VIERZEHNTES KAPITEL


«Ich bin Ihnen sehr verbunden», sagte Hercule Poirot zu Janet. «Sie waren wirklich zu freundlich.»

Janet verließ den Raum, das Gesicht finster verzogen, die Lippen säuerlich zusammengekniffen. Diese Ausländer! Die Fragen, die sie stellten! Die Unverschämtheit! Es war ja gut und schön, dass er sagte, er sei ein Spezialist für nicht diagnostizierte Herzleiden wie dasjenige, an dem Mr. Abernethie gelitten haben musste. Das stimmte wohl auch - der gnädige Herr war ja wirklich sehr plötzlich gestorben und sein Hausarzt war überrascht gewesen. Aber was hatte ein ausländischer Arzt darin herumzuschnüffeln?

Und es war ja gut und schön, dass Mrs. Leo gesagt hatte: «Bitte beantworten Sie die Fragen, die Monsieur Pontarlier Ihnen stellt. Er stellt sie aus gutem Grund.»

Fragen, immer nur Fragen. Manchmal seitenweise Fragebögen, die man nach bestem Wissen und Gewissen ausfüllen musste - wieso wollte die Regierung oder sonst jemand alles über das Privatleben von Leuten wissen? Und bei der Volkszählung hatten sie sie nach ihrem Alter gefragt - einfach dreist war das. Sie hatte es ihnen auch nicht gesagt. Fünf Jahre abgezogen, das hatte sie. Warum auch nicht? Wenn sie sich wie vierundfünfzig fühlte, dann würde sie sich auch als vierundfünfzig ausgeben.

Zumindest hatte Monsieur Pontarlier sie nicht nach ihrem Alter gefragt. Der hatte wenigstens ein bisschen Anstand. Nur Fragen über die Medikamente, die der gnädige Herr eingenommen hatte und wo sie aufbewahrt wurden und ob er möglicherweise zu viel davon genommen haben könnte, wenn er sich nicht ganz auf dem Damm fühlte - oder wenn er glaubte, sie vergessen zu haben. Als ob sie das wissen würde - der gnädige Herr hatte doch immer genau gewusst, was er tat! Und dann die Frage, ob von den Medikamenten vielleicht noch welche im Haus wären. Natürlich waren sie schon längst im Mülleimer gelandet. Herzleiden, und dann noch so ein langes Wort hatte er verwendet. Diesen Ärzten fiel doch immer wieder was Neues ein. Wie sie dem alten Rogers neulich sagten, er hätte eine Scheibe oder so was im Rücken. Dabei war’s einfach nur ein Hexenschuss gewesen, mehr nicht. Ihr Vater war Gärtner gewesen, und der hatte auch immer einen Hexenschuss bekommen. Ärzte!

Der selbst ernannte Mediziner ging seufzend ins Erdgeschoss und begab sich auf die Suche nach Lanscombe. Er hatte von Janet wenig erfahren, aber etwas anderes hatte er im Grunde auch nicht erwartet. Eigentlich hatte er nur die Informationen, die sie ihm widerstrebend gegeben hatte, mit denen vergleichen wollen, die er von Helen Abernethie erhalten hatte und die aus derselben Quelle stammten. Allerdings hatte Janet sie Mrs. Leo weitaus freimütiger gegeben, da die Haushälterin der Meinung war, diese sei durchaus befugt, solche Fragen zu stellen. Janet hatte sich sogar mit Eifer über die letzten Lebenswochen des gnädigen Herrn ausgelassen. Krankheit und Tod waren Themen ganz nach ihrem Herzen.

Doch, dachte Poirot, er hätte sich auf die Informationen verlassen können, die Helen für ihn herausgefunden hatte. Im Grunde hatte er das auch getan. Aber es lag in seinem Wesen, niemandem zu trauen, bis er diese Person selbst überprüft hatte, und im Verlauf der Jahre war diese Vorsicht zur Gewohnheit geworden.

