NEUNTES KAPITEL


Miss Gilchrist setzte sich den schwarzen Hut fest auf den Kopf und steckte eine graue Haarstähne darunter. Die gerichtliche Untersuchung war für zwölf Uhr angesetzt und jetzt war es knapp zwanzig nach elf. Ihr grauer Mantel mit dem passenden Rock sah sehr adrett aus, fand sie, und sie hatte sich eine schwarze Bluse gekauft. Sie wünschte, sie hätte ganz in Schwarz gehen können, aber das hätte ihre Mittel überstiegen. Sie sah sich in dem hübschen, ordentlich aufgeräumten Schlafzimmer um und betrachtete die Bilder, die an den Wänden hingen - von Brixham Harbour, Cockington Forge, Anstey’s Co-ve, Kyance Cove, Polflexan Harbour, Babbacombe Bay, lauter Seedörfer, die alle die markante Signatur Cora Lansquenets trugen. Besonders liebevoll schaute sie das Bild von Polflexan Harbour an. Auf der Kommode stand, sorgsam gerahmt, eine verblichene Fotografie des Willow Tree Teashop. Miss Gilchrist seufzte, als ihr Blick sehnsüchtig darauf zu ruhen kam.

Das Klingeln der Türglocke riss sie aus ihren Träumereien.

«Du meine Güte», murmelte sie. «Wer kann das denn sein .»

Sie verließ das Zimmer und stieg die etwas baufällige Treppe nach unten. Es klingelte wieder, dann wurde forsch an die Tür geklopft.

Aus irgendeinem Grund wurde Miss Gilchrist plötzlich ängstlich. Ihre Schritte verlangsamten sich ein wenig, aber dann ermahnte sie sich streng, nicht so dumm zu sein. Etwas unwillig ging sie zur Tür.

Vor dem Haus stand eine junge Frau, elegant in Schwarz gekleidet und mit einem kleinen Koffer in der Hand. Als sie den verschreckten Ausdruck auf Miss Gilchrists Gesicht bemerkte, sagte sie rasch: «Miss Gilchrist? Ich bin die Nichte von Mrs.

Lansquenet - Susan Banks.»

«Aber ja, natürlich. Ich wusste ja nicht ... Aber kommen Sie doch herein, Mrs. Banks. Passen Sie auf die Garderobe auf -sie steht etwas vor. Hier hinein, ja. Ich wusste gar nicht, dass Sie zu der gerichtlichen Untersuchung kommen wollten. Ich hätte doch etwas vorbereitet - einen Kaffee oder so etwas.»

Susan Banks unterbrach sie entschieden. «Ich möchte nichts. Es tut mir wirklich leid, wenn ich Sie erschreckt habe.»

«Ja, irgendwie haben Sie das schon. Sehr dumm von mir. Normalerweise bin ich gar nicht ängstlich. Ich sagte dem Notar sogar, ich hätte keine Angst und es würde mir nichts ausmachen allein hier zu bleiben, und eigentlich habe ich auch keine Angst. Aber - vielleicht ist es ja auch nur wegen der gerichtlichen Untersuchung und ... wie die Gedanken eben so gehen, aber ich bin den ganzen Morgen schon etwas schreckhaft. Gerade vor einer halben Stunde hat es an der Tür geklingelt und ich musste mich zwingen hinzugehen - was ja wirklich sehr dumm von mir ist, es ist doch unwahrscheinlich, dass der Mörder noch mal herkommen sollte - warum auch? Und dann war es nur eine Nonne, die für ein Waisenheim Spenden sammelte - und ich war so erleichtert, dass ich ihr zwei Shilling gegeben habe, obwohl ich nicht katholisch bin und eigentlich überhaupt nichts für die katholische Kirche übrig habe und für die ganzen Mönche und Nonnen, auch wenn ich glaube, dass die Schwestern der Barmherzigkeit viel Gutes tun. Aber setzen Sie sich doch bitte, Mrs. - Mrs -»

«Banks.»

«Natürlich, Mrs Banks. Sind Sie mit dem Zug gekommen?»

«Nein, mit dem Auto. Aber die Straße ist so eng, dass ich ein Stück weitergefahren bin und in dem aufgelassenen Steinbruch geparkt habe.»

