I


Einen Moment herrschte eine äußerst angespannte Stimmung. Poirot konnte das spüren, obwohl er den Blick nicht von Rosamunds schönem, ruhigem Gesicht nahm.

«Sie haben großen Scharfblick, Madame», sagte er mit einer kleinen Verbeugung.

«Das nicht gerade», sagte Rosamund. «Aber jemand hat mich in einem Restaurant mal auf Sie aufmerksam gemacht. Ich habe Sie wieder erkannt.»

«Aber Sie haben nichts gesagt - bis jetzt?»

«Ich dachte, so wäre es lustiger», erklärte Rosamund.

«Mein - liebes Kind.» Michael konnte seine Stimme nur mit Mühe beherrschen.

Poirot sah zu ihm. Michael war wütend. Wütend und noch etwas - hatte er Angst?

Langsam ließ Poirot den Blick über alle Gesichter wandern. Susan zornig und wachsam; Gregory ausdruckslos und verschlossen; Miss Gilchrist töricht, der Mund offen; George argwöhnisch; Helen bestürzt und nervös ...

All diese Gesichtsausdrücke waren angesichts der Umstände durchaus normal. Poirot wünschte sich, er hätte sie eine Sekunde früher sehen können, als Rosamund das Wort «Detektiv» aussprach. Denn in der Zwischenzeit hatten sie sich zwangsläufig schon ein wenig verändert .

Er straffte die Schultern und beugte sich vor. Seine Sprache und sein Akzent wurden weniger ausländisch.

«Ja», sagte er, «ich bin ein Detektiv.»

Neben Georges Nasenflügel waren wieder die weißen Dellen erschienen. «Wer hat Sie hergeschickt?», wollte er wissen.

«Ich habe den Auftrag erhalten, die Umstände von Richard Abernethies Tod zu ermitteln.»

«Von wem?»

«Im Augenblick brauchen Sie sich nicht darum zu bekümmern. Aber es wäre doch von Vorteil, oder nicht, wenn Sie zweifelsfrei wissen könnten, dass Richard Abernethie eines natürlichen Todes gestorben ist?»

«Natürlich ist er eines natürlichen Todes gestorben. Wer behauptet denn was anderes?»

«Cora Lansquenet. Und Cora Lansquenet ist tot.»

Unbehagen ging wie eine übelriechende Brise durch die Runde.

«Sie hat es hier gesagt - in diesem Raum», sinnierte Susan. «Aber eigentlich dachte ich nicht ...»

«Wirklich nicht, Susan?» George Crossfield warf ihr einen ironischen Blick zu. «Was soll dieses Versteckspiel? Du kannst Monsieur Pontarlier sowieso nicht überzeugen.»

«Wir haben es im Grunde doch alle gedacht», sagte Rosamund. «Außerdem heißt er nicht Pontarlier, sondern Hercules Irgendwas.»

«Hercule Poirot - zu Ihren Diensten.»

Poirot verbeugte sich.

Niemand holte überrascht Luft, niemand zeigte Erstaunen. Sein Name schien ihnen gar nichts zu bedeuten.

Sein Name erschreckte sie weniger als das eine Wort «Detektiv».

«Darf ich fragen, zu welchen Schlüssen Sie gekommen sind?», fragte George.

«Das wird er dir nicht sagen, Süßer», antwortete Rosamund. «Oder wenn, dann nicht die Wahrheit.»

Als Einzige in der großen Runde schien sie belustigt.

Hercule Poirot betrachtete sie nachdenklich.

In der Nacht schlief Hercule Poirot nicht gut. Er war irritiert, und er wusste nicht genau, warum er irritiert war. Gesprächsfetzen, verschiedene Blicke, kleine Gesten - in der Einsamkeit der Nacht schien alles schwanger mit Bedeutung. Er stand an der Schwelle zum Schlaf, und doch wollte der Schlaf nicht kommen. Gerade als er eindöste, durchzuckte ihn ein Gedanke, und er war wieder hellwach. Farbe - Timothy und Farbe. Ölfarbe - der Geruch von Ölfarbe - das hing irgendwie mit Mr. Entwhistle zusammen. Farbe und Cora. Coras Bilder - Postkartenbilder ... Cora hatte bei ihren Bildern gemogelt ... Nein, zurück zu Mr. Entwhistle - etwas, das Mr. Entwhistle gesagt hatte - oder war es Lanscombe? Eine Nonne, die am Tag von Richard Abernethies Tod an der Haustür klingelte. Eine Nonne mit einem Schnurrbart. Eine Nonne in Stansfield Grange - und in Lytchett St. Mary. Das waren entschieden zu viele Nonnen! Rosamund, die als Nonne auf der Bühne sensationell aussah. Rosamund - die sagte, dass er ein Detektiv war - und alle starrten sie an, als sie das sagte. So mussten sie alle Cora angestarrt haben an dem Tag, als sie «Aber er ist doch ermordet worden, oder nicht?» sagte. Was hatte Helen Abernethie das Gefühl gegeben, dass etwas nicht «stimmte»? Helen Aber-nethie - ließ die Vergangenheit hinter sich - würde nach Zypern fahren ... Helen hatte die Wachsblumen fallen gelassen, als er sagte - was hatte er gesagt? Er konnte sich nicht genau erinnern .

Er schlief ein, und im Schlaf träumte er ...

Er träumte von dem grünen Malachittisch. Darauf stand unter einer Glasglocke ein Strauß Wachsblumen - nur war alles mit dicker, scharlachroter Ölfarbe übermalt. Farbe so rot wie Blut. Er konnte die Farbe riechen und Timothy ächzte: «Ich sterbe ... Ich sterbe ... Das ist das Ende.» Und Maude stand daneben, groß und streng, hielt ein langes Messer in der Hand und wie-

derholte: «Ja, das ist das Ende ...» Das Ende - ein Totenbett mit Kerzen und einer betenden Nonne. Wenn er nur das Gesicht der Nonne sehen könnte, würde er wissen ...

Hercule Poirot erwachte - und er wusste es!

Ja, es war wirklich das Ende ...

Obwohl noch viel Arbeit vor ihm lag.

Er untersuchte die einzelnen Stückchen des Mosaiks.

Mr. Entwhistle, der Geruch von Farbe, Timothys Haus und etwas, das dort sein musste - oder sein könnte ... die Wachsblumen ... Helen ... Glasscherben ...

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