Auf jeden Fall gab es nur wenige und völlig unzureichende Hinweise. Letztlich liefen sie darauf hinaus, dass Richard Abernethie Vitaminöl-Kapseln verschrieben bekommen hatte und dass sie in einem großen Gefäß aufbewahrt wurden, das zum Zeitpunkt seines Todes fast leer war. Jeder, der es darauf angelegt hätte, hätte eine oder mehrere dieser Kapseln mit einer Spritze präparieren und sie nach unten ins Glas geben können, so dass sie erst einige Wochen später - nachdem diese Person das Haus verlassen hatte - eingenommen würden. Es war auch möglich, dass diese Person am Tag vor Richard Abernethies Tod ins Haus geschlichen war und die Kapsel dann präpariert hatte, oder auch - und das war noch wahrscheinlicher - die Schlaftabletten in dem Fläschchen neben dem Bett durch etwas anderes ersetzt hatte. Denkbar war auch, dass diese Person etwas ins Essen getan hatte.

Über die Möglichkeiten hierfür hatte Hercule Poirot sich selbst Klarheit verschafft. Die vordere Eingangstür war zwar immer verschlossen, aber es gab einen Seiteneingang, durch den man in den Garten gelangte und der erst abends abgesperrt wurde. Um etwa Viertel nach eins, als die Gärtner Mittagspause machten und sich der ganze Haushalt im Esszimmer versammelte, war Poirot von der Straße in den Garten gegangen, durch die Seitentür ins Haus gelangt und leise die Treppe zu Richard Abernethies Schlafzimmer hinaufgestiegen, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Dann war er noch durch eine mit grünem Filzstoff verhängte Türöffnung geschlüpft und in die Speisekammer geschlichen. Er hatte zwar aus der Küche am Ende des Gangs Stimmen gehört, aber niemand hatte ihn gesehen.

Ja, das wäre möglich gewesen. Aber war es auch tatsächlich so gewesen? Nichts deutete daraufhin. Dabei suchte Poirot im Grunde nicht nach einem Beweis - er wollte nur feststellen, was rein hypothetisch möglich gewesen wäre. Dass Richard Abernethie ermordet worden war, war eine bloße Vermutung. Beweiskräftige Indizien mussten zwar gefunden werden - aber nur für die Ermordung Cora Lansquenets. Poirot ging es darum, die Menschen zu beobachten, die sich an jenem Tag zur Beerdigung hier getroffen hatten, um sich eine eigene Meinung über sie zu bilden. Er hatte bereits einen Plan, aber zuerst wollte er sich noch einmal mit Lanscombe unterhalten.

Der alte Butler zeigte sich höflich, aber zurückhaltend. Auch wenn sein Unwille nicht so groß war wie Janets, hielt er diesen Parvenü, diesen Ausländer, doch für die Personifizierung des Menetekels. Wo sollte das bloß alles enden?!

Er legte das Leder beiseite, mit dem er gerade liebevoll die versilberte Teekanne poliert hatte, und richtete sich auf.

«Ja, Sir?», sagte er höflich.

Poirot ließ sich betulich auf einem Schemel nieder.

«Mrs. Abernethie hat mir gesagt, Sie hätten gehofft, in das Pförtnerhaus beim nördlichen Tor zu ziehen, wenn Sie Ihren Dienst hier quittierten?»

«In der Tat, Sir. Aber natürlich ist jetzt alles anders. Sobald das Haus verkauft ist ...»

Poirot unterbrach ihn. «Die Möglichkeit bestünde eventuell immer noch. Für die Gärtner gibt es ja die Cottages. Das Pförtnerhaus wird für die Gäste und das Personal nicht benötigt werden. Es wäre denkbar, zu einer Vereinbarung der einen oder anderen Art zu kommen.»

«Vielen Dank, Sir, für das Anerbieten. Aber ich glaube kaum ... Die Mehrzahl der ... Gäste wären Ausländer, nicht wahr?»