«Die Straße ist wirklich sehr schmal, aber es gibt auch kaum Verkehr. Sehr einsam ist es hier.»

Miss Gilchrist schauderte ein wenig, als sie das sagte.

Susan Banks sah sich im Zimmer um.

«Die arme Tante Cora», sagte sie. «Sie wissen, dass sie alles mir vererbt hat?»

«Ja, das weiß ich. Mr. Entwhistle hat es mir gesagt. Wahrscheinlich freuen Sie sich über die Möbel. Soweit ich weiß, sind Sie frisch verheiratet, und heutzutage sind Möbel ja so teuer. Mrs. Lansquenet hatte ein paar sehr schöne Sachen.»

Dieser Ansicht konnte sich Susan nicht anschließen. An Antiquitäten hatte Cora keinen Geschmack gefunden. Die Möbel bestanden aus einer Mischung aus modernistisch und kunstgewerblich.

«Von den Möbeln brauche ich nichts», antwortete sie. «Ich habe meine eigenen Sachen. Deswegen werde ich alles versteigern lassen. Es sei denn - hätten Sie denn gerne das eine oder andere Stück? Ich wurde mich freuen ...»

Etwas verlegen brach sie ab. Aber Miss Gilchrist war keineswegs verlegen; sie strahlte.

«Das ist wirklich sehr nett von Ihnen, Mrs. Banks, wirklich sehr nett. Und sehr hochherzig. Aber wissen Sie, ich habe meine eigenen Möbel aufgehoben; ich habe sie eingelagert für den Fall, dass ich sie - irgendwann einmal - brauchen könnte. Und die paar Bilder, die mein Vater mir hinterließ. Wissen Sie, ich hatte früher einen kleinen Teesalon, aber dann ist der Krieg gekommen ... es war alles sehr traurig. Aber ich habe nicht alles verkauft, weil ich nie die Hoffnung aufgegeben habe, eines Tages vielleicht doch wieder mein eigenes kleines Heim zu haben; also habe ich die besten Stücke eingelagert, zusammen mit den Bildern meines Vaters und einigen Erinnerungen an unser altes Zuhause. Aber was ich schrecklich gerne hätte, wenn Sie wirklich nichts dagegen haben, das wäre der kleine bemalte Teetisch von Mrs. Lansquenet. Er ist so hübsch und wir haben immer unseren Tee daran getrunken.»

Mit einem leichten Schauder betrachtete Susan den kleinen grünen, mit großen lilafarbenen Clematisblüten bemalten Tisch und erwiderte rasch, sie würde sich sehr freuen, wenn Miss Gilchrist ihn nehmen würde.

«Haben Sie vielen Dank, Mrs. Banks. Ich komme mir doch ein bisschen habgierig vor. Wissen Sie, jetzt habe ich die ganzen wunderschönen Bilder von ihr bekommen und außerdem eine hübsche Amethystbrosche; aber ich finde, die sollte ich Ihnen zurückgeben.»

«Nein, gar nicht.»

«Sie möchten ihre Sachen durchsehen? Vielleicht nach der gerichtlichen Untersuchung?»

«Ich hatte mir überlegt, zwei Tage hier zu bleiben, alles zu sichten und zu ordnen.»

«Sie wollen hier schlafen?»

«Ja. Ist das ein Problem?»

«Aber nein, Mrs. Banks, natürlich nicht. Ich werde Ihnen mein Bett frisch beziehen, und ich kann hier unten auf dem Sofa schlafen.»

«Aber es gibt doch noch Tante Coras Zimmer, oder nicht? Kann ich nicht dort schlafen?»

«Das - das würde Sie nicht stören?»

«Sie meinen, weil sie dort ermordet worden ist? Aber nein, das stört mich ganz und gar nicht. Ich bin aus zähem Holz geschnitzt, Miss Gilchrist. Es ist doch ... ich meine ... Es ist doch wieder in Ordnung?»

Miss Gilchrist verstand die Frage sofort.

«Aber natürlich, Mrs. Banks. Alle Decken sind in der Reinigung, und Mrs. Panter und ich haben das ganze Zimmer von oben bis unten geschrubbt. Und wir haben reichlich Ersatzdek-ken. Aber kommen Sie doch mit nach oben und sehen Sie selbst.»

