NEUNZEHNTES KAPITEL


Die Familie verhielt sich sehr höflich gegenüber Monsieur Pontarlier, dem Vertreter der UNARCO. Es war sehr geschickt von ihm gewesen, lediglich die Initialen zu erwähnen. Alle hatten UNARCO als gegeben hingenommen - hatten sogar so getan, als wüssten sie über die Organisation genau Bescheid. Wie sehr es Menschen doch widerstrebte, ihre Unwissenheit einzugestehen! Nur Rosamund war verwundert gewesen. «Aber was ist das denn genau?», hatte sie gefragt. «Ich habe noch nie davon gehört.» Zum Glück war zu dem Zeitpunkt niemand anders im Raum gewesen. Poirot hatte die Organisation mit so gewichtigen Worten beschrieben, dass jeder außer Rosamund sich geschämt hatte zuzugeben, noch nie von dieser bekannten internationalen Institution gehört zu haben. Doch Rosamund hatte nur gesagt «Ach! Schon wieder Flüchtlinge. Ich bin diese ewigen Flüchtlinge leid!», und damit die Ansicht vieler wiedergegeben, die aber meist zu sehr auf Anstand hielten, um ihre Meinung ehrlich zu äußern.

Somit war Monsieur Pontarlier mittlerweile akzeptiert - ein Störenfried zwar, aber belanglos, sozusagen ein fremdländisches Dekorationsobjekt. Allgemein herrschte die Ansicht vor, Helen hatte vermeiden sollen, dass er ausgerechnet an diesem Wochenende nach Enderby kam, aber da er nun einmal hier war, musste man das Beste daraus machen. Zum Glück schien dieser merkwürdige kleine Ausländer kaum Englisch zu sprechen. Oft verstand er nicht, was man ihm sagte, und wenn alle durcheinander redeten, wirkte er völlig verloren. Offenbar galt sein Interesse ausschließlich Flüchtlingen und den Lebensumständen nach dem Krieg, und auf andere Themen erstreckte sich sein Wortschatz nicht. Gewöhnliche Unterhaltung schien ihn in Verwirrung zu stürzen. Mehr oder minder vergessen lehnte sich Hercule Poirot im Sessel zurück, trank von seinem Kaffee und beobachtete alles um sich herum, wie eine Katze das Zwitschern, Auffliegen und Schwirren eines Vogelschwarms verfolgt. Aber noch war die Katze nicht zum Sprung bereit. Nachdem Richard Abernethies Erben vierundzwanzig Stunden lang durchs Haus gestrichen waren und das Inventar begutachtet hatten, machten sie sich nun daran, ihre Wahl zu treffen und sie notfalls mit Zähnen und Klauen zu verteidigen.

Als Erstes sprach man über ein Spode-Service, auf dem gerade der Nachtisch gereicht worden war.

«Ich habe nicht mehr lange zu leben», sagte Timothy mit leiser, melancholischer Stimme. «Und Maude und ich haben keine Kinder. Es lohnt sich kaum, uns noch mit unnützen Gegenständen zu belasten. Aber aus sentimentalen Gründen würde ich doch gerne das alte Nachtisch-Service haben. Ich kenne es noch aus der guten alten Zeit. Mittlerweile ist es natürlich sehr altmodisch, und mir ist klar, dass Nachtisch-Service heute praktisch wertlos sind - aber so ist es nun einmal. Ich auf jeden Fall bescheide mich damit - vielleicht noch die Boulle-Vitrine aus dem weißen Salon dazu.»

«Zu spät, Onkel.» George sprach mit unbekümmerter Lässigkeit. «Ich habe Helen heute Vormittag schon gebeten, das Spode-Service für mich zurückzulegen.»

Timothys Gesicht verfärbte sich purpurrot.

«Zurückzulegen? Was soll das heißen? Wir haben noch nichts entschieden. Und was willst du überhaupt mit einem Nachtisch-Service? Du bist nicht einmal verheiratet!»

«Um ehrlich zu sein, ich sammle Spode. Und dieses Service ist wirklich exquisit. Aber das mit der Boulle-Vitrine geht in Ordnung, Onkel. Die möchte ich nicht mal geschenkt.»

Timothy wischte die Frage der Boulle-Vitrine beiseite.

«Jetzt hör mir mal gut zu, du junger Spund. Du kannst dich hier nicht einfach so aufspielen. Ich bin älter als du - und ich bin Richards einziger noch lebender Bruder. Das Nachtisch-Service gehört mir.»

