IV


Außer Atem betrat Susan das Sommerhaus.

«Wo ist Greg? Er war doch eben noch hier! Ich habe ihn gesehen!»

«Ja.» Poirot zögerte einen Moment, ehe er fortfuhr. «Er war gekommen, um mir zu sagen, dass er Richard Abernethie vergiftet hat ...»

«Unsinn! Sie glauben ihm doch hoffentlich nicht?»

«Warum sollte ich ihm nicht glauben?»

«Er war nicht einmal in der Nähe, als Onkel Richard gestorben ist!»

«Vielleicht nicht. Und wo war er, als Cora Lansquenet gestorben ist?»

«In London. Ich war bei ihm.»

Hercule Poirot schüttelte den Kopf.

«Nein, damit gebe ich mich nicht zufrieden. Sie, zum Beispiel, sind an dem Tag mit Ihrem Wagen weggefahren und waren den ganzen Nachmittag unterwegs. Ich glaube, ich weiß, wo Sie waren. Sie sind nach Lytchett St. Mary gefahren.»

«Das bin ich nicht!»

Poirot lächelte.

«Als ich Ihnen hier begegnete, Madame, war es nicht - wie ich Ihnen sagte -, das erste Mal, dass ich Sie sah. Nach der gerichtlichen Untersuchung waren Sie in der Garage des Kings Arms. Dort redeten Sie mit einem Mechaniker, und in der Nähe stand ein Wagen mit einem älteren ausländischen Herrn. Sie haben ihn nicht bemerkt, aber er hat Sie bemerkt.»

«Ich weiß nicht, was Sie meinen. Das war am Tag der Untersuchung.»

«Ja, ja. Aber erinnern Sie sich, was der Mechaniker zu Ihnen sagte! Er fragte Sie, ob Sie eine Verwandte des Opfers wären, und Sie sagten, Sie wären ihre Nichte.»

«Der war nur sensationslüstern. Die sind alle sensationslüstern.»

«Und seine nächsten Worte waren: Wo hatte er Sie schon einmal gesehen, Madame? Es muss in Lytchett St. Mary gewesen sein, denn dass er Sie schon einmal gesehen hatte, erklärte sich für ihn durch die Tatsache, dass Sie Mrs. Lansquenets Nichte sind. Hatte er Sie vor ihrem Cottage gesehen? Und wann? Das war eine Frage, der man nachgehen musste, nein? Und das Ergebnis dieser Nachforschungen war, dass Sie an dem Nachmittag, an dem Cora Lansquenet starb, dort waren - in Lytchett St. Mary. Sie haben Ihren Wagen im selben Steinbruch geparkt wie am Morgen der gerichtlichen Untersuchung. Das Auto wurde gesehen, das Kennzeichen notiert. Inspector Morton weiß mittlerweile, wem der Wagen gehört.»

Susan starrte ihn an. Ihr Atem ging schneller, aber sie blieb völlig gefasst.

«Sie reden Unsinn, Monsieur Poirot. Und Sie lassen mich vergessen, weswegen ich hergekommen bin - ich wollte allein mit Ihnen reden .»

«Um mir zu gestehen, dass Sie und nicht Ihr Mann den Mord begangen haben?»

«Nein, natürlich nicht. Für wie dumm halten Sie mich? Außerdem habe ich Ihnen schon gesagt, dass Gregory an dem Tag London nicht verlassen hat.»

«Was Sie unmöglich wissen können, da Sie selbst nicht zu Hause waren. Warum, Mrs. Banks, sind Sie nach Lytchett St. Mary gefahren?»

Susan holte tief Luft.

«Also gut, wenn Sie es unbedingt wissen wollen! Ich war verstört wegen dem, was Cora bei der Beerdigung gesagt hatte. Ich musste immer wieder darüber nachdenken. Also beschloss ich, zu ihr zu fahren und sie zu fragen, was sie auf die Idee gebracht hatte. Greg fand das töricht, also habe ich ihm nicht einmal gesagt, wohin ich fahre. Ich war gegen drei Uhr da, habe geklopft und geklingelt, aber niemand hat aufgemacht, also dachte ich, dass sie beim Einkaufen war oder weggefahren. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Ich bin nicht hinters Haus gegangen. Sonst hätte ich vielleicht das kaputte Fenster gesehen. Ich bin einfach wieder nach London zurückgefahren, ohne zu ahnen, dass irgendetwas passiert war.»