Sie ging Susan voraus die Treppe hinauf.

Das Zimmer, in dem Cora Lansquenet gestorben war, roch sauber und frisch, und die Atmosphäre hatte gar nichts Düsteres an sich. Wie im Wohnzimmer bestand die Einrichtung auch hier aus einer Mischung von modernen, praktischen Stücken und bunt bemalten Möbeln, was Coras unbedarfte, geschmacklose Persönlichkeit genau widerspiegelte. Über dem Kamin hing ein Ölbild, auf dem eine üppige junge Frau gerade ins Bad stieg.

Susan bekam fast eine Gänsehaut, als sie es betrachtete. «Das hat Mrs. Lansquenets Mann gemalt», erläuterte Miss Gilchrist. «Unten im Esszimmer hängen noch viel mehr von seinen Bildern.»

«Wie schrecklich.»

«Nun ja, mir selbst gefällt die Art Malerei auch nicht besonders - aber Mrs. Lansquenet war sehr stolz auf ihren Mann als Maler und fand, dass sein Werk völlig zu Unrecht unterschätzt wurde.»

«Wo sind Tante Coras Bilder?»

«In meinem Zimmer. Möchten Sie sie sehen?»

Stolz führte Miss Gilchrist ihre Schätze vor.

Susan meinte, ihre Tante habe offenbar eine Vorliebe für Seebäder gehabt.

«Das ist wahr. Wissen Sie, sie hat mit Mr. Lansquenet jahrelang in einem kleinen Fischerdorf in der Bretagne gelebt. Fischerboote sind einfach zu malerisch, finden Sie nicht?»

«Offensichtlich», murmelte Susan. Nach Cora Lansquenets Bildern - detailgetreue und sehr bunte Darstellungen - hätte man eine ganze Postkartensammlung produzieren können, dachte sie. In ihr stieg sogar der Verdacht auf, dass sie von Postkarten abgemalt worden waren.

Doch als sie diese Vermutung äußerte, zeigte sich Miss Gilchrist empört. Mrs. Lansquenet hatte immer nach der Natur gemalt! Einmal hatte sie sich sogar einen leichten Sonnenstich geholt, nur weil sie sich weigerte, ihren Malplatz zu verlassen, solange das Licht so schön war.

«Mrs. Lansquenet war eine richtige Künstlerin», schloss Miss Gilchrist vorwurfsvoll.

Sie warf einen Blick auf ihre Uhr.

«Ja, wir sollten uns auf den Weg machen», meinte Susan. «Ist es weit? Soll ich den Wagen holen?»

Aber Miss Gilchrist versicherte, zu Fuß seien es nur fünf Minuten. Gemeinsam verließen sie das Haus. Mr. Entwhistle, der mit dem Zug gekommen war, gesellte sich zu ihnen, und zu dritt betraten sie das Rathaus.

Eine große Zahl Fremder war gekommen. Die gerichtliche Untersuchung brachte nichts Sensationelles an den Tag. Die Identität der Toten wurde festgestellt. Ein medizinischer Gutachter erläuterte die Art der Verletzungen, an denen sie gestorben war. Nichts deute darauf, dass sie Gegenwehr geleistet habe. Die Tote habe zur Zeit des Überfalls vermutlich unter Drogen gestanden und sei völlig überrascht worden. Es sei unwahrscheinlich, dass der Tod später als vier Uhr dreißig eingetreten sei, vermutlich zwischen zwei Uhr und vier Uhr dreißig. Miss Gilchrist sagte aus, dass sie die Leiche gefunden hatte. Ein Polizist und Inspector Morton gaben ihr Zeugnis ab. Zum Schluss fasste der Untersuchungsrichter die Aussagen kurz zusammen, woraufhin die Geschworenen einstimmig auf «Mord durch einen oder mehrere Unbekannte» befanden.

Es war vorüber. Sie traten wieder ins Sonnenlicht hinaus. Ein halbes Dutzend Kameras klickte. Mr. Entwhistle führte Susan und Miss Gilchrist ins Kings Arms, wo er vorsorglich einen Tisch in einem abgetrennten Raum hinter der Bar reserviert hatte.

«Das Essen ist nicht allzu gut», meinte er entschuldigend.

