I


Der alte Lanscombe schlurfte von Zimmer zu Zimmer und zog die Rouleaus hoch. Ab und zu spähte er zwischen zusammengekniffenen wässrigen Augen zum Fenster hinaus.

Bald würden sie von der Beerdigung zurückkommen. Seine taperigen Schritte beschleunigten sich ein wenig. Es gab so viele Fenster.

Enderby Hall war ein weitläufiges viktorianisches Anwesen im neogotischen Stil. Die Vorhänge waren aus schwerem, längst verblasstem Brokat oder Samt, in manchen Zimmern bespannte noch verblichene Seide die Wände. Im grünen Salon warf der Butler einen Blick auf das Gemälde, das über dem Kamin hing; es zeigte den alten Cornelius Abernethie, der Enderby Hall dereinst hatte erbauen lassen. Sein dunkler Bart ragte angriffslustig vom Kinn ab, seine Hand ruhte auf einem Globus - ob auf Wunsch des Porträtierten hin oder vom Maler als symbolischer Blickfang gedacht, wusste niemand mehr zu sagen.

Ein sehr beeindruckender Mann, dachte der alte Lanscombe immer und war froh, dass er nie persönlich seine Bekanntschaft geschlossen hatte. Sein gnädiger Herr war Mr. Richard gewesen, und ein sehr guter Herr war er gewesen. Ganz plötzlich hatte er das Zeitliche gesegnet, doch, ganz plötzlich, obwohl der Arzt in letzter Zeit immer häufiger nach Enderby hatte kommen müssen. Aber der gnädige Herr hatte sich nie vom Schock über den Tod des jungen Mr. Mortimer erholt. Kopfschüttelnd tappelte der alte Mann durch die Verbindungstür ins weiße Boudoir. Entsetzlich war das gewesen, eine regelrechte Tragödie. So ein feiner, aufrechter junger Herr, und so lebenskräftig und gesund dazu. Dass ihm ein solches Unglück passieren würde, hätte man nie für möglich gehalten. Jammervoll war das gewesen, wirklich jammervoll. Und dann Mr. Gordon, der im Krieg gefallen war. Eins war zum anderen gekommen. Aber so ging das Leben heutzutage. Das war einfach zu viel gewesen für den gnädigen Herrn. Obwohl er vor einer Woche noch fast der Alte gewesen war.

Das dritte Rouleau im weißen Boudoir ließ sich nicht hochziehen, wie es sollte. Lanscombe konnte es ein Stück bewegen, dann klemmte es. Die Federn waren ausgeleiert - das war’s -, und die Rouleaus waren uralt, wie alles hier im Haus. Und heutzutage war es unmöglich, die alten Sachen reparieren zu lassen. Zu altmodisch, sagten die Handwerker dann immer und schüttelten den Kopf, anmaßend, wie es ihre Art war - als ob die alten Sachen nicht viel besser wären als die neuen! Er konnte ein Lied davon singen. Dies neue Zeug war Schund, zumindest das meiste davon, ging einem unter den Händen kaputt. Schäbiges Material, schäbig verarbeitet. O ja, er konnte ein Lied davon singen.

Mit diesem Rouleau würde er nicht weiterkommen, wenn er nicht die Leiter holte. Aber mittlerweile stieg er nicht mehr gern auf die Leiter, dann wurde ihm immer schwummerig. Er würde das Rouleau einfach unten lassen. Es war sowieso gleichgültig, denn das weiße Boudoir ging nicht nach vorne hinaus, wo die Leute das Rouleau sehen würden, wenn sie von der Beerdigung zurückkamen - und überhaupt wurde der Raum gar nicht mehr benutzt. Es war ein Damenzimmer, und in Enderby gab es schon lange keine Herrin mehr. Ein Jammer, dass Mr. Mortimer nie geheiratet hatte. Immerzu war er zum Fischen nach Norwegen gefahren oder zum Jagen nach Schottland und dann zu diesem neumodischen Wintersport in die Schweiz, anstatt eine nette junge Dame zu heiraten und sich häuslich niederzulassen, mit Kindern, die durchs Haus wuselten. Es war lange her, dass irgendwelche Kinder durchs Haus gelaufen waren.

Lanscombes Gedanken wanderten weit zurück zu einer Zeit, die ihm klar und deutlich vor Augen stand - viel klarer und deutlicher als die letzten zwanzig Jahre, die alle verschwam-men und durcheinander wirbelten, so dass er gar nicht mehr richtig sagen konnte, welche Herrschaften gekommen und welche gegangen waren oder wie sie überhaupt ausgesehen hatten. Aber an die alten Zeiten erinnerte er sich noch sehr gut.