Poirots Gesicht verriet keine Gemütsregung.

«Warum beschuldigt Ihr Mann sich des Verbrechens?», fragte er.

«Weil er ...» Susan sprach das Wort, das ihr auf den Lippen lag, nicht aus.

Poirot griff es auf.

«Sie wollten sagen,

«Greg spinnt nicht. Wirklich nicht.»

«Ich kenne seine Vergangenheit», sagte Poirot. «Bevor Sie ihm begegneten, war er einige Monate in der Nervenklinik Forsdyke House.»

«Es war keine Zwangseinweisung. Er war freiwillig dort.»

«Das ist wahr. Man kann ihn nicht als unzurechnungsfähig einstufen, das räume ich ein. Aber er ist eindeutig sehr labil. Er leidet an einem Bestrafungskomplex - wohl schon seit seiner Kindheit.»

Susan sprach schnell und heftig.

«Sie verstehen ihn nicht, Monsieur Poirot. Greg hat nie eine Chance gehabt. Deswegen wollte ich das Geld von Onkel Richard auch so dringend haben. Onkel Richard war zu rational. Er hat es nicht verstanden. Ich wusste, dass Greg ein eigenes Geschäft braucht. Er braucht das Gefühl, jemand zu sein - und nicht nur ein Apothekengehilfe, den man herumschubsen kann. Jetzt wird alles anders werden. Er bekommt sein eigenes Labor. Er kann seine eigenen Rezepturen herstellen.»

«Ja, ja - Sie bieten ihm den Himmel auf Erden - weil Sie ihn lieben. Ihre Liebe für ihn geht über jedes Maß und Ziel hinaus. Aber man kann einem Menschen nicht geben, was er nicht anzunehmen bereit oder fähig ist. Letzten Endes wird er immer noch sein, was er nicht sein will ...»

«Und das ist?»

«Susans Mann.»

«Sie sind grausam! Sie reden blanken Unsinn!»

«Wenn es um Gregory Banks geht, sind Sie skrupellos. Sie wollten das Geld Ihres Onkels - nicht für sich selbst - sondern für Ihren Mann. Wie dringend wollten Sie es denn?»

Aufgebracht machte Susan auf dem Absatz kehrt und rannte davon.

«Ich dachte, ich würde mich kurz von Ihnen verabschieden.» Michael Shanes Ton war gewinnend.

Er lächelte sein ungewöhnlich berückendes Lächeln.

Poirot wurde sich des gefährlichen Charmes dieses Mannes bewusst.

Ein paar Sekunden lang musterte er Michael Shane schweigend. Er hatte das Gefühl, ihn weniger gut als die anderen Familienmitglieder zu kennen, denn Michael Shane zeigte nur die Seite seines Wesens, die er andere sehen lassen wollte.

«Ihre Frau ist eine sehr ungewöhnliche Persönlichkeit», meinte Poirot im Plauderton.

Michael hob die Augenbrauen.

«Finden Sie? Ich gebe zu, sie ist bildschön. Aber meines Erachtens besticht sie nicht eben durch Intelligenz.»

«Sie wird nie versuchen, allzu klug zu sein», pflichtete Poirot ihm bei. «Aber sie weiß, was sie will.» Er seufzte. «Das tun nur sehr wenige Menschen.»

«Ah!» Auf Michaels Gesicht erschien wieder das Lächeln. «Sie denken an den Malachittisch?»

«Vielleicht.» Nach einer Pause fügte Poirot hinzu: «Und an das, was auf dem Tisch stand.»

«Die Wachsblumen, meinen Sie?»

«Die Wachsblumen.»

Michael runzelte die Stirn.

«Ich kann Ihnen nicht immer ganz folgen, Monsieur Poirot. Aber», das Lächeln wurde wieder angestellt, «ich bin Ihnen mehr als dankbar, dass wir jetzt Klarheit haben. Es ist, gelinde gesagt, unerquicklich, den Verdacht haben zu müssen, einer von uns könnte den armen alten Onkel Richard ermordet haben.»

«So kam er Ihnen vor, als Sie ihn sahen?», fragte Poirot. «Als armer alter Onkel Richard?»

«Nun ja, natürlich hatte er sich sehr gut gehalten und so ...»