Aber das Essen war ausgezeichnet. Miss Gilchrist schniefte ein wenig und murmelte, alles sei so schrecklich, aber nachdem Mr. Entwhistle ihr ein Glas Sherry aufgedrängt hatte, besserte sich ihre Stimmung und sie aß das Irishstew mit herzhaftem Appetit.

«Ich hatte keine Ahnung, dass Sie heute herkommen wollten, Susan», sagte Mr. Entwhistle. «Wir hätten zusammen fahren können.»

«Ich weiß, dass ich gesagt hatte, ich würde nicht kommen. Aber ich hätte es ziemlich herzlos gefunden, wenn niemand von der Familie da gewesen wäre. Ich habe George angerufen, aber er sagte, er hätte zu viel zu tun und könne unmöglich kommen, Rosamund hatte irgendeinen Termin zum Vorsprechen, und Onkel Timothy ist ja ein Wrack. Also musste ich kommen.»

«Ihr Mann wollte Sie nicht begleiten?»

«Greg musste mit seinem Laden abrechnen.»

Als sie den bestürzten Ausdruck auf Miss Gilchrists Gesicht bemerkte, erklärte sie: «Mein Mann arbeitet in einer Apotheke.»

Miss Gilchrist konnte einen Ehemann, der hinter einer Ladentheke arbeitete, zwar überhaupt nicht mit Susans Weltgewandtheit in Einklang bringen, aber sie schlug sich tapfer. «Ach, genau wie Keats», meinte sie verbindlich.

«Greg ist kein Dichter», widersprach Susan und fuhr dann fort: «Wir haben große Pläne für die Zukunft - ein Unternehmen, das zweigleisig fährt. Ein Schönheitssalon und dazu ein Labor, in dem wir unsere eigene Kosmetik herstellen.»

«Sehr schön.» Es war offensichtlich, dass diese Idee Miss Gilchrists Billigung fand. «So etwas wie Elizabeth Arden, die ja eigentlich eine Gräfin ist, wie ich gehört habe - oder ist das Helena Rubenstein? Auf jeden Fall», fügte sie wohlwollend hinzu, «eine Apotheke ist ja etwas völlig anderes als ein gewöhnliches Geschäft, wo Stoffe verkauft werden oder Lebensmittel.»

«Sie sagten doch, Sie hätten einen Teesalon gehabt, nicht?»

«Ja.» Miss Gilchrist strahlte. Dass das Willow Tree im weiteren Sinn auch ein Geschäft gewesen war, auf die Idee wäre sie nie gekommen. Einen Teesalon zu führen war in ihren Augen der Inbegriff des vornehmen Lebenswandels. Sie begann, Susan vom Willow Tree zu erzählen.

Mr. Entwhistle, der das alles schon einmal gehört hatte, überließ sich seinen Gedanken. Susan musste ihn zweimal ansprechen, bevor er reagierte.

«Verzeihen Sie, meine Liebe», entschuldigte er sich. «Ich habe gerade an Ihren Onkel Timothy gedacht. Ich mache mir Sorgen.»

«Über Onkel Timothy? Das ist nicht nötig. Eigentlich glaube ich nicht, dass ihm irgendetwas fehlt. Er ist bloß ein Hypochonder.»

«Ja ja, vielleicht haben Sie Recht. Aber ehrlich gesagt mache ich mir weniger Sorgen um ihn als vielmehr um Mrs. Timothy. Offenbar ist sie die Treppe hinuntergefallen und hat sich den Knöchel verstaucht. Sie muss die ganze Zeit liegen und Ihr Onkel ist völlig überfordert.»

«Weil er zur Abwechslung sie pflegen muss und nicht umgekehrt, wie sonst? Das wird ihm nur gut tun», antwortete Susan.

«Ja, da haben Sie wohl Recht. Aber wird Ihre Tante überhaupt gepflegt werden? Das ist die Frage. Ohne Dienstboten im Haus?»

«Für ältere Menschen ist das Leben wirklich höllisch schwer», spöttelte Susan. «Die beiden leben doch in einem alten Herrenhaus, oder?»

Mr. Entwhistle nickte.

Wachsam nach Presseleuten Ausschau haltend, verließen sie das Kings Arms, aber die Reporter hatten sich verzogen.