«Ja, es werden Ausländer sein. Unter den Menschen, die vom Kontinent nach England geflohen sind, sind einige sehr alt und gebrechlich. Sie haben in ihrer Heimat keine Zukunft, verstehen Sie, denn all ihre Verwandten sind dort umgekommen. Es ist ihnen nicht möglich, hier ihren Lebensunterhalt zu verdienen, wie tatkräftige Männer und Frauen es tun könnten. Gelder sind gesammelt worden und werden von der Organisation, die ich vertrete, verwaltet, um auf dem Land Wohnheime für sie zu errichten. Meines Erachtens eignet sich dieses Anwesen sehr gut für einen solchen Zweck. Der Verkauf ist so gut wie abgeschlossen.»

Lanscombe seufzte. «Sie werden verstehen, dass es für mich traurig ist zu wissen, dass Enderby kein Privathaus mehr sein wird, Sir. Aber ich weiß, die Zeiten haben sich geändert. Aus der Familie könnte niemand es sich leisten hier zu leben - und ich glaube, die jungen Herrschaften würden es auch gar nicht wollen. Personal ist heute schwer zu finden, und wenn doch, ist es teuer und nicht zufriedenstellend. Mir ist durchaus bewusst, dass diese schönen alten Herrenhäuser sich überlebt haben.» Lanscombe seufzte wieder. «Wenn es denn eine ... eine Institution sein muss, dann freue ich mich, dass es eine der Art ist, von der Sie sprechen. Wir hier in England sind verschont worden, Sir, dank unserer Marine und der Air Force und unserer tapferen jungen Männer, und wir haben das Glück, auf einer Insel zu leben. Wenn Hitler hier gelandet wäre, hätten wir alle zu den Waffen gegriffen und ihn verjagt. Meine Augen sind nicht mehr so gut, als dass ich schießen könnte, aber ich hätte eine Mistgabel nehmen können, Sir, und das hätte ich auch getan, wenn es dazu gekommen wäre. Wir haben die vom Unglück Verfolgten immer bereitwillig in unserem Land aufgenommen, Sir, und darauf sind wir stolz. Sie werden auch in Zukunft hier Zuflucht finden.»

«Danke, Lanscombe», sagte Poirot leise. «Der Tod Ihres gnädigen Herrn muss ein schwerer Schlag für Sie gewesen sein.»

«In der Tat, Sir. Ich kannte ihn schon, als er noch ein sehr junger Mann war. Ich habe großes Glück im Leben gehabt, Sir. Es hätte keinen besseren gnädigen Herrn geben können.»

«Ich habe mich mit meinem Freund und ... äh ... Kollegen Dr. Larraby unterhalten. Wir haben uns gefragt, ob Ihr gnädiger Herr am Tag vor seinem Tod vielleicht besonders bekümmert war - aufgrund eines unerfreulichen Gesprächs möglicherweise? Wissen Sie noch, ob er an dem Tag Besuch bekam?»

«Ich glaube nicht, Sir. Ich kann mich an niemanden erinnern.»

«Niemand ist ins Haus gekommen?»

«Der Vikar war am Tag zuvor zum Tee hier. Sonst haben ein paar Nonnen um eine Spende gebeten - und ein junger Mann kam zum rückwärtigen Eingang und wollte Marjorie Bürsten und Topfreiniger verkaufen. Er war sehr hartnäckig. Sonst niemand.»

Auf Lanscombes Gesicht war ein besorgter Ausdruck erschienen. Poirot drang nicht weiter in ihn. Alles, was Lanscombe wusste, hatte er bereits Mr. Entwhistle erzählt. Gegenüber Hercule Poirot würde er weitaus weniger vertrauensselig sein.