Mr. Richard war zu seinen jüngeren Geschwistern fast wie ein Vater gewesen. Vierundzwanzig war er gewesen, als sein Vater die Augen geschlossen hatte, und er hatte sich sofort ins Geschäft gestürzt, war jeden Tag pünktlich auf die Minute aus dem Haus gegangen, hatte auf dem Anwesen alles weitergeführt wie bisher und so prachtvoll, wie man es sich nur wünschen konnte. Ein sehr glückliches Haus war es gewesen, mit all den heranwachsenden Damen und Herren. Natürlich, hin und wieder hatte es auch Streit gegeben, die Gouvernanten hatten ihre liebe Mühe. Farblos waren sie, diese Gouvernanten; Lanscombe hatte immer nur Verachtung für sie empfunden. Aber die jungen Damen waren sehr temperamentvoll gewesen. Vor allem Miss Geraldine. Und Miss Cora auch, obwohl die viel jünger war. Und jetzt war Mr. Leo tot, und Miss Laura war auch gestorben. Mr. Timothy war invalid, wirklich eine schlimme Sache. Und Miss Geraldine war irgendwo im Ausland gestorben. Und Mr. Gordon im Krieg gefallen. Mr. Richard, obwohl der Älteste der Geschwister, hatte sie alle überlebt - na ja, nicht ganz, denn Mr. Timothy lebte ja noch, und auch die kleine Miss Cora, aber die hatte diesen abscheulichen Pinselkünstler geheiratet. Fünfundzwanzig Jahre lang hatte er sie nicht gesehen. Als sie mit dem Kerl weggegangen war, war sie ein hübsches junges Ding gewesen, und jetzt hätte er sie beinahe nicht wieder erkannt, so korpulent war sie geworden -und so exzentrisch in diesem Kleid! Ihr Mann hatte aus Frankreich gestammt, ein Franzose, oder zumindest ein halber Franzose - und was man davon zu halten hatte, wusste man ja. Aber Miss Cora war auch immer eine etwas - nun ja, eine schlichte Natur gewesen. Die kamen in jeder Familie vor.

Aber sie hatte ihn sofort wieder erkannt. «Da ist ja Lanscom-be!», hatte sie gesagt und sich offenbar wirklich gefreut, ihn zu sehen. Ach ja, damals hatten sie ihn alle gern gemocht. Bei Abendgesellschaften waren sie immer zu ihm in die Küche hinuntergeschlichen, und er hatte ihnen von der Götterspeise und der Charlotte Russe gegeben, wenn die Schüsseln aus dem Esszimmer zurückgetragen wurden. Sie hatten den alten Lans-combe alle gekannt, aber heute gab es praktisch niemanden mehr, der sich an ihn erinnerte. Jetzt gab es nur das junge Volk, das er nicht auseinander halten konnte und das in ihm einfach einen alten Buder sah, der fast schon zum Inventar gehörte. Ein Haufen Fremder, hatte er gedacht, als sie sich vor der Beerdigung im Haus eingefunden hatten - und obendrein ein ziemlich verwahrloster Haufen Fremder.

Aber nicht Mrs. Leo - die war anders. Sie und Mr. Leo waren nach ihrer Heirat häufiger hier gewesen. Mrs. Leo war eine feine Dame - eine richtige Dame. Sie trug anständige Kleider, hatte eine richtige Haarfrisur und sah aus, wie es sich gehörte. Und der gnädige Herr hatte sie immer gern gehabt. Ein Jammer, dass sie und Mr. Leo nie Kinder bekommen hatten ...

Lanscombe fuhr zusammen. Was dachte er sich bloß dabei, hier rumzustehen und den alten Zeiten nachzuhängen, wo es so viel zu tun gab? Die Rouleaus im Erdgeschoss waren alle offen, und Janet war auf seine Anweisung hin nach oben gegangen, um die Schlafzimmer herzurichten. Er, Janet und die Köchin waren zum Trauergottesdienst in der Kirche gewesen, aber anschließend nicht mit ins Krematorium gefahren, sondern gleich ins Haus zurückgekehrt, um die Rouleaus hochzuziehen und das Mittagessen vorzubereiten. Natürlich wurde nur kalt serviert: Schinken, Hühnchen, Zunge und Salat. Und hinterher kaltes Zitronensoufflé und Apfelkuchen. Vorneweg eine heiße Suppe - er sollte lieber mal nachsehen, ob Marjorie schon so weit war, dass sie gleich serviert werden könnte, denn die Gäste würden in ein oder zwei Minuten bestimmt hier sein.

Im schlurfenden Trab verließ er den Raum. Dabei streifte sein Blick geistesabwesend das Gemälde, das hier über dem Kamin hing - das Gegenstück zum Porträt im grünen Salon. Das Bild brachte den weißen Satin und die Perlen gut zur Geltung, aber die menschliche Gestalt, die das alles trug, war nicht annähernd so eindrucksvoll wie die Person auf dem anderen Gemälde. Nichtssagendes Gesicht, kleiner Mund, Mittelscheitel. Eine bescheidene, unauffällige Frau. Das einzige wirklich Bemerkenswerte an Mrs. Cornelius Abernethie war ihr Name gewesen - Coralie.

Coral Hühneraugenpflaster und die dazugehörigen Fußpflegemittel von Coral waren auch nach über sechzig Jahren seit der Firmengründung noch immer ein Renner. Ob Coral Hühneraugenpflaster je besonders wirksam gewesen waren, konnte niemand sagen - aber sie hatten Anklang beim Publikum gefunden und so den Grundstein zu diesem neogotischen Palast gelegt, zu den weitläufigen Gärten und dem Vermögen, das sieben Söhnen und Töchtern ein beträchtliches jährliches Einkommen gesichert und Richard Abernethie ermöglicht hatte, vor drei Tagen als sehr wohlhabender Mann zu sterben.

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