«Warum nimmst du denn nicht das Dresdner Porzellan, Onkel? Es ist sehr schön und hat bestimmt genauso viel Erinnerungswert. Das Spode gehört auf jeden Fall mir - wer zuerst kommt, mahlt zuerst!»

«Unsinn - nichts dergleichen!», ereiferte sich Timothy.

«Bitte reg deinen Onkel nicht so auf, George», fuhr Maude scharf dazwischen. «Das tut ihm gar nicht gut. Wenn er das Spode haben will, dann bekommt er es natürlich auch! Er hat die erste Wahl, ihr junges Volk kommt später dran. Wie er sagt, er war Richards Bruder und du warst nur sein Neffe.»

«Und ich sage dir eins, junger Mann.» Timothy platzte beinahe vor Zorn. «Wenn Richard ein richtiges Testament gemacht hätte, wäre es allein an mir gewesen, über den Inhalt dieses Hauses zu bestimmen. So hätte der Besitz auch vermacht werden müssen, und wenn dem nicht so war, kann ich das nur auf unzulässige Beeinflussung zurückführen - ja, ich wiederhole, auf unzulässige Beeinflussung!»

Timothy funkelte seinen Neffen an.

«Ein widersinniges Testament», sagte er. «Widersinnig!»

Er lehnte sich zurück, fasste sich ans Herz und keuchte. «Das ist alles so schlimm für mich. Ich brauche einen ... einen kleinen Brandy.»

Miss Gilchrist sprang auf, um das Gewünschte zu holen, und kehrte mit einem kleinen Glas voll Brandy zurück.

«Hier, Mr. Abernethie, nehmen Sie. Und bitte, bitte regen Sie sich nicht so auf. Sind Sie sicher, dass Sie nicht auf Ihr Zimmer gehen und sich hinlegen möchten?»

«Quatsch.» Timothy leerte das Glas mit einem Zug. «Mich hinlegen? Ich habe vor, meine Interessen zu verteidigen.»

«George, wirklich, du überraschst mich», warf Maude ein. «Dein Onkel hat vollkommen Recht. Seine Wünsche haben Vorrang. Wenn er das Spode-Service haben will, dann soll er es auch bekommen!»

«Es ist sowieso scheusslich», sagte Susan.

«Halt den Mund, Susan», fuhr Timothy auf.

Der magere junge Mann, der neben Susan saß, hob den Kopf. Seine Stimme klang plötzlich schrill.

«Passen Sie auf, wie Sie mit meiner Frau reden!», rief er und hob sich halb aus dem Sessel.

«Schon in Ordnung, Greg», beschwichtigte Susan rasch. «Es stört mich nicht.»

«Aber mich.»

Helen griff vermittelnd ein. «Ich fände es sehr nett von dir, wenn du deinem Onkel das Service überlassen würdest, George.»

Empört fuhr Timothy auf. «Von <überlassen> kann gar keine Rede sein!»

«Dein Wunsch ist mir Befehl, Tante Helen», sagte George mit einer leichten Verbeugung vor ihr. «Ich verzichte auf meinen Anspruch.»

«In Wirklichkeit wolltest du es gar nicht, oder?», sagte Helen.

George warf ihr einen prüfenden Blick zu und grinste dann.

«Das Schlimme an dir ist, Tante Helen, du bist viel zu schlau! Du siehst mehr, als du sehen dürftest. Keine Sorge, Onkel Timothy, das Spode gehört dir. Nur ein kleiner Scherz meinerseits.»

«Scherz!», stieß Maude Abernethie ärgerlich hervor. «Dein Onkel hätte einen Schlaganfall kriegen können!»

«Das glaubst du doch selbst nicht.» Georges Stimme war vergnügt. «Onkel Timothy wird uns noch alle überleben. Er ist ein zäher alter Knochen.»

Hasserfüllt beugte Timothy sich vor.

«Es wundert mich gar nicht, dass Richard von dir enttäuscht war.» Mittlerweile spuckte er Gift und Galle.

«Wie bitte?» Georges Miene verdüsterte sich.

