11


Anschließend begab ich mich zum Haus von Mr. Cobb, denn ich hielt es für besser, ihm zu sagen, dass ich Mr. Ellershaw Elias' Namen genannt hatte. Da er ja nicht wollte, dass meine Freunde und ich die Köpfe zusammensteckten, konnte es ihm nicht behagen, dass ich meinen Kameraden und Mitbetroffenen ins Spiel gebracht hatte. Doch ganz im Gegenteil: Cobb war von meinem Handeln recht angetan.

»Ich gehe davon aus, dass Sie Ihren Freund im Griff haben«, sagte er. »Er muss so schnell wie möglich herausfinden, was Ellershaw von ihm hören will und entsprechend reagieren. Der Mann muss auf jede erdenkliche Weise beruhigt werden. Erwerben Sie sich sein Vertrauen durch Ihren Arzt. Aber denken Sie nicht einmal im Traum daran, sich auch über andere Dinge mit ihm zu unterhalten. Sie mögen noch so sehr glauben, dass Sie unter vier Augen sind - ich kann Ihnen versprechen, dass wir von diesem Gespräch erfahren.«

Ich sagte nichts, denn dazu gab es nichts zu sagen.

Während der nächsten Tage begann sich eine gewisse Routine bei meiner Arbeit im East India House zu entwickeln. An meinem ersten regulären Arbeitstag war ich um zehn erschienen und von Ellershaw darüber aufgeklärt worden, dass von mir erwartet wurde, dass ich wie jeder andere Angestellte auch die offiziellen Dienstzeiten von acht bis sechs einhielt, doch ansonsten konnte ich schalten und walten wie ich wollte. Als Erstes ließ ich mir von dem peniblen Mr. Blackburn eine Liste aller bei dem Unternehmen angestellten Wachleute ausfertigen. Nachdem ich ihm erklärt hatte, dass ich einen Schichtdienst einzuführen gedächte, war er mir sogleich ein wenig mehr zugetan und lobte meinen Sinn für Ordnung.

»Was wissen Sie über Aadil, den Inder?«, fragte ich ihn.

Blackburn blätterte eine Weile in seinen Papieren, ehe er mir verkündete, dass Aadil fünfundzwanzig Pfund im Jahr verdiene.

Ich musste das Missverständnis aufklären. »Nein, was für eine Art Mensch er ist, habe ich gemeint.«

Blackburn sah mich leicht verständnislos an. »Er bekommt fünfundzwanzig Pfund im Jahr ausbezahlt«, wiederholte er sich.

Ich merkte, dass ich mit der Sache nicht viel weiterkam, also wechselte ich das Thema. Ich hatte meine seltsame Begegnung mit dem Mann von der Seahawk-Versicherung nicht vergessen und hoffte, dass mir Mr. Blackburn vielleicht Aufklärung verschaffen konnte. Also fragte ich ihn, was er über die Gesellschaft wüsste.

»Oh ja. Sie haben ihre Büroräume in der Throgmorton Street, in der Nähe der Bankside. Mr. Slade, der Direktor, wohnt eine Etage höher. Ein anständiges Geschäft.«

»Woher wissen Sie das?«

Er errötete ein wenig. »Meine Dienste sind nicht nur bei den Gentlemen hier im Craven House gefragt, Sir. Gelegentlich werde ich von verschiedenen Unternehmen gebeten, Ordnung in ihre Bücher zu bringen, denn ich genieße einen guten Ruf sowohl in der Welt der Handelshäuser wie auch der der Versicherungen. Letztes Jahr habe ich mehrere Sonntage hintereinander damit verbracht, die Bücher von Seahawk auf Vordermann zu bringen.«

Das hörte ich gerne, aber um nicht seinen Argwohn zu erwe-cken, durfte nicht zu erpicht auf nähere Informationen erscheinen. »Können Sie mir sagen, wie Sie dabei zu Werke gehen? Ich habe keine Ahnung, wie man die Bücher eines fremden Unternehmens sichtet.«

Mit keiner anderen Frage hätte ich ihm eine größere Freude bereiten können, aber leider brachte sie mit sich, dass ich mir einen staubtrockenen Vortrag anhören musste, der sich über die längste Stunde, die ich je in meinem Leben habe erdulden müssen, ausdehnte. Dennoch brachte ich ein paar höchst wertvolle Einzelheiten in Erfahrung. So erlangte ich die Kenntnis, dass die Geschäftsunterlagen von Seahawk in der unteren Etage im Büro eines Mr. Samuel Ingram aufbewahrt wurden, einem der wichtigsten Männer in dem Unternehmen, der für die Einschätzung besonders prekärer Risiken zuständig war.

