I


«Sehr freundlich von Ihnen, dass Sie gekommen sind», sagte Maude mit ihrer rauen Stimme, als sie Mr. Entwhistle auf dem Bahnsteig in Bayham Compton begrüßte. «Ich versichere Ihnen, Timothy und auch ich sind Ihnen sehr dankbar. Sie dürfen nicht vergessen, Richards Tod war für Timothy das Schlimmste, was passieren konnte.»

Bislang hatte Mr. Entwhistle den Tod seines Freundes noch nicht von dieser Warte aus betrachtet, aber für Mrs. Timothy Abernethie war das die einzige Warte, von der aus sie ihn sehen konnte. Das wurde ihm nun klar.

Während sie zum Ausgang schritten, vertiefte Maude das Thema.

«Anfangs war es nur ein entsetzlicher Schock - Timothy hat sehr an Richard gehangen, wissen Sie. Aber dann hat Timothy leider angefangen, ganz allgemein über den Tod nachzudenken. Gebrechlich, wie er ist, macht er sich doch ziemlich Sorgen um seine Gesundheit. Ihm ist klar geworden, dass er als Einziger von den Brüdern noch am Leben ist - und dann fing er an davon zu reden, dass er als Nächster abtreten würde ... dass es nicht mehr lange dauern würde - alles sehr morbid. Das habe ich ihm auch gesagt.»

Sie verließen den Bahnhof, und Maude führte den Notar zu einem klapprigen Wagen, der fast schon musealen Wert besaß.

«Entschuldigen Sie die alte Schrottkiste», meinte sie. «Wir wollen uns seit Jahren ein neues Auto kaufen, aber bis jetzt konnten wir es uns einfach nicht leisten. Wir haben schon zweimal einen neuen Motor einbauen lassen müssen - alte Autos brauchen wirklich viele Reparaturen. Ich hoffe, er springt an», fügte sie hinzu. «Manchmal muss man ihn ankurbeln.»

Sie betätigte mehrmals den Anlasser, der aber nur träge surr-te. Mr. Entwhistle hatte in seinem ganzen Leben noch nie einen Wagen angekurbelt und ihm wurde etwas bänglich. Aber Mau-de stieg beherzt aus, steckte die Kurbel in die vorgesehene Öffnung, und mit zwei heftigen Umdrehungen erwachte der Motor zum Leben. Ein Glück, dachte Mr. Entwhistle, dass Maude so kräftig gebaut war.

«Das wäre geschafft», sagte sie. «Die alte Rostlaube hat in letzter Zeit viel Scherereien gemacht. Auf dem Heimweg von der Beerdigung hat sie mich sogar ganz im Stich gelassen. Ich musste drei Kilometer zur nächsten Werkstatt gehen, und die Mechaniker dort waren nicht gerade Könner ihres Fachs - eine einfache Dorfwerkstatt eben. Ich musste im Gasthaus übernachten, während sie daran herumgebastelt haben. Das hat Timothy natürlich noch zusätzlich aufgeregt. Ich habe ihn angerufen und ihm gesagt, dass ich erst am nächsten Tag heimkommen würde. Da war er völlig aus dem Häuschen. Man versucht ja, so viel wie möglich von ihm fern zu halten, aber bei manchen Dingen geht es nicht - der Mord an Cora, zum Beispiel. Ich musste Dr. Barton holen, damit er ihm ein Beruhigungsmittel gibt. Sachen wie ein Mord sind einfach zu viel für jemanden, der so krank ist wie Timothy. Aber Cora war ja wohl immer schon ziemlich dumm.»

Diese Bemerkungen nahm Mr. Entwhistle schweigend zur Kenntnis. Ihm war nicht ganz klar, was Maude damit sagen wollte.