«Du bist nach Mortimers Tod gleich hergekommen und hast erwartet, in seine Fußstapfen zu treten - hast erwartet, dass Richard dich als seinen Erben einsetzt, stimmt’s? Aber mein armer Bruder hat dich sehr bald durchschaut. Er wusste, wo das Geld landen würde, wenn er es dir hinterlassen würde. Ich bin überrascht, dass er dir überhaupt was davon vermacht hat. Er hat gewusst, was damit passieren würde. Pferde, Spielhöllen, Monte Carlo, Casinos. Vielleicht noch Schlimmeres. Er hat geahnt, dass du nicht ganz koscher bist, stimmt’s?»

Neben Georges Nasenflügel erschienen zwei weiße Dellen. «Solltest du nicht besser deine Zunge hüten?», sagte er leise.

«Ich war zu krank, um zur Beerdigung zu kommen», fuhr Timothy unheilvoll fort. «Aber Maude hat mir erzählt, was Cora gesagt hat. Cora war immer eine Närrin - aber vielleicht war doch was dran an dem, was sie sagte! Wenn, dann wüsste ich genau, wen ich verdächtigen würde ...»

«Timothy!» Maude erhob sich und stand in all ihrer Fülle unerschütterlich da. «Der Abend hat dich sehr angestrengt. Du musst an deine Gesundheit denken. Du darfst nicht wieder krank werden. Komm mit mir nach oben. Du musst ein Beruhigungsmittel nehmen und dich gleich ins Bett legen. Helen -Timothy und ich nehmen das Spode-Service und die Boulle-Vitrine zum Andenken an Richard. Ich hoffe, dagegen hat niemand etwas einzuwenden?»

Ihr Blick schweifte über die Runde. Niemand sagte ein Wort. Dann marschierte sie, Timothy mit einer Hand am Ellbogen stützend, aus dem Zimmer. Miss Gilchrist, die unschlüssig neben der Tür stand, trat verschreckt beiseite.

George brach als erster das Schweigen.

«Femme formidable!», sagte er. «Der Ausdruck passt genau auf Tante Maude. Der würde ich auf ihrem Triumphzug nicht in die Quere geraten wollen.»

Zögerlich setzte Miss Gilchrist sich wieder an ihren Platz. «Mrs. Abernethie ist immer so nett», sagte sie.

Ihre Bemerkung stieß auf taube Ohren.

Michael Shane lachte plötzlich auf. «Wisst ihr, mir macht das alles großen Spaß! Das Voysey-Vermächtnis ist nur ein müder Abklatsch dagegen. Übrigens, Rosamund und ich wollen den Malachittisch aus dem Salon.»

«O nein!», rief Susan. «Den will ich!»

«Zweite Runde», grinste George und verdrehte die Augen zur Decke.

«Wir brauchen uns nicht zu streiten», sagte Susan. «Ich möchte ihn für meinen neuen Schönheits salon. Nur als Farbtupfer - und obendrauf ein großer Strauß Wachsblumen. Das wird sich großartig machen. Wachsblumen bekomme ich überall, aber ein grüner Malachittisch ist nicht so leicht zu finden.»

«Aber das ist genau der Grund, warum wir ihn wollen, Süße», unterbrach Rosamund. «Für das neue Bühnenbild. Wie du sagst, ein Farbtupfer - und wunderbar altmodisch. Und dazu entweder Wachsblumen oder ausgestopfte Kolibris. Genau das Richtige.»

«Ich kann dich schon verstehen, Rosamund», meinte Susan. «Aber ich finde, ich habe bessere Gründe als du. Für die Bühne kannst du auch einen Tisch nehmen, der wie grüner Malachit angemalt ist - das würde genauso gut aussehen. Aber für meinen Salon muss ich schon den echten Tisch haben.»

«Also, meine Damen, warum keine sportliche Entscheidungsfindung?», schlug George vor. «Ihr könntet doch eine Münze werfen oder Karten abheben. Das passt im Stil genau zum Tisch.»

Susan lächelte nachsichtig.

«Rosamund und ich werden uns morgen darüber unterhalten», beschloss sie.

Wie immer wirkte sie absolut selbstsicher. George blickte mit Interesse von ihr zu Rosamund, auf deren Gesicht ein vager, ziemlich distanzierter Ausdruck lag.

«Wer wird deiner Meinung nach das Rennen machen, Tante Helen?», fragte er. «Ich glaube, die Chancen stehen fünfzig zu fünfzig. Susan ist wild entschlossen, aber Rosamund ist entzückend hartnäckig.»

«Oder vielleicht doch lieber keine Kolibris», sinnierte Rosamund. «Eine von den großen chinesischen Vasen würde sich wunderschön als Lampenständer machen, und dazu ein goldener Schirm.»