Allerdings warteten zwei vor dem Cottage. Mit dem Beistand von Mr. Entwhistle gab Susan einige nichtssagende, aber notwendige Erklärungen ab, dann gingen sie und Miss Gilchrist ins Haus. Mr Entwhistle kehrte unterdessen zum Kings Arms zurück, wo er sich für die Nacht ein Zimmer genommen hatte. Am folgenden Tag sollte die Beerdigung stattfinden.

«Mein Wagen steht noch im Steinbruch», sagte Susan. «Das hatte ich ganz vergessen. Ich fahre ihn nachher ins Dorf.»

«Aber nicht zu spät.» Miss Gilchrist klang besorgt. «Sie werden doch nicht in der Dunkelheit rausgehen wollen?»

Susan sah sie an und lachte.

«Sie glauben doch nicht, dass sich noch ein Mörder hier herumtreibt, oder?»

«Nein nein, wahrscheinlich nicht.» Miss Gilchrist sah betreten drein.

Aber genau das glaubt sie, dachte Susan. Unvorstellbar!

Miss Gilchrist war in der Küche verschwunden.

«Sie werden den Tee sicher früh haben wollen. In einer halben Stunde vielleicht? Was meinen Sie, Mrs. Banks?»

Susan fand Tee um halb vier zwar etwas verfrüht, aber sie war barmherzig, eine gute Tasse Tee stellte für Miss Gilchrist wohl die beste Art dar, die Nerven zu beruhigen. Und da sie die Hausdame ihrer Tante aus bestimmten Gründen freundlich stimmen wollte, sagte sie «Wann immer es Ihnen recht ist, Miss Gilchrist.»

In der Küche begann ein munteres Klappern von Geschirr und Töpfen. Susan setzte sich ins Wohnzimmer. Wenige Minuten später läutete es an der Tür, gefolgt von einem stakkatoartigen Klopfen.

Susan ging in den Flur, und im selben Augenblick trat Miss Gilchrist aus der Küche, sie hatte eine Schürze umgebunden und wischte sich die bemehlten Hände daran ab. «Gottchen, wer kann das denn sein?»

«Noch ein paar Reporter, vermute ich», sagte Susan.

«Sie werden aber auch gar nicht in Ruhe gelassen, Mrs. Banks.»

«Da kann man nichts machen. Ich kümmere mich darum.»

«Ich wollte gerade zum Tee ein paar süße Brötchen backen.»

Während Susan zur Haustur ging, blieb Miss Gilchrist zögernd im Flur stehen. Susan fragte sich, ob ihre Gastgeberin wohl befürchtete, draußen könnte ein Mann mit einem Beil lauern.

Doch der Besucher erwies sich als älterer Herr, der höflich den Hut zog, als Susan ihm die Tür öffnete. Er strahlte sie beinahe verschmitzt an.

«Mrs. Banks, nehme ich an?», sagte er.

«Ja.»

«Ich heiße Guthrie, Alexander Guthrie. Ich bin ein Freund -ein sehr alter Freund von Mrs. Lansquenet. Ich vermute, Sie sind ihre Nichte, die frühere Miss Susan Abernethie?»

«In der Tat.»

«Da wir also wissen, wer wir sind - darf ich dann eintreten?»

«Natürlich.»

Umständlich streifte Mr. Guthrie die Füße an der Matte ab, trat ins Innere, entledigte sich seines Mantels, legte ihn mitsamt dem Hut auf die kleine Eichentruhe und folgte dann Susan ins Wohnzimmer.

«Ein trauriger Anlass», sagte Mr. Guthrie, der von Natur aus kein Kind von Traurigkeit schien, sondern ganz im Gegenteil offenbar meist strahlte. «Ein sehr trauriger Anlass. Ich war zufällig gerade in der Gegend und dachte mir, das Mindeste, was ich tun könnte, wäre, zur gerichtlichen Untersuchung zu gehen - und natürlich zur Beerdigung. Die arme Cora, die arme, närrische Cora. Ich kenne sie praktisch seit ihrer Hochzeit, müssen Sie wissen, Mrs. Banks. Eine temperamentvolle junge Frau - und sie hat die Malerei sehr ernst genommen - sie hat Pierre Lansquenet sehr ernst genommen - als Maler, meine ich. Im Großen und Ganzen war er ihr kein so schlechter Ehemann. Er hat gern das Auge schweifen lassen, wenn Sie wissen, was ich meine, ja, das hat er gerne - aber Cora fand zum Glück, dass das zu seiner Künstlernatur gehörte. Er war ein Künstler und deswegen unmoralisch! Vielleicht ging sie sogar noch weiter und meinte, er sei unmoralisch und darum ein Künstler! Überhaupt keinen Kunstverstand hatte sie, die arme Cora -obwohl sie in anderer Hinsicht sehr scharfsichtig war, das muss man sagen - ungemein scharfsichtig sogar.»