Bei Marjorie hingegen hatte Poirot sofort Erfolg gehabt. Marjorie war die Zurückhaltung des treu ergebenen Personals fremd. Sie war eine erstklassige Köchin, und der Weg zu ihrem Herzen ging durch ihre Kochkünste. Poirot hatte sie in ihrer Küche aufgesucht und bestimmte Gerichte mit Sachverstand gerühmt, so dass Marjorie ihn sofort als Seelenverwandten erkannte, der wusste, wovon er sprach. Mühelos fand er heraus, was es am Abend vor Richard Abernethies Tod zu essen gegeben hatte. Marjorie betrachtete die Frage vorwiegend unter dem Aspekt: «Richard Abernethie ist an dem Abend gestorben, an dem ich Schokoladensoufflé gemacht hatte. Ich hatte dafür eigens sechs Eier zusammengespart. Ich bin gut Freund mit dem Milchmann. Ich hab sogar etwas Sahne bekommen, aber bitte fragen Sie mich nicht wie. Es hat Mr. Abernethie sehr gut geschmeckt.» Die übrigen Gänge wurden ebenso detailliert beschrieben. Was vom Esszimmer zurückgetragen wurde, war in der Küche aufgegessen worden. So bereitwillig Marjorie auch redete, Poirot erfuhr nichts wesentlich Neues von ihr.

Nun schlüpfte er in seinen Mantel und band sich zwei Schals um den Hals. Derart gegen die Kühle Nordenglands gewappnet, trat er auf die Terrasse hinaus, wo Helen Abernethie ein paar späte Rosen pflückte.

«Haben Sie etwas Neues herausgefunden?», fragte sie.

«Nein. Aber das hatte ich eigentlich auch nicht erwartet.»

«Ich weiß. Seitdem Mr. Entwhistle mir sagte, dass Sie kommen würden, höre ich mich um, aber ich habe im Grunde nichts erfahren.»

Nach einer Pause fügte sie hoffnungsvoll hinzu: «Vielleicht ist alles doch nur ein Hirngespinst?»

«Der Anschlag mit dem Beil?»

«Ich habe nicht an Cora gedacht.»

«Aber ich denke an Cora. Warum hat jemand es für nötig befunden, sie zu töten? Mr. Entwhistle hat mir erzählt, dass Sie an dem Tag - in dem Augenblick, in dem sie ihre gaffe machte - dass Sie das Gefühl hatten, etwas stimme nicht. Ist das wahr?»

«Ja ... ja, aber ich weiß nicht ...»

Poirot ließ nicht locker.

«In welcher Hinsicht hat etwas nicht gestimmt? War es etwas Unerwartetes? Etwas Überraschendes? Oder ... wie können wir es nennen - ein unbehagliches Gefühl vielleicht? Ein bedrohliches?»

«O nein, nicht bedrohlich. Nur etwas, das nicht ... ach, ich weiß nicht. Ich kann mich nicht erinnern und es war auch nicht wichtig.»

«Aber warum können Sie sich nicht erinnern? Weil etwas anderes passierte, das es Sie vergessen ließ - etwas Wichtigeres?»

«Doch, ja - ich glaube, da haben Sie Recht. Ich denke, es war die Erwähnung von Mord. Das hat alles andere ausgelöscht.»

«War es vielleicht die Reaktion von jemandem auf das Wort »

«Vielleicht ... aber ich glaube nicht, dass ich dabei jemand Bestimmten angesehen habe. Wir haben alle Cora angestarrt.»

«Vielleicht war es etwas, das Sie gehört haben - etwas, das zu Boden fiel . zu Bruch ging .»

Vor Anstrengung, sich zu erinnern, erschienen Falten auf Helens Stirn.

«Nein ... ich glaube nicht ...»

«Nun, eines Tages wird es Ihnen wieder einfallen. Möglicherweise ist es völlig bedeutungslos. Jetzt sagen Sie mir, Madame - wer von den Anwesenden kannte Cora am besten?»

Helen überlegte.

«Wahrscheinlich Lanscombe. Er kannte sie schon als Kind. Janet, das Dienstmädchen, kam erst her, als sie schon verheiratet und weggezogen war.»

«Und außer Lanscombe?»