«Das Haus ist voll von wunderschönen Sachen», warf Miss Gilchrist beschwichtigend ein. «Der grüne Tisch würde in Ihrem neuen Salon wirklich großartig zur Geltung kommen, Mrs. Banks. Ich habe so etwas noch nie gesehen. Er ist bestimmt sehr wertvoll.»

«Das wird natürlich von meinem Anteil am Vermögen abgezogen», versicherte Susan.

«Oh, Verzeihung ... Ich wollte nicht ...», entschuldigte Miss Gilchrist sich verwirrt.

«Er wird von unserem Anteil des Vermögens abgezogen», erklärte Michael. «Und die Wachsblumen dazu.»

«Sie passen so schön zum Tisch», murmelte Miss Gilchrist. «Richtig künstlerisch. Einfach süß.»

Niemand achtete auf ihre wohl gemeinten Banalitäten.

«Susan will den Tisch haben.» Greg meldete sich mit seiner hohen, nervösen Stimme zu Wort.

Unbehagen machte sich in der Runde breit, als hätte Greg mit seinem Einwurf einen neuen Umgangston angeschlagen.

Helen griff rasch ein. «Und was möchtest du wirklich haben, George?», erkundigte sie sich. «Vom Spode-Porzellan mal abgesehen.»

George grinste, und die Spannung verflog.

«Es war ein bisschen unverschämt von mir, den alten Timothy so zu reizen», räumte er ein. «Aber er ist einfach unglaublich. Er ist so daran gewöhnt, seinen Willen zu bekommen, dass es regelrecht zur pathologischen Manie geworden ist.»

«Man muss einem Invaliden doch einiges nachsehen, Mr. Crossfield», wandte Miss Gilchrist ein.

«Ein verdammter alter Hypochonder ist der, sonst nichts», widersprach George.

«Genau», pflichtete Susan bei. «Ihm fehlt nicht die Bohne, würde ich sagen. Was meinst du, Rosamund?»

«Was?»

«Ob Onkel Timothy etwas fehlt.»

«Nein - nein, ich glaube nicht.» Rosamund antwortete geistesabwesend. «Es tut mir Leid», meinte sie dann entschuldigend. «Ich habe mir gerade überlegt, welche Beleuchtung für den Tisch richtig wäre.»

«Seht ihr?», triumphierte George. «Unbeirrbar. Deine Gattin ist sehr gefährlich, Michael. Hoffentlich weißt du das.»

«Das weiß ich sehr wohl.» Michael klang ein wenig erbittert.

George schien sich köstlich zu amüsieren.

«Die Schlacht um den Tisch! Runde zwei wird morgen ausgetragen - mit aller Höflichkeit - aber finsterer Entschlossenheit. Wir sollten Wetten abschließen. Ich setze auf Rosamund, die so süß und nachgiebig aussieht, aber in Wahrheit genau das Gegenteil ist. Ehemänner, nehme ich mal an, stehen auf der Seite ihrer Frauen. Miss Gilchrist? Sie halten zu Susan, das ist klar.»

«Ach, Mr. Crossfield, wirklich, ich würde nie wagen ...»

«Tante Helen?» George achtete gar nicht auf Miss Gilchrists halbherzige Einwände. «Deine Stimme hat den Ausschlag. Ach, äh, ich habe ganz vergessen - Monsieur Pontarlier?»

«Pardon?» Hercule Poirot sah verständnislos drein.

George überlegte, ob er zu einer längeren Erklärung ansetzen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Der alte Knabe hatte kein Wort verstanden von dem, was hier vor sich ging. «Nur ein Familienscherz», sagte er.

«Ja, ja, ich verstehe.» Poirot lächelte freundlich.

«Deine Stimme hat also den Ausschlag, Tante Helen. Wessen Partei ergreifst du?»

Helen lächelte.

«Vielleicht hätte ich ihn gerne selbst, George.»

Bewusst ging sie zu einem anderen Thema über und wandte sich an den ausländischen Gast.

«Ich fürchte, das langweilt Sie alles ein wenig, Monsieur Pontarlier?»

«Keineswegs, Madame. Ich betrachte es als Privileg, in Ihren Familienkreis aufgenommen zu werden ...» Er deutete im Sitzen eine Verbeugung an. «Was ich gerne sagen möchte - ich kann mich nicht richtig ausdrücken - mein Bedauern, dass dieses Haus aus Ihren Händen in den Besitz von Fremden übergehen muss. Das ist zweifellos ein ... großer Schmerz.»