«Ich glaube, ich hatte Cora seit unserer Hochzeit nicht mehr gesehen», fuhr Maude fort. «Damals wollte ich Timothy nicht direkt sagen, dass ich seine jüngste Schwester für verrückt hielt, aber gedacht habe ich es mir. Sie hat schon damals die ungeheuerlichsten Sachen gesagt! Man wusste nie, ob man sich nun darüber aufregen oder lachen sollte. Wahrscheinlich hat sie ihr Leben lang in einem Wolkenkuckucksheim gelebt - eine Welt voller Melodramen und wirrer Fantasieträume. Und jetzt hat sie den Preis dafür bezahlen müssen, die arme Seele. Hat sie Protegés gehabt?»

«Protegés? Was meinen Sie damit?»

«Nur ein Gedanke. Einen jungen Maler oder Musiker, den sie ausgehalten hat - etwas in der Art. Jemand, den sie an dem Tag ins Haus gelassen und der sie dann ermordet hat, um an ihr Bargeld zu kommen. Ein Halbstarker vielleicht - in dem Alter sind sie manchmal etwas überdreht, vor allem, wenn sie zum neurotischen Künstlertyp gehören. Ich meine, es ist doch sehr merkwürdig, dass jemand am helllichten Nachmittag bei ihr einbricht und sie umbringt. Wenn man schon in ein Haus einbricht, tut man das doch nachts.»

«Nachts wären zwei Frauen im Haus gewesen.»

«Ach ja, natürlich, die Hausdame. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand eigens wartet, bis sie aus dem Haus ist, und dann einbricht und Cora überfällt. Welchen Sinn sollte das haben? Wer immer es war, kann doch nicht davon ausgegangen sein, dass sie viel Bargeld hatte oder sonst was Wertvolles, und es muss doch auch Gelegenheiten gegeben haben, wenn beide Frauen außer Haus waren. Dann wäre es viel einfacher gewesen. Es ist doch dumm, einen Mord zu begehen, wenn es nicht unbedingt nötig ist.»

«Ihrer Ansicht nach war der Mord an Cora unnötig?»

«Er kommt mir einfach sinnlos vor.»

Sollte ein Mord sinnvoll sein, fragte Mr. Entwhistle sich. Rein logisch gesehen lautete die Antwort: Ja. Aber viele Morde waren sinnlos. Wahrscheinlich, überlegte Mr. Entwhistle, hing es vom Wesen des Mörders ab.

Was wusste er überhaupt von Mördern und ihren Gedankengängen? Sehr wenig. Seine Kanzlei hatte keine Gewaltverbrechen übernommen, und er selbst hatte sich nie mit Kriminologie befasst. Soweit er es beurteilen konnte, wurden die unterschiedlichsten Typen von Menschen zum Mörder. Einige aus reiner Eitelkeit, andere aus Machtgier. Manche, wie Seddon, waren Geizhälse gewesen und wieder andere fühlten sich unwiderstehlich zu Frauen hingezogen, wie Smith und Rowse. Und einige, Armstrong zum Beispiel, waren ausgesprochen angenehme Zeitgenossen gewesen. Edith Thompson hatte in einer Welt gewalttätiger Fantasie gelebt, Schwester Waddington hatte ihre betagten Patienten mit geschäftsmäßiger Nonchalance ins Jenseits befördert.

Maudes Stimme unterbrach seinen Gedankengang.

«Wenn ich nur die Zeitung vor Timothy verstecken könnte! Aber er besteht darauf, sie zu lesen, und dann regt er sich natürlich über alles auf. Ihnen ist doch klar, Mr. Entwhistle - es kommt nicht in Frage, dass Timothy zur gerichtlichen Untersuchung fährt. Wenn nötig, kann Dr. Barton ihm ein Attest ausstellen.»

«Darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.»

«Gott sei Dank!»

Sie bogen durch das Tor von Stansfield Grange und fuhren eine verwahrloste Auffahrt hinauf. Früher einmal war das Anwesen recht hübsch gewesen, aber jetzt machte es einen ungepflegten und trostlosen Eindruck.

