II


Als Lanscombe in der Küche ein Wort der Ermahnung sprechen wollte, wies Marjorie ihn scharf zurecht. Marjorie, die Köchin des Hauses, war jung, gerade siebenundzwanzig, und stellte Lanscombes Geduld immer wieder auf die Probe, weil sie überhaupt nicht dem Bild entsprach, das er sich von einer richtigen Köchin machte. Es fehlte ihr an Distinktion, und außerdem achtete sie seine, Lanscombes, Position zu gering. Immer wieder nannte sie das Haus ein «altes Mausoleum» und beschwerte sich über den weitläufigen Küchenbereich, «wo man zwischen Speisekammer und Spülküche eine halbe Tagesreise zurücklegen muss». Sie war seit zwei Jahren in Enderby und nur geblieben, weil sie zum einen gut bezahlt wurde und zum anderen, weil Mr. Abernethie ihre Kochkünste gebührend zu würdigen gewusst hatte. Sie kochte in der Tat sehr gut. Ja-net, die sich am Küchentisch zur Erholung eine Tasse Tee gönnte, war ein älteres Dienstmädchen, das zwar häufig erbitterte Wortkriege mit Lanscombe führte, sich aber gegen die jüngere Generation in Gestalt von Marjorie meist mit ihm verbündete. Die vierte Person, die sich in der Küche befand, war Mrs. Jacks, die nur bei besonderen Anlässen aushalf und der die Beerdigung gut gefallen hatte.

«Es war wunderschön», sagte sie mit einem gebührend sittsamen Schniefen, während sie sich Tee nachschenkte. «Neunzehn Autos, die Kirche war fast voll, und der Pfarrer hat die Messe wunderbar gelesen. Und schönes Wetter, genau richtig für eine Beerdigung. Ach, der arme Mr. Abernethie. Solche wie ihn gibt’s nicht mehr viele. Alle haben sie Respekt vor ihm gehabt.»

Ein Hupen war zu hören und dann ein Auto, das die Auffahrt heraufkam. Mrs. Jacks stellte ihre Tasse ab. «Da sind sie!», rief sie.

Marjorie drehte die Gasflamme unter dem großen Topf mit Hühnercremesuppe höher. Der überdimensionale Kochherd aus den Tagen viktorianischer Pracht stand kalt und unbenutzt da, wie ein der Vergangenheit geweihter Schrein.

Die Wagen fuhren nacheinander vor und die schwarz gekleideten Insassen stiegen aus und gingen zögernd durch die Eingangshalle in den großen grünen Salon. In Anbetracht der ersten frischen Herbsttage brannte im Kamin ein Feuer, und auch wegen der Trauergäste, die nach dem Herumstehen bei der Beerdigung sicher frösteln würden.

Lanscombe betrat den Raum und bot auf einem Silbertablett Gläser mit Sherry an.

Mr. Entwhistle, Seniorpartner der alteingesessenen und angesehenen Firma Bollard, Entwhistle, Entwhistle and Bollard, stand am Feuer und ließ sich den Rücken wärmen. Er nahm ein Glas Sherry entgegen und musterte die Versammelten mit dem scharfen Blick des Notars. Nicht alle Anwesenden waren ihm persönlich bekannt, und er musste sie sozusagen erst zuordnen. Die Vorstellungen vor der Abfahrt zum Trauergottesdienst waren flüchtig und nur im Flüsterton gemacht worden.

Als Erstes betrachtete er den alten Lanscombe. «Der ist schon ziemlich wackelig auf den Beinen», dachte Mr. Entwhistle. «Wenn mich nicht alles täuscht, geht er auf die neunzig zu. Na, er bekommt ja eine nette Leibrente. Der hat ausgesorgt. Treue Seele. So altmodisches Dienstpersonal bekommt man heute gar nicht mehr. Hilfskräfte und Babysitter, was anderes gibt’s nicht. Es ist schon ein Jammer. Ein Segen, vielleicht, dass Richard vor seiner Zeit abgetreten ist. Wahrscheinlich hatte er nichts mehr, was ihn noch am Leben hielt.»

Für Mr. Entwhistle mit seinen zweiundsiebzig Jahren war Richard Abernethies Tod im Alter von achtundsechzig eindeutig verfrüht. Der Notar hatte sich zwei Jahre zuvor aus dem aktiven Geschäft zurückgezogen, aber als Richard Abernethies Testamentsvollstrecker und aus Respekt vor einem seiner ältesten Klienten, mit dem er auch persönlich befreundet gewesen war, hatte er die Reise nach Nordengland auf sich genommen.