«Aber nein, überhaupt nicht», versicherte Susan ihm.

«Madame, Sie sind zu freundlich. Es wird für meine Verfolgten hier das Paradies sein, bitte glauben Sie mir. Ein Hort der Sicherheit! Des Friedens! Ich bitte Sie, vergessen Sie das nicht, wenn ungute Gefühle Sie überkommen, wie es zweifellos der Fall sein wird. Wie ich höre, bestand auch die Möglichkeit, dass hier eine Schule eingerichtet würde - keine normale Schule, ein Kloster, das von religieuses geleitet werden sollte - von Nonnen, so sagen Sie doch, nicht wahr? Wäre Ihnen das lieber gewesen, vielleicht?»

«Absolut nicht», antwortete George.

«Das Heilige Herz Maria», fuhr Poirot fort. «Zum Glück konnten wir dank der Großzügigkeit eines anonymen Wohltäters ein etwas höheres Angebot machen.» Er wandte sich direkt an Miss Gilchrist. «Ich glaube, Sie mögen Nonnen nicht?»

Miss Gilchrist errötete und blickte peinlich berührt beiseite.

«Ach, Mr. Pontarlier, Sie dürfen nicht ... ich meine, das ist nichts Persönliches. Aber ich glaube nicht, dass es richtig ist, sich so von der Welt abzusondern - es ist nicht nötig, wollte ich sagen, und fast schon selbstsüchtig, natürlich nicht diejenigen, die Schulen führen, oder diejenigen, die sich um die Armen kümmern - ich bin sicher, die Frauen sind völlig uneigennützig und wollen nur Gutes tun.»

«Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie jemand Nonne werden möchte», sagte Susan.

«Aber es sieht wunderschön aus», meinte Rosamund. «Erinnere dich - letztes Jahr, die Wiederaufführung von Das Wunder. Sonia Wells sah einfach hinreißend aus.»

George meldete sich zu Wort. «Was ich einfach nicht verstehen kann, ist, warum es dem guten Herrgott gefallen sollte, wenn man sich wie im Mittelalter verkleidet. Denn was anderes ist die Nonnentracht ja nicht. Bloß unpraktisch und unhygienisch.»

«Und dann sehen sie sich alle so ähnlich, nicht?», sagte Miss Gilchrist. «Es ist dumm von mir, wissen Sie, aber ich habe einen richtigen Schreck bekommen, als ich im Haus von Mrs. Abernethie zur Tür ging und draußen stand eine Nonne und bat um eine Spende. Irgendwie kam sie mir als genau dieselbe vor wie diejenige, die am Tag der gerichtlichen Untersuchung von der armen Mrs. Lansquenet in Lytchett St. Mary sammelte. Fast hatte ich das Gefühl, als würde sie mich verfolgen!»

«Ich dachte, Nonnen würden immer nur zu zweit Spenden sammeln», meinte George. «Darum ging’s doch in irgendeinem Krimi, oder?»

«Da war’s nur eine», sagte Miss Gilchrist und fügte redselig hinzu: «Vielleicht müssen sie ja sparen. Außerdem kann es gar nicht dieselbe Nonne gewesen sein, weil die andere für eine Orgel für St. - Barnabas, glaube ich - gesammelt hat und diese für etwas ganz anderes ... irgendwas mit Kindern.»

«Aber beide hatten dieselben Gesichtszüge?», fragte Hercule Poirot. Er klang interessiert. Miss Gilchrist wandte sich zu ihm.

«Ich glaube, das muss es gewesen sein. Die Oberlippe - fast, als hätte sie einen Schnurrbart. Wissen Sie, ich glaube, das hat mich so erschreckt - ich war ja sowieso sehr angespannt in der Zeit, und dann sind mir wieder die Geschichten aus dem Krieg eingefallen von Nonnen, die in Wirklichkeit Männer aus der Fünften Kolonne waren und mit dem Fallschirm abgesprungen sind. Das war natürlich sehr dumm von mir. Das ist mir hinterher klar geworden.»

«Eine Nonne wäre eine gute Verkleidung», meinte Susan nachdenklich. «Dann sieht man nicht die Füße.»