«Während des Kriegs ist alles verkommen», sagte Maude seufzend. «Beide Gärtner wurden einberufen. Und jetzt haben wir nur einen alten Mann, der nicht allzu viel taugt. Die Löhne sind explodiert. Ich muss sagen, es ist eine Erleichterung zu wissen, dass wir jetzt ein bisschen Geld haben. Wir lieben das Haus und den Garten. Ich hatte schon befürchtet, wir würden es verkaufen müssen ... Das habe ich Timothy natürlich nicht gesagt, das hätte ihn nur wieder aufgeregt - schrecklich aufgeregt.»

Vor dem Portikus eines alten Hauses im georgianischen Stil, das dringend einen Anstrich brauchte, kam der Wagen zum Stehen.

«Kein Personal.» Maudes Ton klang bitter, als sie dem Notar zur Haustür vorausging. «Nur zwei Frauen, die ab und zu kommen. Bis vor einem Monat hatten wir eine, die im Haus wohnte - ein bisschen bucklig war sie und schrecklich kurzatmig und nicht gerade die Schlaueste, aber es war einfach gut zu wissen, dass jemand da war - und ein einfaches Essen konnte sie auch recht ordentlich kochen. Und stellen Sie sich vor, sie hat gekündigt und ist zu einer Frau gegangen, die sechs Pekinesen hat - das Haus ist größer als unseres und macht mehr Arbeit -, weil sie Wauwaus so liebt, sagte sie. Wauwaus, ich bitte Sie! Machen nichts als Dreck und hinterlassen überall ihre Häufchen. Dienstmädchen sind einfach schwachsinnig! Ja, und wenn ich jetzt nachmittags außer Haus gehen muss, ist Timothy ganz allein, und wer soll ihm zu Hilfe kommen, wenn ihm etwas passiert? Ich muss immer das Telefon in seine Reichweite stellen, neben seinen Sessel, damit er Dr. Barton anrufen kann, sobald ihm unwohl ist.»

Maude führte ihn ins Wohnzimmer, wo vor dem Kamin der Tisch für den Nachmittagstee gedeckt war. Nachdem sie Mr. Entwhistle dort hatte Platz nehmen lassen, verschwand sie im hinteren Teil des Hauses. Einige Minuten später kehrte sie mit einer Teekanne und einem silbernen Wasserkessel zurück und machte sich daran, Mr. Entwhistles Bedürfnisse zu befriedigen. Zum Tee gab es einen frisch gebackenen Kuchen und süße Brötchen.

«Was ist mit Timothy?», erkundigte sich Mr. Entwhistle.

Maude erklärte forsch, sie habe ihm seinen Tee auf dem Zimmer serviert, bevor sie zum Bahnhof gefahren sei.

«Mittlerweile wird er von seinem Nachmittagsschlaf aufgewacht sein», fuhr sie fort. «Jetzt müsste er Sie empfangen können. Aber bitte achten Sie darauf, ihn nicht allzu sehr aufzuregen.»

Mr. Entwhistle versicherte ihr, er werde größte Vorsicht walten lassen.

Als er seine Gastgeberin im flackernden Licht der Flammen betrachtete, empfand er unvermittelt Mitleid mit ihr. Diese kräftige, tüchtige, nüchterne Frau war voller Lebenskraft und gesundem Menschenverstand, und doch war sie in einer Hinsicht so verletzlich, dass sie fast erbarmenswert wirkte. Die Liebe, die sie für ihren Mann empfand, war Mutterliebe, ging Mr. Entwhistle auf. Maude Abernethie hatte keine Kinder bekommen, und doch war sie eine Frau, die für die Mutterschaft wie gemacht schien. Ihr gebrechlicher Ehemann war zu ihrem Kind geworden, das sie beschützen, umsorgen, hegen und pflegen musste. Und da sie die Stärkere der beiden war, hatte sie ihn unbewusst vielleicht gebrechlicher gemacht, als es sonst der Fall gewesen wäre.

«Arme Mrs. Tim», dachte Mr. Entwhistle.

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