Während er im Geiste die Verfügungen des Testaments durchging, betrachtete er die Familienmitglieder.

Mrs. Leo - Helen - kannte er natürlich gut. Sie war eine reizende Dame, die er gerne mochte und auch schätzte. Er betrachtete sie mit Sympathie dort neben dem Fenster. Schwarz stand ihr besonders gut. Sie hatte auf ihre Figur geachtet. Ihm gefielen die klar geschnittenen Züge, der Schwung, mit dem die grauen Haare von den Schläfen nach hinten gekämmt waren, und die Augen, die früher mit Kornblumen verglichen worden und auch heute noch leuchtend blau waren.

Wie alt Helen jetzt wohl sein mochte? Etwa ein- oder zweiundfünfzig, vermutete er. Seltsam, dass sie nach Leos Tod nie wieder geheiratet hatte. Sie war eine attraktive Frau. Aber die beiden waren einander sehr zugetan gewesen.

Sein Blick wanderte weiter zu Mrs. Timothy. Sie kannte er kaum. Schwarz war nicht ihre Farbe - sie war eine Frau für Tweed. Eine kräftige, vernünftige, lebenstüchtige Person, die Timothy immer eine aufopferungsvolle Ehefrau gewesen war. Hatte sich um seine Gesundheit gekümmert, hatte ihn umsorgt - wahrscheinlich etwas zu sehr. Ob Timothy wirklich etwas fehlte? In Mr. Entwhistles Augen war er ein Hypochonder. Der Meinung war Richard Abernethie auch gewesen. «Als Junge ein bisschen schwach auf der Brust, natürlich», hatte er immer gesagt. «Aber dass ihm jetzt noch was fehlt, das glaube ich wirklich nicht.» Nun ja, jeder brauchte ein Steckenpferd, und Timothys Steckenpferd war nun einmal die alles bewegende Frage seiner Gesundheit. Ob Mrs. Tim ihm das wirklich abnahm? Wahrscheinlich nicht - aber solche Sachen gaben Frauen ja nie zu. Timothy musste sein gutes Auskommen haben, er hatte das Geld nie zum Fenster hinausgeworfen. Aber der warme Segen würde ihm durchaus gelegen kommen - vor allem heutzutage mit den hohen Steuern. Seit dem Krieg hatte er seinen Lebensstandard sicher drastisch senken müssen.

Jetzt wandte Mr. Entwhistle seine Aufmerksamkeit George Crossfield zu, dem Sohn Lauras. Laura hatte ja einen sehr dubiosen Kerl geheiratet, über den man nie viel erfahren hatte. Angeblich Börsenmakler. Der junge George war in einer Anwaltskanzlei - keine sehr angesehene Firma. Gut aussehend, aber irgendwie verschlagen. Allzu viel zum Leben hatte der bestimmt nicht. Laura hatte mit ihren Geldanlagen kein gutes Händchen bewiesen. Bei ihrem Tod vor fünf Jahren hatte sie so gut wie nichts hinterlassen. Sie war ein hübsches, verträumtes Mädchen gewesen, aber ohne den geringsten Sinn fürs Finanzielle.

Mr. Entwhistles Blick wanderte von George Crossfield weiter zu den beiden jungen Frauen. Welche war welche? Ach ja, das war Geraldines Tochter Rosamund, die sich gerade die Wachsblumen auf dem Malachittisch ansah. Ein hübsches Ding, bildhübsch sogar - etwas dümmliches Gesicht. Schauspielerin. Bei einer Boulevardtruppe oder so was Ähnliches. Zu allem Überfluss hatte sie auch noch einen Schauspieler geheiratet. Gut aussehender Kerl. «Und das weiß er», dachte Mr. Entwhistle, der große Vorbehalte gegen das Theatervolk hegte. «Ich würde ja gerne wissen, aus was für einer Familie der kommt.»

Missbilligend betrachtete er Michael Shane mit seinen blonden Haaren und dem Charme, der hageren Männern eigen ist.