«Ich denke, das war - ich», meinte Helen nachdenklich. «Maude kannte sie praktisch überhaupt nicht.»

«Also, wenn Sie der Mensch waren, der sie am besten kannte - warum, glauben Sie, hat sie die Frage auf die Art gestellt?»

Helen lächelte.

«Weil das typisch für Cora war.»

«Was ich meine - war es eine reine bêtise? Platzte sie nur einfach ohne nachzudenken heraus mit dem, was ihr gerade durch den Kopf ging? Oder wollte sie maliziös sein - sich einen Spaß daraus machen, die anderen zu erschrecken?»

Helen ließ sich Zeit mit ihrer Antwort.

«Man kann sich bei Menschen nie ganz sicher sein, nicht wahr? Ich wusste nie, ob Cora nur naiv war oder ob sie wie ein Kind Aufsehen erregen wollte. Darauf wollen Sie mit Ihrer Frage doch hinaus, oder?»

«Ja. Ich dachte mir - angenommen, diese Mrs. Cora sagt sich: Wäre das nicht typisch für sie?»

Helen sah ihn zweifelnd an.

«Das ist schon möglich. Als Kind war sie auf jeden Fall sehr spitzbübisch. Aber wieso ist das wichtig?»

«Das würde nur wieder einmal beweisen, wie unklug es ist, über Mord zu scherzen», erwiderte Poirot trocken.

Helen schauderte.

«Die arme Cora.»

Poirot wechselte das Thema.

«Nach der Beerdigung ist Mrs. Timothy Abernethie die Nacht hier geblieben?»

«Ja.»

«Hat sie mit Ihnen darüber geredet, was Cora gesagt hatte?»

«Ja. Sie sagte, das wäre unerhört, typisch Cora!»

«Sie hat die Bemerkung nicht ernst genommen?»

«Nein. Nein, da bin ich mir sicher.»

Das zweite Nein klang in Poirots Ohren ein wenig zögernd. Aber war das nicht immer der Fall, wenn man in Gedanken eine Situation noch einmal durchging?

«Und Sie, Madame - haben Sie sie ernst genommen?»

Helen Abernethie, deren Augen unter den grauen Locken sehr blau und erstaunlich jung wirkten, blieb nachdenklich. «Doch, Monsieur Poirot, ich glaube schon», sagte sie.

«Wegen Ihres Gefühls, dass etwas nicht ganz stimmte?»

«Vielleicht.»

Er wartete auf eine Antwort, aber da sie weiter nichts sagte, fuhr er fort: «Mrs. Lansquenet und ihre Familie waren einander seit vielen Jahren entfremdet?»

«Ja. Keiner von uns konnte ihren Ehemann leiden, und sie war darüber beleidigt, so dass die Entfremdung immer größer wurde.»

«Und dann ist Ihr Schwager völlig unvermutet zu ihr zu Besuch gefahren. Weshalb?»

«Ich weiß es nicht - wahrscheinlich wusste oder ahnte er, dass er nicht mehr lange zu leben hatte, und wollte sich mit ihr versöhnen. Aber das weiß ich wirklich nicht.»

«Er hat es Ihnen nicht gesagt?»

«Mir?»

«Ja. Sie waren doch hier, bei ihm, bevor er zu ihr fuhr. Hat er Ihnen von seinem geplanten Besuch nichts erzählt?»

Poirot vermeinte, plötzlich eine gewisse Reserve zu spüren.

«Er erzählte mir, dass er seinen Bruder Timothy besuchen wollte - und das hat er auch getan. Von Cora sagte er kein Wort. Sollen wir ins Haus gehen? Es wird bald Mittagessen geben.»

Mit den Blumen, die sie gerade gepflückt hatte, ging sie neben ihm her zum Seiteneingang. Als sie ins Haus traten, fragte Poirot: «Sind Sie sicher, absolut sicher, dass Mr. Abernethie während Ihres Aufenthalts hier nichts über ein Mitglied der Familie sagte, das wichtig sein könnte?»