Nachdem ich diese Information erhalten hatte, zog ich mich bei erstbester Gelegenheit zurück. Auf jeden Fall hatten meine Erkundigungen ihn keineswegs argwöhnisch gemacht, sondern mir im Gegenteil seine verstärkte Sympathie eingetragen.

Zwei Tage später hatte ich einen Dienstplan ausgearbeitet, den ich am größten der Lagerschuppen aushängte. Daraus war zu ersehen, wer wann und wie lange arbeitete und welche Runde ein jeder Wachtposten abzuschreiten hatte. Gleichzeitig verpflichtete ich die Männer, die lesen konnten, diejenigen unter ihren Kollegen, die des Lesens nicht mächtig waren, über ihren vorgeschriebenen Dienst zu unterrichten. Bei vielen stieß dieses neue System zunächst auf Unverständnis, aber sie merkten bald, dass sie durch die Aufteilung der Pflichten weniger Arbeitsstunden abzuleisten hatten. Nur Aadil und drei oder vier weitere Männer, die wohl zu seinen engeren Kameraden gehörten, brachten ihren Missmut zum Ausdruck.

Trotz der nicht unbedeutenden Tatsache, dass er weiterhin fünf Pfund mehr im Jahr verdiente als seine Untergebenen, nahm es nicht Wunder, dass Aadil mir mein Eindringen in sein kleines Königreich nachtrug. Und es kam für mich auch nicht überraschend, dass viele seiner Gefolgsleute ihn nach wie vor als ihren Führer ansahen. Verwundert war ich jedoch darüber, wie weit sein Einfluss offenbar reichte. An meinem zweiten Arbeitstag traf ich ein wenig zu früh ein und sah zwei Gestalten, die vor dem Tor eines der Lagerhäuser die Köpfe zusammensteckten und sich weder durch die Kälte noch durch den einsetzenden Eisregen stören ließen. Es waren Aadil und kein anderer als Mr. Forester, der junge Direktoriumsassistent, der für Ellershaw offenbar nur Verachtung übrig hatte. Die beiden waren in ein leises, aber sehr intensives Gespräch vertieft, wobei Aadil, der nicht nur hochgewachsen, sondern auch breitschultrig war, sich zu Forester hinunterbeugen musste wie ein Riese zu einem Erdenwurm.

Ich verspürte keine Neigung, mich ihnen auf Hörweite zu nähern, denn obwohl ich mir kaum vorstellen konnte, was ausgerechnet diese zwei miteinander zu bereden haben sollten, stand es mir doch nicht an, mich ihnen aufzudrängen. Dementsprechend wandte ich mich ab und tat so, als hätte ich in einem der anderen Lagerhäuser etwas zu erledigen. Aber ich merkte, dass die beiden mich beobachteten. Aadil warf mir einen hasserfüllten Blick zu, während Forester erschrocken darüber zu sein schien, dass ich ihn mit dem Inder gesehen hatte. Er wurde ganz weiß im Gesicht, wandte sich rasch ab und beschäftigte sich damit, die winzigen Eisklümpchen, die auf seinem Übermantel gelandet waren und darauf zu schmelzen begannen, abzuwischen.

Aadil kam auf mich zu. Er sah wie ein wütender Stier aus. »Du nichts über ihn sagen«, fauchte er. »Geht dich nichts an.«

»Ich hätte kaum einen Gedanken auf euer Gespräch verschwendet«, sagte ich, »wenn du nicht von mir verlangt hättest, dass ich es ignoriere. Wenn du nicht willst, dass sich die Leute Gedanken über dein Tun und Treiben machen, solltest du sie nicht mit der Nase darauf stoßen.«

»Ein Wort darüber, und es wird dir noch leidtun«, sagte er und stampfte davon. Seine schweren Stiefel knirschten auf der dünnen Eisschicht am Boden.

Im weiteren Verlaufe des Tages fand ich Gelegenheit, den fetten, gutmütigen Mr. Carmichael beiseitezunehmen. Nachdem ich mich geweigert hatte, ihn zu schlagen, war er unter den Wachleuten zu meinem engsten Verbündeten geworden, und das kam mir alles andere als ungelegen, denn er schien einen gewissen Einfluss auf seine Kollegen zu haben. Ich wusste, dass Aadil irgendwo auf der anderen Seite des Geländes seine Runde machte, also erzählte ich Carmichael, dass ich Aadil und Forester zusammen gesehen hatte und fragte ihn, was er davon hielte.

