DREIZEHNTES KAPITEL


Als Hercule Poirot die Visitenkarte von Inspector Morton von der Berkshire County Police gereicht wurde, hob er die Augenbrauen.

«Bringen Sie ihn herein, Georges, bringen Sie ihn herein. Und servieren Sie - was trinken Polizisten vorzugsweise?»

«Ich würde Bier empfehlen, Sir.»

«Wie entsetzlich! Und wie britisch. Nun, bringen Sie ein Bier.»

Inspector Morton kam ohne Umschweife zur Sache.

«Ich musste nach London fahren», sagte er. «Und ich habe Ihre Adresse herausgefunden, Monsieur Poirot. Ich habe Sie am Donnerstag bei der gerichtlichen Untersuchung gesehen. Das hat meine Neugier geweckt.»

«Sie haben mich dort gesehen?»

«Ja. Ich war überrascht, und ich bin, wie gesagt, neugierig geworden. Sie werden sich nicht an mich erinnern, aber ich erinnere mich sehr gut an Sie. Vom Fall Pangbourne.»

«Ach, Sie haben daran gearbeitet?»

«Nur in einer sehr untergeordneten Position. Es ist schon lange her, aber ich habe Sie nie vergessen.»

«Und Sie haben mich neulich sofort wieder erkannt?»

«Das war nicht schwer.» Inspector Morton unterdrückte ein Schmunzeln. «Ihr Äußeres ist ... eher ungewöhnlich.»

Sein Blick wanderte über Poirots eleganten Schnei deranzug zum gezwirbelten Schwung seines Schnurrbarts.

«Auf dem Land fallen Sie sehr auf», fügte er hinzu.

«Das ist gut möglich, gut möglich.» Poirot wirkte überaus zufrieden.

«Ich wollte gerne wissen, warum Sie dort waren. Die Art von Verbrechen - ein Raubüberfall - ist sonst eher nicht Ihre Sache.»

«War es denn die gängige Art von brutalem Verbrechen?»

«Das frage ich mich.»

«Das haben Sie sich von Anfang an gefragt, nicht wahr?»

«Sie haben Recht, Monsieur Poirot. Es gibt ein paar Sachen, die mir nicht ganz schlüssig erscheinen. Die Routinearbeit haben wir bereits erledigt. Wir haben eine oder zwei Personen zum Verhör vorgeladen, aber alle konnten ihren Verbleib am fraglichen Nachmittag zu unserer Zufriedenheit erklären. Es war nicht, was man ein Verbrechen nennt, Monsieur Poirot. Da sind wir ganz sicher. Der Polizeipräsident ist derselben Meinung. Ganz offenbar wollte der Täter es lediglich als ein solches erscheinen lassen. Es könnte diese Gilchrist gewesen sein, aber dafür können wir kein Motiv finden - und es bestand keine emotionale Beziehung zwischen den beiden Frauen. Mrs. Lansquenet war vielleicht ein bisschen verrückt -oder , wenn Sie so wollen -, aber es war eindeutig ein Verhältnis von Herrin und Dienerin. Leidenschaftliche weibliche Gefühle kamen nicht ins Spiel. Es gibt Dutzende von Miss Gilchrists, und sie haben höchst selten das Zeug zum Mord.»

Er machte eine Pause. «Es sieht also danach aus, als müssten wir unsere Ermittlungen ausweiten», fuhr er dann fort. «Ich bin gekommen, um Sie zu fragen, ob Sie uns möglicherweise helfen können. Irgendetwas muss Sie ja nach Lytchett St. Mary gebracht haben.»

«Ja, in der Tat. Ein wunderbarer Jaguar. Aber nicht nur das.»

«Sie hatten eine - Information?»

«Kaum in dem Sinne, in dem Sie das Wort verwenden. Nichts, das als Beweis dienen könnte.»

«Aber vielleicht als ... Hinweis?»

«Ja.»

«Sehen Sie, Monsieur Poirot, seitdem ist noch etwas passiert.»

Er berichtete eingehend von dem vergifteten Hochzeitskuchen.

Poirot holte hörbar Luft.