«Und war im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte .»

«Auch das.»

«Sogar ziemlich schlau?»

«Das würde ich sagen.»

«Und ein großer Menschenkenner.»

Das Lächeln verschwand nicht.

«Sie dürfen nicht von mir erwarten, dass ich Ihnen da zustimme, Monsieur Poirot. Er mochte mich nicht.»

«Er hielt Sie womöglich für den Typ des untreuen Ehemannes?», fragte Poirot nach.

Michael lachte.

«Ein altmodisches Konzept!»

«Aber es entspricht der Wahrheit, nicht wahr?»

«Was meinen Sie bitte damit?»

Poirot legte die Fingerspitzen aneinander.

«Es wurden Erkundigungen eingezogen, müssen Sie wissen», murmelte er.

«Von Ihnen?»

«Nicht nur von mir.»

Michael Shane warf ihm einen kurzen, forschenden Blick zu. Er reagierte schnell, das fiel Poirot auf. Michael Shane war nicht dumm.

«Sie meinen - die Polizei ist neugierig geworden?»

«Die Polizei hat den Mord an Cora Lansquenet nie als Gelegenheitsverbrechen betrachtet.»

«Und sie haben angefangen, Erkundigungen über mich einzuziehen?»

«Sie interessieren sich für den Verbleib aller Anverwandten von Mrs. Lansquenet am Tag ihres Todes», erklärte Poirot spitz.

«Das ist sehr unangenehm.» Michaels Ton war charmant, vertraulich und reumütig.

«Tatsächlich, Mr. Shane?»

«Viel unangenehmer, als Sie sich vorstellen können! Sehen Sie, ich habe Rosamund erzählt, dass ich an dem Tag mit einem gewissen Oscar Lewis beim Essen war.»

«Wo Sie in Wirklichkeit etwas völlig anderes taten?»

«Ja. In Wirklichkeit bin ich mit dem Auto zu einer Frau namens Sorrel Dainton gefahren - eine ziemlich bekannte Schauspielerin. Ich bin mit ihr in ihrem letzten Stück aufgetreten. Das ist ziemlich unangenehm - die Polizei wird das zwar sicher zufrieden stellen, aber Rosamund wird nicht gerade glücklich sein, verstehen Sie.»

«Ah!» Poirot schlug einen diskreten Ton an. «War es wegen dieser Freundschaft zu Schwierigkeiten gekommen?»

«Ja ... Rosamund hat mir sogar das Versprechen abgenommen, mich nicht mehr mit ihr zu treffen.»

«Ja, ich verstehe, das könnte sehr unerfreulich werden ... entre nous, Sie hatten eine Affäre mit dieser Dame?»

«Ach, wie es eben so geht ... Es ist ja nicht, als würde mir an der Frau etwas liegen.»

«Aber ihr liegt viel an Ihnen?»

«Ach, sie ist ziemlich lästig geworden ... Frauen hängen sich wie Kletten an einen. Aber wie gesagt, die Polizei zumindest wird zufrieden gestellt sein.»

«Glauben Sie?»

«Na, ich könnte ja kaum mit einem Beil bewaffnet zu Cora fahren, wenn ich mich zu der Zeit meilenweit entfernt mit Sorrel amüsiert habe. Sie hat ein Cottage in Kent.»

«Ich verstehe, ich verstehe ... und diese Miss Dainton, sie wird für Sie aussagen?»

«Es wird ihr nicht gefallen - aber wenn’s um Mord geht, wird sie’s wohl tun müssen.»

«Sie könnte es auch tun, selbst wenn Sie sich nicht mit ihr amüsiert haben.»

«Was meinen Sie damit?» Auf einmal verfinsterte sich Michaels Blick.

«Die Dame ist Ihnen zugetan. Wenn Frauen einem Mann zugetan sind, erklären sie sich bereit, die Wahrheit zu beeidigen -und auch die Unwahrheit.»

«Wollen Sie sagen, dass Sie mir nicht glauben?»

«Es spielt keine Rolle, ob ich Ihnen glaube oder nicht. Sie brauchen mit Ihrer Auskunft nicht mich zufrieden zu stellen.»

«Wen dann?»

Poirot lächelte.

«Inspector Morton - der in diesem Augenblick durch den Seiteneingang auf die Terrasse getreten ist.»

Michael Shane wirbelte herum.

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