Susan, Gordons Tochter, würde sich auf der Bühne viel besser machen als Rosamund. Mehr Persönlichkeit. Vielleicht mehr, als im Alltag gut ist. Sie stand ganz in seiner Nähe, darum beobachtete Mr. Entwhistle sie nur verstohlen. Dunkle Haare, haselnussfarbene - fast goldene - Augen, ein attraktiver, etwas trotziger Mund. Neben ihr stand ihr Ehemann, den sie erst vor kurzem geheiratet hatte - ein Apothekengehilfe, soweit er wusste. Ein Apothekengehilfe, man stelle sich nur vor! Mr. Entwhistles Ansicht nach heirateten junge Frauen keine Männer, die hinter einer Ladentheke arbeiteten. Aber heutzutage heirateten sie ja jeden Dahergelaufenen. Der junge Mann mit dem blassen, nichtssagenden Gesicht und den dunkelblonden Haaren machte den Eindruck, als sei ihm unbehaglich zumute. Mr. Entwhistle fragte sich nach dem Grund, kam dann aber zu dem wohlwollenden Schluss, das käme von der Anstrengung, die große Verwandtschaft seiner Frau kennenzulernen.

Als Letztes nahm Mr. Entwhistle schließlich Cora Lansquenet in Augenschein. Das entbehrte nicht einer gewissen Logik, denn Cora war in der Familie immer der Nachzügler gewesen, Richards jüngste Schwester. Ihre Mutter, bei der Geburt fast fünfzig, hatte die zehnte Niederkunft (drei Kinder waren noch im Säuglingsalter gestorben) nicht überlebt. Die arme kleine Cora! Ihr ganzes Leben war sie eine blamable Gestalt gewesen und immer mit Bemerkungen herausgeplatzt, die besser ungesagt geblieben wären. Ihre Geschwister waren immer sehr nett zu ihr gewesen, hatten ihre Unzulänglichkeiten wettgemacht und ihre gesellschaftlichen Fauxpas überspielt. Niemand hatte sich träumen lassen, dass Cora je heiraten würde. Sie war zu groß geraten, etwas einfältig und nicht besonders hübsch gewesen, und ihre allzu auffälligen Annäherungsversuche an die jungen Männer, die nach Enderby zu Besuch kamen, hatten diese meist zu verschreckten Rückzugsmanövern veranlasst. Und dann, erinnerte sich Mr. Entwhistle, war die Sache mit Lansquenet passiert - Pierre Lansquenet, ein halber Franzose. Sie hatte ihn an einer Kunstakademie kennen gelernt, wo sie Unterricht im Malen von Blumenaquarellen genommen hatte, was ja durchaus schicklich war. Aber irgendwie war sie in den Kurs für Aktmalerei geraten, und dort war sie Pierre Lansquenet begegnet, war nach Hause gekommen und hatte verkündet, sie wolle ihn heiraten. Richard Abernethie hatte energisch Einspruch erhoben - dieser Pierre Lansquenet gefiel ihm nicht, und er vermutete, dass der junge Mann im Grunde nur auf eine wohlhabende Ehefrau aus war. Aber noch während er Nachforschungen über Lansquenets Herkunft anstellte, war Cora mit dem Kerl durchgebrannt und hatte ihn kurzerhand geheiratet. Den Großteil ihrer Ehe hatten die beiden in der Bretagne, in Cornwall und anderen Künstlerkolonien verbracht. Lansquenet war ein sehr schlechter Maler gewesen und, wie es hieß, kein sehr netter Mann, aber Cora hatte ihn hingebungsvoll geliebt und ihrer Familie nie verziehen, dass sie ihn nicht freundlich aufgenommen hatte. Richard hatte seiner jüngsten Schwester auf seine großzügige Art jedes Jahr eine Leibrente ausgezahlt, und von dem Geld hatten die beiden gelebt, soweit Mr. Entwhistle wusste. Er bezweifelte, dass Lansquenet je auch nur ei-nen Penny verdient hatte. Jetzt war er wohl schon seit zwölf oder mehr Jahren tot. Und hier war nun die Witwe, nach vielen Jahren zum ersten Mal wieder im Haus ihrer Kindheit. Sie hatte ihre beinahe kissenförmige Figur in wehendes Künstlerschwarz gekleidet, mit vielen Jett-Schnüren um den Hals. Sie ging im Raum umher, fasste alles an und freute sich überschwänglich, wenn sie auf eine kindliche Erinnerung stieß. Sie gab sich wenig Mühe, Trauer über den Tod ihres Bruders vorzutäuschen. Aber eigentlich, so dachte Mr. Entwhistle, hatte Cora Gefühle ja nie vorgetäuscht.

Jetzt trat Lanscombe wieder in den Raum und murmelte in gedämpfter, dem Anlass angemessener Stimme: «Das Mittagessen ist aufgetragen.»

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