I


Auf der Fahrt nach London, die er auf dem Fensterplatz eines Abteils erster Klasse verbrachte, dachte Mr. Entwhistle über Cora Lansquenets horrende Bemerkung nach. Ihm war etwas unwohl dabei. Natürlich, Cora war eine eher unausgeglichene und außerordentlich dumme Person und schon als Mädchen für ihre peinliche Art bekannt gewesen, mit unliebsamen Wahrheiten herauszuplatzen. Aber nein, nicht mit Wahrheiten, das war das völlig falsche Wort; mit unbedachten Bemerkungen - das war der richtige Ausdruck.

In Gedanken ging er noch einmal die Minuten direkt nach diesem unglückseligen Satz durch. Erst durch die vielen Augenpaare, die sich entsetzt und missbilligend auf sie richteten, war Cora die ganze Tragweite ihrer Frage aufgegangen.

«Aber wirklich, Cora!», hatte Maude gerufen. «Liebe Tante Cora», hatte George gesagt, und jemand anders hatte gefragt: «Was meinst du bloß damit?»

Der Ungeheuerlichkeit überführt, war Cora Lansquenet sofort beschämt in einen wirren Redeschwall ausgebrochen.

«Ach, es tut mir Leid ... ich wollte doch nicht ... das war wirklich dumm von mir, aber ich dachte, nach dem, was er mir sagte ... Ach, natürlich weiß ich, dass alles in Ordnung ist, aber sein Tod kam so plötzlich ... bitte vergesst einfach, dass ich überhaupt etwas gesagt habe ... ich wollte nicht so dumm ... Ich weiß schon, ich sage immer das Verkehrte.»

Dann hatte sich die Aufregung wieder gelegt und eine praktische Diskussion über die Veräußerung der persönlichen Gegenstände des Verstorbenen hatte begonnen. Das Haus und sein Inhalt, so hatte Mr. Entwhistle ergänzt, würden verkauft werden.

Coras unglückseliger Fauxpas war vergessen. Schließlich war sie immer schon - nun, vielleicht nicht beschränkt, aber doch unverzeihlich naiv gewesen. Sie hatte nie begriffen, was man sagen oder nicht sagen durfte. Mit neunzehn hatte das noch keine so große Rolle gespielt. Bis zu dem Alter kann man einem Enfant terrible seine Eigenheiten nachsehen, aber ein Enfant terrible von fast fünfzig war entschieden zu viel des Guten. Mit unliebsamen Wahrheiten herauszuplatzen ...

Mr. Entwhistles Gedankengang kam zu einem abrupten Stillstand. Zum zweiten Mal war ihm das leidige Wort in den Sinn gekommen. Wahrheiten. Und warum war es so leidig? Weil genau das - die Wahrheit - der Grund war, warum Coras freimütige Bemerkungen schon immer Empörung ausgelöst hatten. Weil ihre naiven Äusserungen entweder der Wahrheit entsprochen oder zumindest ein Körnchen Wahrheit enthalten hatten -eben deswegen waren alle stets peinlich berührt gewesen.

Obwohl Mr. Entwhistle in der fülligen neunundvierzigjähri-gen Frau kaum etwas gesehen hatte, das ihn an das linkische Mädchen früherer Zeiten erinnerte, waren ihr einige ihrer Manierismen erhalten geblieben - die kleine vogelartige Kopfbewegung, wenn sie eine besonders unerhörte Bemerkung machte, der Ausdruck beinahe gespannter Erwartung. Genau auf diese Art hatte Cora einmal als Mädchen über die Figur eines Küchenmädchens gesprochen. «Mollie kommt ja fast nicht mehr an den Küchentisch ran, weil ihr Bauch so vorsteht. Das ist aber erst in den letzten ein, zwei Monaten so. Warum wird sie bloß so dick? Das würde ich gerne wissen.»

Cora war rasch zum Verstummen gebracht worden. Im Haushalt der Abernethies pflegte man viktorianische Umgangsformen. Am nächsten Tag war das Küchenmädchen aus dem Haus verschwunden, und nach dem diskreten Einholen von Erkundigungen war dem zweiten Gärtner befohlen worden, es zu einer ehrbaren Frau zu machen - was er, bewegt durch das Geschenk eines Cottage, auch getan hatte.

Erinnerungen aus alter Zeit - doch sie waren nicht ganz müßig .

Mr. Entwhistle dachte eingehender über sein Unbehagen nach. Was war an Coras lächerlichen Bemerkungen, das sein Unterbewusstsein einfach nicht losließ? Nach einer Weile führte er das vor allem auf zwei Sätze zurück: «Ich dachte, nach dem, was er mir sagte ...» und «Sein Tod kam so plötzlich ...»

Die zweite Bemerkung untersuchte Mr. Entwhistle als Erstes. Doch, Richards Tod konnte in gewisser Hinsicht durchaus als plötzlich bezeichnet werden. Mr. Entwhistle hatte über Richards Gesundheitszustand sowohl mit ihm selbst als auch mit seinem Arzt gesprochen. Dieser hatte unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass sein Patient kein hohes Alter erreichen würde. Wenn Mr. Abernethie sich schone, könne er noch zwei oder auch drei Jahre leben. Vielleicht sogar länger - aber das sei unwahrscheinlich. Auf jeden Fall hatte der Arzt keinen baldigen Tod vorhergesehen.

