«Würdest dus wieder tun?«
«Wie soll ich das wissen? Es war nicht vom Verstand gesteuert. Heute Nacht hat es sich richtig angefühlt. Ich wollte es. Und es war echt aufregend. «Sie hielt inne.»Vielleicht, weil wir es eigentlich nicht dürfen oder vielleicht, weil es sichtbar ist. Man kann dabei zugucken.«
«Pervers.«
«Scheint so. «Vic hatte ihr halbes Sandwich aufgegessen.
«Ich mach dir mal lieber noch eins.«
«Iß zuerst deins auf und laß mich meins aufessen. Dann weiß ich, wie hungrig ich noch bin.«
«Ich nehme an, du wirst mit beiden getrennt reden müssen, meinst du nicht?«
«Ja.«
Jinx stand auf, machte noch zwei Sandwiches und setzte sich wieder hin.»Du mußt bei Kräften bleiben, vor allem, wenn du deinen Sexsport weiter betreiben willst.«
«Ich hab Mittwochnachmittags mit ihm geschlafen, weil sie dann Vorlesung hat. Und ich war jede Nacht mit Chris zusammen. «Vics grüne Augen blitzten.»Vielleicht brauche ich 'ne kräftige Vitaminspritze.«
«Du bist bestimmt froh, daß übermorgen die Thanksgiving- Ferien anfangen.«
«Chris kommt mit zu uns. Weihnachten ist sie zu Hause, aber Thanksgiving sind wir zusammen. Ist mir auch lieber. Und wir gehn zu dem Spiel, es ist Charlys letztes. Ich hab Karten für dich, Mom, Dad, Mignon, Bunny und Don. Du kannst stolz auf mich sein. Hab alles organisiert.«
«Ich bin stolz auf dich. Ich geb dir das Geld für meine Karte.«
«Nein. «Vic brach ab und sah in Jinx' warme braune Augen. Ihr war, als sähe sie ihre liebste, älteste>Schwester< zum ersten Mal. Ihr war, als könnte sie direkt durch sie hindurchsehen.»Jinx, ich weiß nicht, was ich ohne dich anfangen würde. «Tränen rollten ihr über die Wangen.
Jinx stand auf und legte die Arme um sie.»Du hast mir schon so oft aus der Patsche geholfen.«
«Ich hab dich lieb. Ein Glück, daß ich dich habe.«
«Ich hab dich auch lieb.«
Vic schob ihren Stuhl zurück, stand auf und umarmte Jinx mit aller Kraft.»Ich fürchte, ich werd alles verbocken. Ich will niemandem wehtun.«
«Wir können nicht durchs Leben gehen, ohne Menschen weh zu tun, auch wenn wir's nicht wollen, Vic. Ich weiß nicht, warum das so ist, aber so läuft es nun mal.«
«Es muß auch anders gehn.«
«Komm, iß dein Sandwich auf. Noch eins?«
«Nein danke.«
Sie setzten sich wieder.»Schau, auch wenn du der beste Mensch auf der Welt bist, haben die Leute um dich herum Erwartungen, ja? Meine Mutter, sie hat Erwartungen, und ich entspreche ihnen nicht. Ich hasse sie nicht. Sie bringt mich dazu, daß ich vor Wut schäume, aber ich hasse sie nicht. Trotzdem kann ich nicht so sein, wie meine Mutter mich gern hätte, und ich meine, so ist es eben, egal, ob es um Eltern, Freunde oder Geliebte geht. Sie erfinden dich sozusagen, und eines Tages sehen sie dein wahres Ich. Und das ist nicht derselbe Mensch. Also müssen sie entweder dein wahres Ich lieben oder ein neues erfinden. Sicher, deine Eltern haben dich am Hals, sie können es ignorieren oder Geschichten erfinden darüber, wie du tust, was sie wollen. Mom macht es so. Ich höre, wie sie ihren Freundinnen erzählt, daß ich ständig mit anderen Jungs ausgehe und mich besser amüsiere als je zuvor ein Mädchen an einer gemischtgeschlechtlichen Schule, sie sagt tatsächlich>gemischtgeschlechtlich<. «Jinx seufzte.»Schönfärberei.«
«Ja. Und wenn die schöne Farbe verblaßt, fühlen sich alle betrogen.«
«Ich hab meine Mutter nicht betrogen. Ich meine nicht, daß du Charly betrogen hast. Du hast ihm nie die Ehe oder die Treue versprochen, oder?«
«Nein.«
«Und was hast du Chris versprochen?«
«Nichts. Aber ich hab ihr gesagt, daß ich sie liebe.«
«Würdest du treu sein?«
«Ja. Aber du bringst mich zum Nachdenken, Jinx, das tust du immer. Wenn ich Charly heirate, wird die schöne Farbe verblassen. Wenn ich Chris heirate, auch. Und was dann? Dann sehe ich sie und sie sieht mich, und wir kriegen's entweder gebacken oder schmeißen's hin.«
«Tja. Aber mit jeder Beziehung, die hält, ist's genauso.«
«Nicht bei uns. «Vic deutete auf Jinx' Herz.