«Sie klingen wie ein Polizist.» Helens Abwehr war jetzt deutlich zu spüren.

«Ich war früher tatsächlich Polizist - vor langer Zeit. Ich habe keinen offiziellen Status, ich habe kein Recht, Sie zu befragen. Aber Sie wollen die Wahrheit herausfinden - das wurde mir zumindest gesagt.»

Sie betraten das grüne Esszimmer. Helen seufzte. «Richard war von der jüngeren Generation enttäuscht», antwortete sie. «Das sind alte Menschen oft. Er hat sich ziemlich abschätzig über sie geäußert, aber da war nichts - nichts, verstehen Sie -, das ein Mordmotiv liefern könnte.»

«Ah», machte Poirot. Helen wählte eine chinesische Vase und begann die Rosen darin anzuordnen. Nachdem sie mit dem Arrangement zufrieden war, sah sie sich nach einem geeigneten Platz für den Strauß um.

«Sie haben ein bewundernswertes Geschick mit Blumen, Madame», sagte Hercule Poirot. «Ich glaube, alles, was Sie in die Hand nehmen, führen Sie mit Perfektion aus.»

«Danke. Ich liebe Blumen sehr. Ich finde, die Rosen würden sich gut auf dem grünen Malachittisch machen.»

Auf diesem Tisch stand ein Strauß Wachsblumen unter einer Glasglocke. Als sie ihn fortnahm, meinte Poirot beiläufig: «Hat irgendjemand Mr. Abernethie erzählt, dass der Ehemann seiner Nichte Susan fast eine Kundin vergiftet hätte, als er ein Rezept zusammenstellte? Oh, pardon!»

Er machte einen Satz nach vorne.

Das viktorianische Gesteck war Helen aus der Hand geglitten, und Poirot war nicht schnell genug. Die Schale fiel zu Boden, die Glasglocke zerbrach. Unmutig verzog Helen das Gesicht.

«Wie unachtsam von mir. Aber den Blumen ist nichts passiert. Die Glasglocke lässt sich ersetzen; ich werde mich darum kümmern. Jetzt stelle ich sie erst einmal in den großen Schrank unter der Treppe.»

Poirot half ihr, die Schale in dem dunklen Schrank zu verstauen, und folgte ihr wieder in den Salon. «Das war meine Schuld», sagte er. «Ich hätte Sie nicht erschrecken dürfen.»

«Was hatten Sie mich gefragt? Ich hab’s vergessen.»

«Ach, es ist nicht nötig, die Frage zu wiederholen. Ich habe sogar selbst vergessen, worum es ging.»

Helen trat zu ihm und legte ihm eine Hand auf den Arm. «Monsieur Poirot, gibt es einen einzigen Menschen, dessen Leben einer näheren Überprüfung standhalten würde? Ist es wirklich nötig, das ganze Leben von Menschen in diese Sache hineinzuziehen, die nichts zu tun haben mit ... mit ...»

«Mit dem Tod von Cora Lansquenet? Ja. Weil man alles in Betracht ziehen muss. Es ist in der Tat wahr - eine alte Weisheit -, dass jeder von uns etwas zu verbergen hat. Das trifft auf alle Menschen zu - vielleicht auch auf Sie, Madame. Aber ich sage Ihnen, man darf nichts außer Acht lassen. Das ist der Grund, warum Ihr Freund Mr. Entwhistle mich aufsuchte. Denn ich bin nicht die Polizei. Ich bin diskret, und was ich erfahre, berührt mich nicht. Aber ich muss es wissen. Und da es hier weniger um Indizien und Beweise geht als vielmehr um Menschen - so befasse ich mich mit den Menschen. Für mich ist es nötig, mit allen Leuten zu reden, die am Tag der Beerdigung hier im Hause waren, Madame. Und es wäre sehr hilfreich - und strategisch befriedigend -, wenn ich das hier tun könnte.»

«Ich fürchte, das wird sich schwer machen lassen ...», ant-wortete Helen bedächtig.