Nun, der Arzt hatte sich getäuscht - aber es war Ärzten, wie sie als Erste zugaben, ja auch nicht möglich, genaue Aussagen über den individuellen Verlauf einer Krankheit zu machen. Es gab Patienten, bei denen man jede Hoffnung aufgegeben hatte und die auf wundersame Weise genasen. Und es gab Kranke, die praktisch schon über den Berg waren und dann plötzlich doch starben. Viel hing von der Lebenskraft eines Patienten ab, von seinem Lebenswillen.

Und Richard Abernethie war zwar ein kräftiger, zupackender Mann gewesen, aber ihn hatte nur noch wenig am Leben gehalten.

Denn sechs Monate zuvor war sein einziger noch lebender Sohn Mortimer an Kinderlähmung erkrankt und binnen einer Woche gestorben. Sein Tod war ein Schock gewesen, nicht zuletzt auch deswegen, weil er ein kerngesunder, lebensfroher junger Mann gewesen war, ein begeisterter Sportler, ein guter Athlet und einer der Menschen, von denen man sagt, sie seien keinen Tag ihres Lebens krank gewesen. In wenigen Wochen hatte er sich mit einem reizenden Mädchen verloben wollen. Die Hoffnungen seines Vaters hatten ganz auf diesem geliebten und überaus gut geratenen Sohn geruht.

Stattdessen hatte das Schicksal zugeschlagen. Und danach hielt die Zukunft für Richard Abernethie nur wenig bereit, das ihn interessiert hätte. Ein Sohn war im Kindesalter gestorben, der zweite ohne Nachkommen. Er hatte keine Enkel. Nach ihm gab es niemanden, der den Namen Abernethie tragen würde. Er besaß ein immenses Vermögen mit weit verzweigten Geschäftsinteressen, die er zum Teil noch selbst in der Hand hatte. Auf wen sollten dieses Vermögen und die Kontrolle dieser Geschäfte übergehen?

Diese Fragen hatten Richard sehr belastet, das wusste Entwhistle. Sein einziger noch lebender Bruder war praktisch Invalide. Es blieb nur die jüngere Generation. Richard war immer davon ausgegangen - das vermutete der Notar, obwohl sein Freund es ihm nie direkt bestätigt hatte -, dass er einen einzigen Erben einsetzen würde, auch wenn er sicher diese oder jene Person mit einem kleinen Vermächtnis bedacht hätte. Entwhistle wusste, dass Richard Abernethie in den letzten sechs Monaten vor seinem Tod nacheinander seinen Neffen George, seine Nichte Susan mit Mann, seine Nichte Rosamund mit Mann sowie seine Schwägerin Mrs. Leo Abernethie zu Besuch eingeladen hatte. Unter den drei Erstgenannten, so spekulierte Entwhistle, hatte Abernethie nach einem Erben Ausschau gehalten. Helen Abernethie war wohl aus persönlicher Zuneigung eingeladen worden und möglicherweise auch als Ratgeberin, denn Richard hatte immer große Stücke auf ihren gesunden Menschenverstand und ihr praktisches Urteilsvermögen gehalten. Mr. Entwhistle wusste auch, dass Richard irgendwann im Verlauf dieser sechs Monate seinem Bruder Timothy einen kurzen Besuch abgestattet hatte.

Als Ergebnis all dessen war das Testament entstanden, das der Notar jetzt in seiner Aktentasche bei sich trug. Eine ausge-wogene Aufteilung des Vermögens. Das ließ nur den Schluss zu, dass Richard Abernethie von seinem Neffen ebenso enttäuscht gewesen war wie von seinen Nichten, oder vielleicht auch von deren Ehemännern.

Nach Mr. Entwhistles Wissen hatte er seine Schwester Cora Lansquenet nicht zu sich eingeladen - und damit kam der Notar zu dem ersten denkwürdigen Satz, den Cora so beiläufig hatte fallen lassen: «sagte ...>»

Was hatte Richard Abernethie denn gesagt? Und wann? Wenn Cora nicht in Enderby gewesen war, dann musste Richard sie in ihrem Künstlerdorf in Berkshire besucht haben, wo sie in einem Cottage lebte. Oder war es etwas, das er in einem Brief geschrieben hatte?

Mr. Entwhistle runzelte die Stirn. Natürlich, Cora war eine überaus dumme Person. Es war gut denkbar, dass sie einen Satz falsch verstanden und seinen Sinn verdreht hatte. Aber trotzdem fragte er sich, was dieser Satz gewesen sein könnte ...

Sein Unbehagen war so groß, dass er beschloss, Mrs. Lansquenet darauf anzusprechen. Aber nicht sofort. Es war besser, wenn sie nicht merkte, wie sehr ihm die Frage unter den Nägeln brannte. Aber er würde doch gerne wissen, was Richard Abernethie ihr gesagt hatte, so dass sie mit der unerhörten Frage «Aber er ist doch ermordet worden, oder nicht?» herausgeplatzt war.

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