«Ich liebe dich. Nur dich. «Charlys Stimme klang klar und fest.
«Wo bist du?«Vic war kaum in ihrem Apartment angekommen, als das Telefon klingelte.
«Ewell Hall, in der Telefonzelle. Ich hab vor der Vorlesung eine halbe Stunde Zeit. Ich mußte dich anrufen. Du sollst wissen, daß ich dich liebe. Ich will nur dich.«
«Hey, diese Nacht, das war meine Idee. «Sie lehnte sich an die Küchenanrichte.
«Du bist die, die ich will, Vic. Diese Nacht war fantastisch, aber ich liebe dich. Ich werde dich immer lieben.«
«Ich liebe dich auch. «Sie meinte es ehrlich, doch war das nur die halbe Wahrheit. Vic wünschte, sie würde rauchen. Jetzt wäre der richtige Moment für eine Zigarette.
«Kann ich dich sehen, bevor du nach Hause fährst? Ich möchte mit dir reden.«
«Charly, laß uns damit warten bis nach Thanksgiving. Du mußt spielen, konzentrier dich darauf und.«
Er unterbrach sie.»Kommst du hin?«
«Das weißt du doch.«
«Schön. «Die Zusicherung freute ihn.
«Und Mom und Dad und Mignon und Tante Bunny und Onkel Don und Jinx und Chris. Tante Bunny nimmt ihr Fernglas mit.«
«Kommt Chris mit zu dir nach Hause?«
«Ja. «Sie atmete konzentriert ein und aus.»Diese Nacht war einmalig, aber ich bin noch ich und du bist noch du. «Sie ließ Chris geschickt aus dem Spiel.
«Ah, ja, es war. einmalig. «Er hoffte, sie glaubte ihm, daß er nur sie liebte. Er hatte keine Augen für andere Frauen.
«Das kann man wohl sagen. «Sie lachte, und als er einstimmte, fühlte sie sich besser.»Charly, mach dir keine Sorgen. Mir ist nicht bange um dich. Es wird sich alles regeln. Tut's doch immer.«
«Ja, du hast Recht.«
«Du warst noch nicht wieder im Wohnheim?«»Nein, erst nach der Vorlesung. Ich geh rein, als wär nichts gewesen. Warum freiwillig mit was rausrücken? Vielleicht hat keiner gemerkt, daß ich nicht in meinem Zimmer war.«
«Gute Idee. Sag mir Bescheid, wie's gelaufen ist. Nein, das wird nicht gehn, weil du von der Halle aus anrufst.«
«Ich sag dir Bescheid. Hey, ich bin nicht eine einzige Nacht weggeblieben, ich hab seit meinem ersten Jahr kein Training verpaßt. Die können mich mal.«
«Das wird dein bestes Spiel, Thanksgiving.«
«Meinst du?«
«Hab ich dir nicht gesagt, daß ich hellsehen kann?«
«Da bin ich aber froh. Ich muß los. Vic, ich liebe dich. Du sollst wissen, daß ich dich liebe.«
«Ich liebe dich auch. Mach dir keine Sorgen.«
«Okay. Tschüß.«
«Tschüß. «Sie legte auf. Eine leichte Brise zauste die Blätter vor ihrem Fenster wie Federn.
Ein paar feuerrote Ahornblätter trudelten auf den grünen Rasen zwischen die gelben Eichen- und Pappelblätter. Vic öffnete das Fenster und ließ die kühle Luft herein, die erfüllt war vom Geruch des Herbstes. Tante Bunny klagte bitterlich über den Winter und verglich ihn mit dem Tod, aber für Vic enthielt der Winter den Beginn des Lebens. Dieser Beginn war den Blicken verborgen, doch er war da, er wartete.
Wer ein College besuchte, war gewissermaßen ein Samenkorn in der winterlichen Erde, dachte Vic. Alle gossen es, düngten den Boden mit Nährstoffen, warteten auf den Sonnenschein. Beim ersten Examen ließ man den ersten Schößling sprießen. Ein dummes Bild hatte sie da im Kopf, lauter Samenkörner, die in Baretten mit schwingenden Quasten von der Bühne marschierten. Ihr kamen oft komische Bilder in den Sinn. Sie fragte sich, ob der Verstand anderer Leute genauso funktionierte. Sie wollte sie nicht fragen, um es herauszufinden.
Vielleicht war das Aufbaustudium ein Gewächshaus. Dort konnte man noch ein paar Jahre verweilen, bevor man in die Welt hinaus ging. Noch mußte man nicht mit den Elementen ringen. Früher oder später aber mußte der Mensch außerhalb der Universität überleben. Wenn sie Charly heiratete, würde ihr eine Last von der Seele genommen. Sie würde dorthin gehen, wohin er ging. Seine, nicht ihre Karriere würde im Mittelpunkt stehen. Das machte ihr nichts aus, weil sie im vierten Studienjahr noch immer keinen Drang in die eine oder andere Richtung hatte. Sie wußte nur, daß sie im Freien sein wollte.