«Das sagen alle», erwiderte Susan. «Ich habe sie kaum gekannt.»

«Nein, sie hatte mit der Familie gebrochen, weil niemand ihren heiß geliebten Pierre richtig zu schätzen wusste. Sie war ja keine hübsche Frau - aber sie hatte ein gewisses Etwas. Und man konnte so viel Spass mit ihr haben! Man wusste nie, was sie als Nächstes sagen würde, und man wusste auch nie, ob ihre Naivität echt war oder nur gespielt. Wir haben immer viel mit ihr gelacht. Ein ewiges Kind - das war sie für uns immer. Und als ich sie das letzte Mal sah - ich habe sie auch nach Pierres Tod hin und wieder besucht -, da kam sie mir immer noch wie ein Kind vor.»

Susan bot Mr. Guthrie eine Zigarette an, aber der alte Herr lehnte mit einem Kopfschütteln ab.

«Danke, liebe Mrs. Banks, aber ich rauche nicht. Sicher fragen Sie sich, warum ich gekommen bin. Um ehrlich zu sein, ich habe ein schlechtes Gewissen. Ich hatte Cora vor einigen Wochen versprochen, sie zu besuchen. Meistens habe ich sie einmal im Jahr gesehen, und in letzter Zeit hatte sie ja angefangen, auf Flohmärkten Bilder zu kaufen, und sie wollte, dass ich sie mir ansehe. Ich bin von Beruf Kunstkritiker, müssen Sie wissen. Die meisten Bilder, die Cora gekauft hat, waren natürlich schauerlich, aber im Grunde ist es gar kein so schlechtes Geschäft. Auf diesen Flohmärkten kann man Bilder ja für einen Appel und ein Ei bekommen, und oft sind die Rahmen allein schon mehr wert, als man dafür bezahlt. Zu den großen Auktionen gehen natürlich immer Kunsthändler hin, und Meisterwerke findet man kaum. Aber gerade neulich wurde beim Verkauf eines Bauernhofs ein kleiner Cuyp für ein paar Pfund versteigert. Die Geschichte dahinter war sehr interessant. Eine Kinderfrau hatte das Bild von der Familie geschenkt bekommen, bei der sie jahrelang gearbeitet hatte; niemand hatte eine Ahnung, wie wertvoll es in Wirklichkeit war. Die Kinderfrau gab es einem Neffen, der Bauer war und dem das Pferd darauf so gut gefiel, aber sonst hielt er es einfach für ein etwas ver-drecktes altes Bild. Doch, solche Sachen kommen manchmal wirklich vor, und Cora war überzeugt, dass sie einen Blick für Gemälde hatte. Leider stimmte das nicht. Letztes Jahr bat sie mich zu kommen, um mir einen Rembrandt anzusehen. Einen Rembrandt! Es war nicht mal eine halbwegs anständige Kopie von einem! Aber einmal hat sie einen ganz schönen Stich von Bartolozzi ergattert - leider hatte er ein paar Stockflecken. Ich habe es für dreißig Pfund für sie verkauft, und das hat sie natürlich noch mehr angespornt. Als Letztes schrieb sie mir ganz euphorisch von einem italienischen Primitiven, den sie auf einem Trödelmarkt gekauft hätte, und sie hat mir das Versprechen abgenommen, dass ich ihn mir ansehe.»

«Wahrscheinlich meinte sie das da drüben», sagte Susan und deutete auf die Wand hinter sich.

Mr. Guthrie erhob sich, setzte sich die Brille auf und betrachtete den Stich.

«Die arme Cora», urteilte er nach einer Weile.