»Darum«, sagte er, »sollten Sie sich besser nicht kümmern.«

»Das hat Aadil auch gesagt.«

»Ebendrum sollten Sie sich nicht darum kümmern. Er und dieser Mr. Forester führen etwas im Schilde.«

»Und das wäre?«

Er schaute nach allen Seiten, um sich zu vergewissern, dass wir auch nicht beobachtet wurden. »Ich sollte Ihnen das vielleicht nicht alles erzählen, aber wenn es Sie von weiteren Nachforschungen abhält, ist es wohl doch besser so. Ich weiß nicht genau, was sie vorhaben, aber es hat etwas mit der zweiten Etage des südlichen Lagerhauses zu tun. Man nennt es Greene House, weil es mal von einem Gentleman namens Greene gekauft worden ist.«

»Und was treiben die da auf der zweiten Etage des Greene House?«

»Kann ich nicht sagen, weil niemand da hindarf. Nur Aadil und seine Männer dürfen von dort etwas holen oder dort etwas einlagern, und jedes Mal, wenn Aadil etwas holt oder bringt, ist Mr. Forester nicht allzu weit entfernt.«

»Hast du Aadil mal danach gefragt?«

»Ich werd' doch nicht meinen Kopf in den Rachen eines

Wolfes stecken. Man braucht doch nur hinzusehen, um zu merken, dass er nicht will, dass jemand ihm nachschnüffelt, und wenn man seine Arbeit hier behalten will, steckt man seine Nase besser nicht in die Sache.«

»Gehört es nicht zu meinen Aufgaben, meine Nase in das zu stecken, was in den Lagerhäusern vorgeht?«, fragte ich mit gespielter Einfältigkeit.

Er lachte. »Ich arbeite hier nun seit fast zwanzig Jahren, Mr. Weaver, und ich kann Ihnen eines verraten: Craven House ist ein Ort so voller Geheimnisse und heimlicher Verschwörungen und Machtgelüste, dass es einem Theaterstück Ehre machen könnte. Das war immer schon so. Diejenigen, die vorankommen wollen, müssen sich gegen die verbünden, die über ihnen stehen. Sie haben nichts zu gewinnen, wenn Sie dahinterkommen, was die beiden vorhaben, aber andererseits auch nichts zu verlieren, wenn Sie es nicht tun. Wenn Sie mich fragen, sollten Sie sich um Ihre Aufgaben kümmern und sich nicht um die anderer scheren.«

Was diese meine Aufgaben betraf, so war ich mir nicht ganz sicher, was ich zehn Stunden am Tag mit mir anfangen sollte. Sowie ich erst einmal den Dienstplan ausgearbeitet hatte, bedurfte es nur noch ein paar Stunden die Woche, um seine Einhaltung zu überwachen. Mir blieb nichts zu tun, als zwischen den Lagerschuppen umherzuspazieren und darauf zu achten, dass alles auf dem Posten war. Als ich dies Mr. Ellershaw gegenüber erwähnte, sagte er mir, ich solle mit meiner guten Arbeit fortfahren.

Von Elias erfuhr ich, dass er bisher noch nichts von Eller-shaw gehört hatte, und ich hielt es auch für unklug, in dieser Angelegenheit nachzuhaken, also setzte ich meine Rundgänge fort, wechselte ein freundliches Wort mit den Wachleuten, hörte mir ihren Tratsch an und hoffte, einen Hinweis auf Cobbs mysteriösen Absalom Pepper zu bekommen. Aber niemand erwähnte diesen Namen, und ich wagte auch nicht, gezielt nach ihm zu fragen.

An dem Tag, an dem mir das Zwiegespräch zwischen Aadil und Forester aufgefallen war, blieb ich unter der Vorgabe, ein Auge auf die Nachtschicht werfen zu wollen, bis spätabends auf dem Gelände und versuchte noch einmal, unter Ellershaws Papieren etwas zu entdecken. Aber es hätte einer gehörigen Portion Glücks bedurft, zwischen so vielen Dokumenten auf einen ganz bestimmten Namen zu stoßen, und ein solches Glück war mir in diesem Falle nicht beschieden. Ich blieb beinahe die ganze Nacht wach und erntete für meine Bemühungen nur Kopfschmerzen davon, im Lichte einer einzigen Kerze meine Augen angestrengt zu haben.