«Nicht so schwer, wie Sie meinen. Ich habe schon einen Plan entworfen. Das Haus, es ist verkauft. Das wird Mr. Entwhistle verkünden. (Entendu, derlei Geschäfte zerschlagen sich manchmal im letzten Moment.) Er wird alle Familienmitglieder einladen, noch einmal herzukommen und aus den Möbeln einige Stücke auszuwählen, bevor der Rest versteigert wird. Für den Zweck wird man sich sicher auf ein Wochenende einigen können.»

Nach einer Pause fuhr er fort: «Sehen Sie, es ist ganz einfach, nicht wahr?»

Helen sah ihn an. Ihre blauen Augen blickten kalt, fast eisig.

«Möchten Sie jemandem eine Falle stellen, Monsieur Poi-rot?»

«Ach, ich wünschte, ich wüsste mehr. Nein, ich habe noch keinen Plan. Aber möglicherweise», fuhr er nachdenklich fort, «gibt es den einen oder anderen Prüfstein .»

«Einen Prüfstein? Woran denken Sie?»

«Ich habe meine Vorgehensweise noch nicht exakt ausgearbeitet. Und auf jeden Fall wäre es besser, wenn auch Sie nichts davon wissen, Madame.»

«Damit Sie auch mich prüfen können?»

«Sie, Madame, Sie sind in die Pläne eingeweiht. Und nun -es gibt eine Sache, die diffizil werden könnte. Die jungen Leute werden, glaube ich, gerne kommen. Aber es könnte sich als schwierig erweisen, nicht wahr, die Anwesenheit von Mr. Timothy Abernethie sicherzustellen. Wie ich gehört habe, verlässt er das Haus nie.»

Auf Helens Gesicht erschien ein Lächeln.

«Ich glaube, Sie haben Glück, Monsieur Poirot. Gestern hat Maude angerufen. Im Augenblick wird das Haus gestrichen, und Timothy setzt der Geruch der Farbe sehr zu. Er sagt, seine Gesundheit leidet darunter. Ich glaube, dass er und Maude sehr gerne herkommen würden - vielleicht sogar für ein oder zwei Wochen. Maude ist immer noch ein bisschen behindert - Sie wissen doch, dass sie sich den Knöchel gebrochen hat?»

«Das wusste ich nicht. Das ist Pech.»

«Zum Glück ist Coras Hausdame bei ihnen, Miss Gilchrist. Offenbar erweist sie sich als wahre Perle.»

«Wie bitte?» Poirot wandte sich abrupt zu Helen um. «Haben sie Miss Gilchrist gebeten, zu ihnen zu kommen? Wer hat den Vorschlag gemacht?»

«Ich glaube, das hat Susan eingefädelt. Susan Banks.»

«Aha», sagte Hercule Poirot in einem Ton, den Helen nicht ganz deuten konnte. «Die kleine Susan hat das also in die Wege geleitet. Sie liebt es sehr, alles zu organisieren.»

«Ich dachte immer, dass Susan ein sehr patentes Mädchen ist.»

«Ja, sie ist sehr patent. Haben Sie gehört, dass Miss Gilchrist knapp dem Tod entronnen ist? Dem Tod durch ein Stück vergifteten Hochzeitskuchen?»

«Nein!» Erschrocken sah Helen auf. «Jetzt, wo Sie das sagen, fällt mir ein, dass Maude am Telefon erwähnte, Miss Gilchrist sei gerade erst aus dem Krankenhaus entlassen worden, aber ich wusste nicht, warum sie überhaupt im Krankenhaus war. Vergiftet? Aber Monsieur Poirot, warum ...?»

«Ist es Ihnen ernst mit dieser Frage?»

«Holen Sie sie her, alle!», sagte Helen mit unvermittelter Heftigkeit. «Finden Sie die Wahrheit heraus! Es darf keinen weiteren Mord mehr geben.»

«Sie unterstützen mich also?»

«Ja, das tue ich.»

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