Und jetzt wußte sie, daß sie Charly nicht heiraten wollte.
Vic ging einer emotionalen Erkenntnis nicht aus dem Weg, aber wie die meisten Menschen brauchte sie normalerweise viel länger, um diese Erkenntnis wahrzunehmen. Sie ging achselzuckend über den Druck seitens ihrer Familie wegen der Heirat hinweg. Für ihre Angehörigen schien es ein fait accompli zu sein. Alles war geregelt, bis auf den eigentlichen Antrag, die eigentliche Trauung. In der Vorstellung ihrer Familie war sie schon verheiratet — so schien es ihr zumindest.
Wäre Chris nicht aufgetaucht, dann hätte sie Charly vermutlich geheiratet. Es wäre das Richtige gewesen. Sie liebte ihn. Aber irgendwo, irgendwann wäre eine Chris in ihr Leben getreten. Und dann?
Trotz der Enge in ihrer Brust, als sie überlegte, was sie zu tun hatte, war sie froh, daß Chris zu keiner anderen Zeit aufgetaucht war. Sie mußte Charly sagen, daß sie ihn nicht heiraten würde; das war vertrackt, da er ihr noch keinen offiziellen Antrag gemacht hatte. Sie mußte ihrer Familie sagen, daß sie nicht heiraten würde und daß sie, wenn sie könnte, Chris heiraten wollte. Sie würde es nicht so direkt formulieren.
Wie macht man das? Wie sagt man es den Leuten?
Jinx hatte Recht, dachte Vic. Die Leute meinen einen zu kennen. Sie gestalten die Zukunft für einen und sind erschüttert, wenn man die Dreistigkeit besitzt, seine Zukunft selbst in die Hand zu nehmen.
Vielleicht war das Leben ein einziger Curve Ball, der hoch ins Seitenaus fliegt. Vic verschränkte die Arme. Ja, vielleicht war es so, aber zumindest stand sie beim Pitchen am Schlagmal und saß nicht auf der Tribüne. Lieber daneben schlagen als bloß rumsitzen und zugucken. Noch lieber den verdammten Ball auf die billigen Plätze schlagen, pfeif auf den Curve Ball.
Eine Energiewoge durchflutete sie. Es war ihr Leben.
Sie hörte ein Poltern im Treppenhaus und wendete den Blick von den Bäumen ab. Die Tür flog auf.
«Komm, laß uns türmen!«, verkündete Chris beim Hereinkommen. Ihre Lippen glänzten.
Vic umarmte sie.»Chris, ich meine, wir müssen die Suppe auslöffeln, die wir uns eingebrockt haben.«
«Fütter mich, ich mach den Mund auf«, antwortete Chris und gab ihr einen Kuß.
«Woher weißt du, daß ich dich richtig füttern kann?«
«Ich vertraue dir.«
Vic dachte kurz darüber nach und stellte fest, daß sie sich selbst vertraute. Sie würde es hinter sich bringen. Sie würde sie beide durch diese Geschichte bringen und Charly ebenfalls, hoffte sie.»Als Erstes muß ich Charly sagen, daß ich ihn nicht heiraten kann. Als Zweites muß ich meiner Familie sagen, daß ich ihn nicht heiraten kann. Als Drittes muß ich ihnen sagen, daß ich dich liebe.«
Chris umarmte sie ganz fest.»Sie werden mich nicht mehr sehen wollen.«
«Na schön, dann werden sie mich auch nicht mehr sehen. «Vic küßte sie auf die Wange.»Sie werden's verkraften. Zumindest glaube ich, daß sie's verkraften werden, wenn der Schock sich gelegt hat. Gott, ich will es hoffen.«
Sie sahen beide aus dem Fenster; der Wind wehte jetzt ein bißchen stärker.
«Ich mag meine Familie nicht besonders«, sagte Chris.»Ich weiß nicht, wann ich es ihnen sagen werde. Ich bin kein Feigling. Ich oute mich, falls es das ist, was wir jetzt tun. Aber ich weiß nicht, wann ich es ihnen sagen werde. Ist das Betrug?«
«Wenn du wartest, bis ich dreißig bin, dann schon. «Vic lachte.
Chris legte ihren Arm um Vics Taille. Ein leuchtend rotes Blatt wehte an die Fensterscheibe und blieb dort haften.