An meinem vierten Arbeitstag jedoch hatte ich eine Begegnung, die mich ein gutes Stück voranbrachte. Am Vormittag kehrte ich den Schuppen den Rücken und begab mich in den Küchenbereich des Craven House, wo ich mich mit einem oder zwei Glas kräftigen Weines für die Aufgaben, die an diesem Tage noch vor mir lagen, zu stärken trachtete. Als ich die Küche betrat, traf ich hier niemanden außer der bezaubernden Miss Celia Glade an, die ich seit unserer Begegnung in Ellershaws Büro nur noch aus der Entfernung oder im Beisein anderer gesehen hatte. Sie war gerade damit beschäftigt, Kaffeegeschirr auf ein Tablett zu stellen, das zweifellos für irgendeinen Direktor bestimmt war. Ich lächelte ihr zu, spürte aber gleichzeitig, wie mir das Herz in die Hose sank, als wäre ich von großer Höhe hinuntergestoßen worden. Diese Frau kannte mein Geheimnis oder wusste zumindest, dass ich ein solches mit mir herumtrug. Ich konnte mich nur in Sicherheit wähnen, weil ich wusste, dass auch sie ein Geheimnis hatte.

»Guten Morgen, Miss Glade«, begrüßte ich sie.

Sie wandte sich mir zu, und augenblicklich spürte ich eine schreckliche Furcht in mir aufsteigen - die Furcht, ich könne mich dazu hinreißen lassen, ihren Reizen zu erliegen. Sie war bloß eine Frau, aber eine bemerkenswert schöne und mindestens ebenso bemerkenswert gescheit. Und wenn schon? War nicht ganz London voll von solchen Frauen? Trotzdem beschlich mich in ihrer Gegenwart die Ahnung, dass noch mehr an ihr war, weit mehr als nur Anmut und eine rasche Auffassungsgabe. Sie spielte, wie auch ich, ein Spiel, und sie spielte es geschickt. Ich hatte das Gefühl, einem Menschen gegenüberzustehen, der mir unter Umständen Knüppel zwischen die Beine werfen könnte.

Sie knickste vor mir und senkte artig den Kopf, fixierte mich jedoch nach wie vor mit ihren dunklen Augen. »Ach, es ist mir gar nicht recht, so höflich angeredet zu werden«, sagte sie und verfiel dabei in den eher saloppen Tonfall, dessen sie sich während der Tagesstunden bediente, wogegen sie sich die damenhafte Stimme, mit der sie bei unserem ersten Zusammentreffen in Ellershaws Büro gesprochen hatte, wohl für die späten Abendstunden vorbehielt. »Jeder hier nennt mich Celia, und meine Freunde sagen Celie zu mir.«

»Und? Bin ich Ihr Freund, Celie?«

»Olala! Ich hoffe doch, Mr. Weaver. Ich möchte mir keine Feinde machen.«

Ihre Stirn war in ihrem Eifer so gerunzelt, dass ich mich einen winzigen Augenblick lang fragte, ob dies dieselbe Frau sein konnte, der ich neulich abends begegnet war. Ich hatte überhaupt nicht den Eindruck, dass sie sich in irgendeiner Weise verstellte.

»Als wir neulich zum ersten Male miteinander sprachen, hat Ihre Stimme ein wenig anders geklungen, wenn ich mich recht erinnere«, sagte ich.

»Wie ich Mr. Ellershaw seine Medizin gebracht habe? Das wird mit meiner Arbeit zu tun gehabt haben oder so etwas.«

»Wie Sie meinen, Celie.«

»Ich muss mich nun um meine Pflichten kümmern, Mr. Wea-ver.« Aber als sie sich an mir vorbeischieben wollte, wäre sie beinahe mit ihrem Tablett gestolpert, und ich musste sie stützen. In diesem Augenblick der leichten Konfusion flüsterte sie mir zwei Sätze ins Ohr. »Sie haben ihre Ohren überall«, sagte sie so leise, dass ich es beim Klappern des Kaffeegeschirrs kaum verstehen konnte. Und dann: »The Duck and Wagon in St. Giles. Heute Abend.«

»Heute Abend kann ich nicht«, flüsterte ich.

Sie nickte. »Natürlich. Das Abendessen mit Mr. Ellershaw. Dann heute in zwei Tagen?«

»Heute in zwei Tagen«, bestätigte ich unsere Verabredung.

Wiederum nur für einen winzigen Augenblick nahm sie meine Hand. »Gut.«

Mein Herz schlug vor freudiger Erregung, als ich ihr nachsah. Es überraschte mich ein wenig, dass sie von meiner Einladung bei Ellershaw wusste. Noch ahnte ich nicht, was das für mich bedeutete - ebenso wenig, wie ich wissen konnte, ob es ein vernünftiges Unterfangen war, sich mit Miss Glade an dem von ihr vorgeschlagenen Treffpunkt zu verabreden. Im besten Falle konnte ich auf den Ansatz zu einer Erklärung für ihr geheimnisvolles Auftreten hoffen - im schlimmsten Falle würde ich in irgendeine Falle tappen.

Загрузка...