«Da sind noch viele andere», meinte Susan.

Mr. Guthrie begann eine eingehende Untersuchung der Kunstschätze, die Mrs. Lansquenet so hoffnungsvoll erworben hatte. Gelegentlich machte er ein verwundertes Geräusch, manchmal stöhnte er.

Schließlich nahm er die Brille wieder ab.

«Schmutz ist etwas Wunderbares, Mrs. Banks», erklärte er. «Es verleiht auch den schauderhaftesten Beispielen der Malerei eine romantische Patina. Ich fürchte, der Bartolozzi war reines Anfängerglück. Die arme Cora. Aber immerhin ist ihr Leben dadurch interessant geworden. Ich bin wirklich froh, dass ich ihr nicht ihre Illusionen rauben musste.»

«Im Esszimmer hängen auch ein paar Bilder», sagte Susan. «Aber ich glaube, die sind alle von ihrem Mann.»

Mr. Guthrie schauderte ein wenig und machte eine abwehrende Geste.

«Bitte zwingen Sie mich nicht, mir die noch einmal anzusehen. Aktklassen sind vieler Scheußlichkeiten Anfang! Ich habe mich aber immer bemüht, Coras Gefühle nicht zu verletzen. Sie war eine aufopferungsvolle Ehefrau - eine sehr aufopferungsvolle. Nun, meine liebe Mrs. Banks, ich darf Ihre Zeit nicht über Gebühr in Anspruch nehmen.»

«Ach, bleiben Sie doch noch zum Tee! Ich glaube, er wird bald fertig sein.»

«Das ist sehr freundlich von Ihnen.» Ohne Umschweife nahm Mr. Guthrie wieder Platz.

«Ich schaue nur kurz nach.»

In der Küche holte Miss Gilchrist gerade ein letztes Backblech mit süßen Brötchen aus dem Ofen. Das Tablett mit den Teesachen war bereits gedeckt, der Deckel des Kessels klapperte leise.

«Ein Mr. Guthrie ist gekommen und ich habe ihn eingeladen, mit uns Tee zu trinken.»

«Mr. Guthrie? Ja, er war gut mit Mrs. Lansquenet befreundet, der lieben Seele. Er ist der berühmte Kunstkritiker. Was für ein Glück - ich habe reichlich süße Brötchen gebacken, und es gibt auch noch ein bisschen selbst gemachte Erdbeermarmelade, und dann habe ich noch schnell ein paar Buttertörtchen zusammengerührt. Ich gieße nur noch den Tee auf - die Kanne ist schon vorgewärmt. Aber bitte, Mrs. Banks, tragen Sie doch nicht das schwere Tablett. Ich komme gut allein mit allem zurecht.»

Ihrem Protest zum Trotz brachte Susan das Tablett ins Wohnzimmer, Miss Gilchrist folgte mit der Teekanne und dem Kessel. Nachdem sie Mr. Guthrie begrüßt hatte, bedienten sich alle von den aufgetischten Köstlichkeiten.

«Heiße süße Brötchen, was für ein Luxus!», schwärmte Mr. Guthrie. «Und so köstliche Marmelade. Kein Vergleich zu dem Zeug, das man heute zu kaufen bekommt.»

Miss Gilchrist errötete vor Freude. Die Buttertörtchen waren exzellent, ebenso wie die süßen Brötchen, und alle griffen herzhaft zu. Der Geist des Willow Tree hing in der Luft. Es war nicht zu übersehen, dass Miss Gilchrist hier in ihrem Element war.

«Ach, danke, vielleicht nehme ich es doch», sagte Mr. Guthrie, als Miss Gilchrist ihm das letzte Törtchen aufdrängte. «Obwohl ich ein etwas schlechtes Gewissen habe - so eine schöne Teestunde hier zu verbringen, wo die arme Cora so grausam ermordet wurde.»

Auf diese Bemerkung reagierte Miss Gilchrist mit unerwarteter viktorianischer Fortitüde.

«Aber Mrs. Lansquenet hätte gewollt, dass Sie einen guten Tee serviert bekommen. Sie müssen sich doch stärken!»

«Ja, ja, vielleicht haben Sie Recht. Aber wissen Sie, man kann einfach nicht glauben, dass jemand, den man kannte -persönlich kannte - ermordet worden ist!»