«Wir kennen uns unser ganzes Leben. Es ist was anderes, wenn man zusammen aufwächst. Man sieht so gut wie alles, kann nichts verbergen.«
«Nicht, wenn es wahre Freundschaft ist. «Vic stand auf und öffnete einen Schrank.»Was dagegen, wenn wir deine Schokoplätzchen aufessen? Ich kauf dir neue. «Vic stellte die Tüte auf den Tisch und setzte dann Teewasser auf.
Vic machte Tee, nahm wieder Platz und tunkte Plätzchen in ihren Tee.»Weißt du, was ich denke? Ich denke, niemand will, daß du du bist. Deine Eltern haben ein Wunschbild. Freunde, die keine wahren Freunde sind, haben so ein Wunschbild oder Erwartungen, wie du sagen würdest. Die Kirche will nicht, daß du du bist. Die Regierung will nicht, daß du du bist. Was die Leute wirklich wollen, ist Gehorsam und Anpassung, auch wenn es dich zerreißt.«
«Das seh ich genauso. «Jinx atmete aus.»Ich weiß nicht, was ich da machen soll außer so ehrlich sein wie ich kann, zu mir, zu dir, zu denen, die wollen, daß ich ich bin.«
«Weißt du, was Mom mal zu mir gesagt hat? Ich war auf der Highschool, und wir sprachen über die Frauenbewegung. Es fand ein Aufmarsch statt oder so was, und ich hab sie mit Fragen und Ansichten gelöchert, und Mom sagte,>ich hab die Welt nicht erobert. Ich hab einen Weg gefunden, darin zu leben.< Es war so komisch, daß das von ihr kam. Es war so was wie eine Erklärung, warum sie nicht mitmarschiert ist, dabei hatte ich nie erwartet, daß sie das tun würde. Und ich bin gespannt, ob ich eines Tages genauso reden werde.«
«Komisch, ich kann deine Mutter das sagen hören. Weißt du, Vic, vielleicht tanzt jede, die selbstständig denkt, ein bißchen aus der Reihe. Ich stelle mir vor, daß mir das eines Tages passieren wird, anders als es dir passiert, aber ich weiß, ich kann nicht gleichziehen. Ich kann nicht mitlaufen. Ich kann's nicht. Ich sehe mich nicht als Quertreiberin oder so, aber ich kann nicht zustimmen, wenn ich etwas nicht für richtig halte oder meine, daß es nicht funktionieren wird. Mom sagt, Männer mögen keine Frauen, die denken.«
«O doch. Ich meine, viele mögen denkende Frauen. Sie wollen nur nicht, daß du ihnen widersprichst. Aber hey, Frauen wollen auch nicht, daß du ihnen widersprichst.«
«Ich weiß nicht. Vielleicht zeigen wir es anders. Ich dachte bloß, vielleicht ist es leichter, eine Frau zu lieben. Für zwei Frauen ist es dieselbe Welt. Eine Frau und ein Mann leben in verschiedenen Welten.«
«Jinx, vielleicht lebt jeder von uns in einer anderen Welt.«
«Und erwachsen werden heißt Brücken bauen?«
Sie saßen da und sahen sich an. Vic brach das Schweigen.»Ich möchte Brücken bauen. Ja. Ich möchte nicht von den Menschen, vom Leben ausgeschlossen sein. Ich möchte nicht so eine Type werden, wie ich sie so oft sehe, verschlossen und beherrschend. Gott, Jinx, mir ist, als würde ich mich häuten. Ich fühl mich so roh, aber so lebendig. Ich hab mich noch nie so lebendig gefühlt.«
«Man muß sich häuten, um wachsen zu können.«