«Genial ... wirklich genial ... Ich habe Mr. Entwhistle gesagt, er solle auf Miss Gilchrist Acht geben. Ein Anschlag auf sie, das war immer im Bereich des Möglichen. Aber ich muss gestehen, ich hätte nicht mit Gift gerechnet. Ich erwartete eher eine Wiederholung des Beil-Motivs. Ich dachte lediglich, es wäre unklug, wenn sie nach Einbruch der Dunkelheit allein durch verlassene Straßen ginge.»

«Aber warum haben Sie mit einem Anschlag auf sie gerechnet? Ich glaube, das sollten Sie mir erklären, Monsieur Poirot.»

Poirot nickte langsam.

«Ja, ich werde es Ihnen erklären. Mr. Entwhistle würde es Ihnen nicht sagen, denn er ist Jurist, und Juristen sprechen ungern von Vermutungen oder von Rückschlüssen, die man aus dem Charakter einer Toten oder aus einigen beiläufigen Anspielungen ziehen kann. Aber er wird keine Einwände erheben, wenn ich es Ihnen sage - nein, im Gegenteil, er wird erfreut sein. Er möchte vermeiden, töricht oder leichtgläubig zu wirken, aber er möchte, dass Sie die Dinge kennen, bei denen es sich möglicherweise - möglicherweise! - um Tatsachen handelt.»

Poirot unterbrach sich, denn Georges kam mit einem hohen, schlanken Glas Bier herein.

«Eine Erfrischung, Inspector. Nein, nein, ich bestehe darauf.»

«Trinken Sie nicht auch eins?»

«Ich trinke Bier nicht. Aber ich werde ein Glas sirop de cassis nehmen - Engländer finden, wie ich bemerkt habe, keinen Geschmack daran.»

Inspector Morton sah dankbar auf sein Bier.

Nachdem Poirot einen kleinen Schluck von der dunkellilafarbenen Flüssigkeit genommen hatte, sagte er: «Alles beginnt bei einer Beerdigung. Oder vielmehr, um genau zu sein, nach einer Beerdigung.»

Sehr bildlich und von vielen Gesten unterstrichen schilderte er den Ablauf der Ereignisse, wie Mr. Entwhistle sie ihm berichtet hatte, allerdings mit zahlreichen Ausschmückungen, wie es seiner überschwänglichen Persönlichkeit entsprach. Fast bekam man das Gefühl, Hercule Poirot habe alles selbst miterlebt.

Inspector Morton hatte einen klugen, scharfen Verstand. Sofort griff er die für ihn wesentlichen Punkte auf.

«Es ist also denkbar, dass Mr. Abernethie vergiftet wurde?»

«Das ist möglich.»

«Und die Leiche ist verbrannt worden und es gibt keinerlei Beweismittel?»

«In der Tat.»

Inspector Morton überlegte.

«Interessant. Aber uns hilft das nicht weiter - es gibt nichts, weswegen wir Ermittlungen über Richard Abernethies Tod anstellen sollten. Das wäre Zeitverschwendung.»

«Ja.»

«Aber da sind die Leute - die Leute, die dabei waren, die hörten, was Cora Lansquenet sagte, und einer von ihnen könnte befürchtet haben, sie würde es wiederholen, und zwar ausführlicher.»

«Was sie zweifellos auch getan hätte. Wie Sie sagen, Inspector, da sind die Leute. Und jetzt verstehen Sie auch, warum ich bei der gerichtlichen Untersuchung anwesend war und warum ich mich für den Fall interessiere - weil mein Interesse grundsätzlich und immer den Menschen gilt.»

«Dann der Anschlag auf Miss Gilchrist ...»

«. der immer im Bereich des Möglichen stand. Richard Abernethie war zu Besuch dort gewesen. Er hatte mit Cora gesprochen. Vielleicht hatte er sogar einen Namen genannt. Die einzige Person, die möglicherweise etwas wissen oder etwas gehört haben könnte, ist Miss Gilchrist. Nachdem Cora zum Schweigen gebracht ist, hat der Mörder vielleicht immer noch Angst. Weiß die andere Frau etwas - irgendetwas? Natürlich, wenn der Mörder klug wäre, würde er es dabei bewenden lassen, aber wie wir wissen, Inspector, sind Mörder selten klug. Zu unserem Glück. Sie geraten ins Grübeln, sie bekommen Zweifel, sie möchten sichergehen - absolut sichergehen. Sie erbauen sich an ihrer eigenen Klugheit. Und so werden sie fürwitzig, wie man so schön sagt.»