«Das ist wahr», stimmte Susan zu. «Es kommt einem - unglaublich vor.»

«Und noch dazu von einem Landstreicher, der einfach ins Haus eingebrochen ist und sie überfallen hat. Denn wissen Sie, ich könnte mir durchaus Gründe vorstellen, weswegen Cora hätte ermordet werden können .»

«Wirklich?» Susans Neugier erwachte sofort. «Welche Gründe sind das?»

«Nun, Diskretion war nicht gerade ihre Stärke», erklärte Mr. Guthrie. «Cora war nie diskret. Und es hat ihr Spaß gemacht -wie soll ich sagen? - zu zeigen, wie schlau sie war. Wie ein Kind, das ein Geheimnis kennt. Wenn Cora von einem Geheimnis erfuhr, dann wollte sie darüber reden. Selbst wenn sie versprochen hatte, wie ein Grab zu schweigen, hat sie es trotzdem ausgeplaudert. Sie konnte einfach nicht anders.»

Susan antwortete nicht, und auch Miss Gilchrist schwieg; sie wirkte ein wenig besorgt.

«Ja, eine kleine Dosis Arsen in ihren Tee - das hätte mich nicht gewundert», fuhr Mr. Guthrie fort, «oder eine vergiftete Schachtel Konfekt, die ihr zugeschickt wurde. Aber ein grausamer Raubüberfall - das passt so gar nicht. Ich mag mich täuschen, aber ich vermute, dass sie kaum etwas besaß, was einen Dieb hätte interessieren können. Sie hatte doch nicht viel Geld im Haus, oder?»

«Sehr wenig», sagte Miss Gilchrist.

Seufzend stand Mr. Guthrie auf.

«Ach, seit dem Krieg gibt es immer mehr Verbrecher. Die Zeiten sind anders geworden.»

Dann bedankte er sich für den Tee und verabschiedete sich höflich von den beiden Frauen. Miss Gilchrist brachte ihn zur Tür und half ihm in den Mantel. Durchs Wohnzimmerfenster sah Susan ihm nach, wie er mit flotten Schritten zum Gartentor ging.

Miss Gilchrist kehrte mit einem Päckchen in der Hand ins Zimmer zurück.

«Der Postbote muss hier gewesen sein, während wir bei der gerichtlichen Untersuchung waren. Er hat es durch den Briefschlitz gesteckt und es ist in die Ecke gefallen. Ich würde ja gerne wissen ... ach, das muss wohl ein Stück Hochzeitskuchen sein.»

Beglückt riss Miss Gilchrist das Papier auf, und eine weiße Schachtel mit einer silbernen Schleife kam zum Vorschein.

«Stimmt!» Sie löste das Band. In der Schachtel lag ein kleines Stück Früchtekuchen mit Marzipan und dickem weißem Zuckerguss. «Wie nett! Aber wer ...?» Sie schaute auf die beiliegende Karte. «John und Mary. Wer soll das denn sein? Wie dumm, dass sie nicht den Nachnamen hingeschrieben haben.»

Susan riss sich von ihren Gedanken los. «Manchmal ist es wirklich schwierig, wenn Leute nur mit Vornamen unterschreiben. Neulich bekam ich eine Postkarte von einer Joan. Ich habe nachgezählt und bin darauf gekommen, dass ich insgesamt acht Joans kenne. Und da man heute so viel telefoniert, kennt man von vielen Bekannten nicht einmal die Handschrift.»

Miss Gilchrist überlegte, welche Johns und Marys zu ihrem Freundeskreis zählten.

«Es könnte Dorothys Tochter sein - die heißt Mary, aber ich hatte nichts von einer Verlobung gehört, ganz zu schweigen von einer Hochzeit. Dann gibt es noch John Banfield - er ist mittlerweile wohl erwachsen und im heiratsfähigen Alter -oder das Mädchen aus Enfield - aber nein, die heißt Margaret. Kein Absender und nichts. Na ja, es wird mir schon noch einfallen ...»

Sie griff nach dem Tablett und trug es in die Küche.

Susan erhob sich ebenfalls. «Und ich sollte wahrscheinlich jetzt das Auto umparken», sagte sie.

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