«Also, gestern Nacht.«
«Äh-hm.«
«Wirst du es wieder tun? Ich weiß, daß du mit Charly geschlafen hast. Ich hab nie was gesagt. Ich wollte es, aber er kam halt zuerst, ich meine, er kannte dich zuerst, und du liebst ihn. Aber wirst du weiter mit ihm schlafen?«
«Nein.«
Chris sackte vor Erleichterung zusammen.»Gott, bin ich froh. «Dann erstarrte sie kurz.»Wirst du's vermissen?«
«Sex mit Charly?«Vic zuckte mit den Achseln.»Nein. Aber wenn er aus meinem Leben geht — und er hat wohl allen Grund dazu — , dann werde ich ihn vermissen. Ich liebe ihn, Chris, ehrlich. Aber nicht so, wie er geliebt werden muß und nicht so, wie ich dich liebe. Was ich für dich fühle, hab ich noch nie für jemanden empfunden. Ich wußte nicht mal, daß es solche Gefühle gibt. Es ist wie. ein Tornado. «Sie zuckte mit den Achseln.»Nicht sehr originell, aber etwas Mächtiges, Unkontrollierbares, eine Naturgewalt.«
«Bei mir auch. «Chris machte eine lange Pause.»Es würde mich umbringen, wenn du ohne mich mit ihm schlafen würdest.«
«Möchtest du, daß wir alle zusammen schlafen?«
Es folgte eine noch längere Pause.»Na ja, es war wüst, einfach. wüst. Aber ich muß das nicht noch mal haben. «Sie hob die Hand.»Ich bereue es aber keinesfalls. Komisch, irgendwie fühle ich mich dir dadurch näher.«
«Mir geht's genauso. «Vic hatte nicht den Wunsch, das zu ergründen. Es zu fühlen genügte.
«Wie's wohl für ihn sein mag?«
«Verwirrend vielleicht. «Vic dachte an sein warmes Lächeln, seine tiefe Stimme.
«Weiß er von uns?«
«Keine Ahnung. «Vic meinte, daß er es jetzt wohl wußte, aber sie war sich nicht ganz sicher.
«Der Ärmste. «Chris betrachtete ein anderes Blatt, das vom Wind an die Fensterscheibe gedrückt wurde.
«Er ist ein Schatz, nicht?«, sagte Vic.
Chris nickte und meinte dann:»Aber ich muß gestehen, daß ich dich für mich will, auch wenn's ihm wehtut. Ich will niemanden verletzen, aber es ist nun mal passiert.«
«Ich denke, daß vieles einfach passiert. Leute, die denken, sie können das Leben lenken, verzapfen Bockmist. Oberbockmist.«
«Wann wirst du's ihm sagen?«
«Nach Thanksgiving. Es wäre echt beschissen von mir, ihm vor seinem letzten großen Spiel die Tour zu vermasseln. «Vic überlegte einen Moment.»Ich hoffe, es wird das beste Spiel seines Lebens. Ich hoffe, er kriegt Angebote als Profispieler. Wäre wunderbar, wenn sich was ergeben würde, das es irgendwie wettmacht, wenn ich ihm sagen muß, daß wir nicht in den Sonnenuntergang reiten werden.«
Chris seufzte.»Ich wünsche trotzdem, wir könnten türmen.«
«Vielleicht tun wir's ja. hinterher. Vielleicht jagen sie uns aus der Stadt. Obwohl, ich denke nicht dran, den Leuten den Gefallen zu tun und die Kurve zu kratzen. Ich hab nichts Unrechtes getan. Du auch nicht.«
Chris lachte.»Ich bin eine Geliebte, keine Kämpferin.«
«Du wirst vielleicht beides sein müssen. «Vic legte den Finger an die Fensterscheibe, als würde sie das Ahornblatt berühren.»Weißt du, ich hab nie über Lesbischsein nachgedacht. Tu ich eigentlich immer noch nicht. Aber ich habe über mein Leben nachgedacht — daß es mein Leben ist, dein Leben. Niemand sagt mir, was ich tun soll. Komisch, Chris — ich hab nie richtig kämpfen müssen. Ich bin weiß. Wir sind nicht arm. Na ja, jetzt sind wir's, aber du weißt, was ich meine. Ich nehme an, weil ich eine Frau bin, sind mir Grenzen gesetzt, aber noch bin ich nicht an sie gestoßen. Vielleicht kommt das erst, wenn man da draußen ist und versucht Arbeit zu finden. Keine Ahnung. Ich hab mich nie bedrängt gefühlt, was anderes zu sein als ich selbst. Ich hab mich nie aus dem Tritt gefühlt.«
«Wir sind es jetzt. Wir kochen nicht anderer Leute Süppchen. Du hast gesagt, wir müssen die Suppe auslöffeln, die wir uns eingebrockt haben. Wir essen nicht mal am selben Tisch wie die meisten.«
Vics Miene hellte sich auf.»Ich weiß, und es ist fantastisch. Ich fühle mich so frei. Es ist einfach fantastisch.«
«Du bist fantastisch.«
«Schmeichlerin. Ich weiß nicht, warum mir so ist, aber es ist so. Mir ist, als könnte ich fliegen.«