Warum sollte den Franzosen so viel daran gelegen sein zu erfahren, was ich mit der East India Company zu tun hatte? Auf diese Frage konnte ich beim besten Willen keine Antwort finden, also wollte ich mich möglichst rasch von der Lady trennen, um in Ruhe über diese neue Erkenntnis nachzusinnen, doch ich musste mir genügend Zeit lassen, damit sie nicht merkte, dass ihr Aufschrei etwas über sie verraten hatte.
Ich begleitete sie - oder vielmehr, sie begleitete mich, denn sie kannte sich in dem Labyrinth von St. Giles weit besser aus als ich - zur High Holborn Road, wo ich eine Droschke für sie besorgen wollte. Im Gehen begann sie, Teile ihrer Verkleidung abzulegen und in einem Beutel, den sie mit sich trug, zu verstauen. Zunächst die Perücke, dann ihre abgerissenen Handschuhe, die sie gegen neue austauschte; schließlich wischte sie sich mit einem Tuch die Schminke aus dem Gesicht. Sie war immer noch so gekleidet, dass es kaum ihren weiblichen Liebreiz betonte, und ihre Zähne blieben vorerst verfärbt und lückenhaft, doch als wir auf die lebhafte Straße hinaustraten, sah sie schon nicht mehr aus wie eine Schlampe, sondern wie eine schöne Frau, die eben nur schäbig gekleidet war.
»Wie bevorzugen Sie mich denn?«, verlangte sie zu wissen.
»Erlauben Sie mir, dass ich die Antwort erwäge«, sagte ich, »und Sie werden sie in Bälde von mir bekommen.« Ein Droschkenkutscher fing meinen Blick auf und gab uns ein Zeichen, näherzutreten.
»Gut, ich werde mich von Ihnen hinhalten lassen«, sagte sie, »und ich bedanke mich für Ihre Hilfsbereitschaft mit der Kutsche. Aber was wird nun aus Ihnen?«
»Zunächst muss ich Sie sicher auf den Weg bringen, dann kümmere ich mich um ein eigenes Transportmittel.«
»Vielleicht können wir uns einen Wagen teilen«, schlug sie unerwartet keck vor.
»Ich wüsste nicht, dass wir die gleiche Richtung haben.«
Sie kam ganz dicht an mein Ohr. »Es ließe sich doch bestimmt einrichten, dass unsere gleiche Richtung genau die ist, in die wir fahren.«
Ich weiß nicht, ob ich je in meinem Leben härter darum gerungen habe, meine Leidenschaft zu zügeln. Mit leicht geneigtem Kopf schielte sie zu mir hoch; ihre Lippen waren ein wenig geöffnet, so dass ich das verlockende Rosa ihrer Zungenspitze sehen konnte. Es wäre einfach, so einfach gewesen, ihr dorthin zu folgen, wohin sie mich führen wollte, ihr zu gestatten, mich in ihre Arme zu nehmen. Ich hätte mir einreden können, dass es meinen Zwecken dienlich wäre, dass ich, indem ich ihr nahe war, mehr über ihr Trachten erfahren würde. Aber ich wusste, dass ich mich damit nur selber täuschte. Würde ich mich ihren Avancen und meinen Gelüsten hingeben, könnte ich von diesem Augenblick an meinen eigenen Instinkten nicht mehr trauen. Wenn es nur um mein Leben, mein eigenes Wohlergehen gegangen wäre, hätte ich eine Münze geworfen und sie entscheiden lassen. Aber mein teuerster Freund, ein in Würde alternder Gentleman und mein gebrechlicher Onkel waren darauf angewiesen, dass ich meine Aufgabe rasch und mit Erfolg zu Ende führte - erst dann konnte ich frohen Mutes unter den verzückendsten aller denkbaren Galgen spazieren.
»Ich fürchte, dass ich noch eine dringende Verabredung habe«, redete ich mich heraus.
»Dann sollte ich vielleicht für einen anderen Abend eine dringende Verabredung mit Ihnen eingehen«, schlug sie vor.