«Aber eigentlich sieht man andere Leute fast nie richtig an», sagte George. «Deswegen hört man ja vor Gericht von den verschiedenen Zeugen auch völlig unterschiedliche Beschreibungen von ein und demselben Menschen. Ihr würdet euch wundern. Ein Mann ist schon oft als groß und als klein beschrieben worden, als dünn und dick, blond und dunkel, mit hellem und dunklem Anzug, und so weiter. Meistens gibt es einen zuverlässigen Zeugen, aber den herauszufinden, das dauert.»

«Es ist ja auch seltsam, wenn man sich selbst unerwartet im Spiegel sieht», fügte Susan hinzu, «und gar nicht weiß, wen man da sieht. Das Gesicht kommt einem irgendwie bekannt vor. Und man sagt sich: , und plötzlich wird einem klar, dass man es selbst ist!»

«Noch schwieriger wäre es, wenn man sich wirklich selbst sehen könnte - und nicht als Spiegelbild», ergänzte George.

«Wieso?», fragte Rosamund verwundert.

«Na ja, versteh doch, man sieht sich selbst nie so, wie andere einen sehen. Man sieht sich immer nur im Spiegel - also seitenverkehrt.»

«Aber wieso sieht man da anders aus?»

«Das ist doch klar», sagte Susan rasch. «Weil man unterschiedliche Gesichtshälften hat. Die Augenbrauen sind anders, der Mund geht auf einer Seite mehr nach oben, die Nase ist nicht ganz gerade. Das kann man mit einem Bleistift gut nachprüfen - hat jemand einen Bleistift?»

Ein Bleistift wurde geholt und sie machten Experimente, hielten den Stift rechts und links der Nasenflügel und lachten über die schiefen Gesichter.

Die Stimmung war jetzt gelöst, alle waren guter Dinge. Hier saßen nicht mehr die Erben von Richard Abernethie, die sich versammelt hatten, um das Vermögen aufzuteilen; hier saßen Menschen, die gemeinsam ein vergnügliches Wochenende auf dem Land verbrachten.

Nur Helen Abernethie sagte wenig und wirkte geistesabwesend.

Schließlich erhob Hercule Poirot sich seufzend aus seinem Sessel und wünschte seiner Gastgeberin höflich gute Nacht.

«Und vielleicht, Madame, sollte ich mich auch gleich verabschieden. Mein Zug fährt um neun Uhr in der Früh. Das ist sehr zeitig. So möchte ich Ihnen allen für Ihr Entgegenkommen und Ihre Gastfreundschaft danken. Das Datum der Übergabe - das wird mit dem guten Mr. Entwhistle vereinbart. Ganz nach Ihrem Belieben, natürlich.»

«Die kann jederzeit stattfinden, Monsieur Pontarlier, wie es Ihnen am besten passt. Ich - ich habe hier alles getan, was ich tun wollte.»

«Sie fahren jetzt in Ihre Villa auf Zypern?»

«Ja.» Auf Helen Abernethies Lippen erschien ein kleines Lächeln.

«Sie sind froh, ja», sagte Poirot. «Sie haben kein Bedauern?»

«England zu verlassen? Oder meinen Sie, das Haus hier zu verlassen?»

«Ich meinte - das Haus.»

«O nein. Es ist nicht gut, an der Vergangenheit festzuhalten, nicht wahr? Man muss sie hinter sich lassen.»

«Wenn man kann.» Mit unschuldig blinzelnden Augen lächelte Poirot in die Runde, in die höflichen Gesichter, die ihn umgaben.

«Manchmal, nicht wahr, lässt die Vergangenheit sich nicht begraben, erduldet nicht, dass sie in Vergessenheit gerät, nein? Sie steht neben einem, sie sagt: »

Susan lachte verlegen.

«Ich meine es ernst - ja», sagte Poirot.

«Sie meinen, Ihre Flüchtlinge werden das Leiden, das sie erdulden mussten, auch hier nicht ganz hinter sich lassen können?», fragte Michael.

«Ich meinte nicht meine Flüchtlinge.»

«Er meinte uns, Süßer», erklärte Rosamund. «Er meint Onkel Richard und Tante Cora und das Beil und das alles.»

Sie wandte sich an Poirot.

«Oder?»

Poirot sah sie mit ausdruckslosem Gesicht an.

«Warum denken Sie das, Madame?», fragte er.

«Weil Sie ein Detektiv sind, stimmt’s? Deswegen sind Sie auch hier. NARCO oder wie immer Sie das auch nennen, ist doch nur Fassade, oder?»

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