Inspector Morton lächelte ein wenig.

«Der Versuch, Miss Gilchrist zum Schweigen zu bringen, ist bereits ein Fehler», fuhr Poirot fort. «Denn jetzt gibt es zwei Fälle, in denen Sie ermitteln. Da ist auch die Schrift auf dem Kärtchen, das dem Hochzeitskuchen beilag. Es ist sehr bedauerlich, dass das Packpapier verbrannt wurde.»

«Ja. Denn dann hätten wir mit Gewissheit feststellen können, ob das Päckchen mit der Post kam oder nicht.»

«Sie haben Grund zur Annahme, dass es nicht mit der Post kam, sagten Sie?»

«Das glaubt zumindest der Postbote - aber er ist sich nicht sicher. Wenn das Päckchen beim Postamt im Dorf angekommen wäre, hätte sich die Postmeisterin mit größter Wahrscheinlichkeit daran erinnert, aber jetzt wird die Post mit einem Wagen von Market Keynes aus zugestellt. Die Runde ist groß und der junge Mann muss viel Post austragen. Er glaubt, dass er beim Cottage nur Briefe und kein Päckchen abgegeben hat, aber sicher ist er sich nicht. Es ist nämlich so - er hat im Augenblick Liebeskummer und kann an nichts anderes denken. Ich habe sein Gedächtnis überprüft, und es ist überhaupt nicht zuverlässig. Allerdings, wenn er es doch zugestellt haben sollte, verstehe ich nicht, warum es erst bemerkt wurde, nachdem dieser Mr. ... wie heißt er noch? ... Guthrie ...»

«Ah ja, Mr. Guthrie.»

Inspector Morton lächelte.

«Ja, Monsieur Poirot, wir überprüfen ihn bereits. Schließlich wäre es ja einfach für ihn gewesen, mit der plausiblen Erklärung aufzutauchen, er sei ein Freund von Mrs. Lansquenet gewesen. Mrs. Banks konnte kaum wissen, ob das stimmte. Er hätte das Päckchen dort deponieren können. Es ist nicht schwer, ein Päckchen so aussehen zu lassen, als hätte es den Postweg genommen. Eine Briefmarke lässt sich mit etwas verschmiertem Ruß gut entwerten.»

Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: «Und es gibt noch andere Möglichkeiten.»

Poirot nickte.

«Sie denken an ...?»

«Mr. George Crossfield war in der Gegend - allerdings erst am folgenden Tag. Er wollte zum Begräbnis kommen, hatte aber unterwegs Schwierigkeiten mit dem Motor. Wissen Sie etwas über ihn, Monsieur Poirot?»

«Ein wenig. Aber nicht so viel, wie ich gerne wissen möchte.»

«Ach, so ist das mit ihm? Das sind ja alles hochinteressante Menschen, die von Mr. Abernethies Testament profitiert haben. Ich hoffe, das bedeutet nicht, dass wir ihnen allen auf den Zahn fühlen müssen.»

«Ich habe einige Informationen eingeholt. Sie stehen Ihnen zur Verfügung. Natürlich bin ich nicht befugt, diesen Leuten Fragen zu stellen. Es wäre sogar sehr unklug von mir, das zu tun.»

«Ich werde langsam vorgehen. Man will den Vogel ja nicht zu früh aufschrecken. Aber wenn man ihn aufschreckt, dann richtig.»

«Eine sehr vernünftige Vorgehensweise. Sie, mein Freund, Sie haben also die Routinearbeit vor sich - mit der ganzen Maschinerie, die Ihnen zur Verfügung steht. Sie arbeitet langsam, aber gewissenhaft. Ich hingegen ...»

«Ja, Monsieur Poirot?»

«Ich hingegen, ich fahre nach Norden. Wie ich Ihnen bereits sagte, ich interessiere mich für Menschen. Ja - ein wenig Camouflage, dann fahre ich nach Norden. Ich plane, ein Herrenhaus für ausländische Flüchtlinge zu erwerben. Ich bin ein Abgesandter von UNARCO.»

«Und was ist UNARCO?»

«United Nations Aid for Refugee Centre Organization -Hilfswerk der Vereinten Nationen für die Organisation von Flüchtlingszentren. Das klingt gut, nicht wahr?»

Inspector Morton grinste.

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