»Vielleicht«, brachte ich hervor, obwohl mein Mund staubtrocken wurde. »Gute Nacht, Madam.«
»Warten Sie.« Sie packte mich fest am Handgelenk. Ein jäher Taumel der Erregung, heiß wie Feuer, durchfuhr mich. Auch sie musste es gespürt haben, denn sie ließ sogleich los. »Ich hoffe«, sagte sie, offensichtlich nach Worten ringend, »... ich ... ich weiß, dass ich sehr verspielt wirken kann, aber ich hoffe, ich genieße ein wenig von Ihrer Wertschätzung. Das tue ich doch, oder?«
»Selbstverständlich, Madam«, stieß ich hervor.
»Und doch sind Sie immer noch so formell. Wollen Sie nicht ungezwungener mit mir umgehen?«
»Daran wäre mir sehr gelegen, doch ich glaube, dies ist nicht der rechte Zeitpunkt dafür. Gute Nacht«, wiederholte ich noch einmal, wandte mich hastig ab und entfernte mich eilig.
Ich hatte ihr die Wahrheit gesagt. Ich würde gerne ungezwungener mit ihr umgehen, aber dies war wirklich nicht die rechte Zeit, damit anzufangen. Das war nicht gelogen. Ich hatte bloß versäumt zu erwähnen, dass es meiner Ansicht nach meiner Freiheit, wenn nicht gar meinem Leben, zuträglich sein könnte, ihr gegenüber vorerst noch eine Spur gesundes Misstrauen zu hegen.
Eine fast schlaflose Nacht voller verstörender Gedanken brachte mir auch nicht mehr Klarheit. So war es ein Glück, dass ich am nächsten Vormittag Gelegenheit fand, mich mit Elias zu besprechen. Es war niederschmetternd genug zu erfahren, dass die Franzosen meinen Tod herbeiwünschten, aber die Erkenntnis, dass Miss Glade, eine junge Dame, zu der ich eine nicht geringe Zuneigung zu fassen begann, vielleicht auch zu ihnen gehörte, verwirrte mich nur umso mehr und stimmte mich noch verdrießlicher.
Ich hatte an diesem Morgen eine Unterredung mit einem der Angestellten des Craven House, und nachdem dies erledigt war, entdeckte ich zu meiner Freude Elias in der Eingangshalle des Gebäudes. Er war in ein Gespräch mit einer Frau vertieft. Einen Moment lang fragte ich mich, was er hier wollte, aber dann fiel mir ein, dass er in seiner Eigenschaft als Ellershaws behandelnder Arzt zugegen war. Ich wollte zu ihm hineilen, aber mein Eifer verließ mich fast augenblicklich, als ich sah, dass die Person, mit der er sprach, keine Geringere war als Celia Glade.
Bevor ich auch nur ein Wort aus seinem Munde erhaschen konnte, erkannte ich an seinem Habitus - kerzengerade Haltung, ein breites, blendendes Lächeln, eine Hand in der Manier des ehrlich meinenden Gentleman auf die Brust gepresst -, dass er auf der Jagd nach Beute war und sich durch nichts und niemanden so leicht davon würde abbringen lassen.
Ich ahnte, dass er gerade etwas Amüsantes geäußert hatte, denn Miss Glade hielt sich die Hand vor den Mund, um ein Kichern zu unterdrücken - ein Geräusch, das im Craven House als höchst unangebracht erachtet wurde. Ich meinerseits fand es höchst unangebracht, dass er versuchte, sie für sich einzunehmen, oder, was mich noch viel mehr störte, dass sie sich auch noch darauf einließ. Ich wusste, dass ich mich angesichts solch formidablen weiblichen Charmes nicht auf Elias' gesunden Menschenverstand verlassen durfte, also trat ich rasch vor, um diese Zusammenkunft, aus der nichts Gutes gedeihen konnte, zu unterbinden. Was wusste Miss Glade? War ihr bekannt, dass ich mit Elias befreundet war? Dass sein Schicksal so eng mit dem meinen verknüpft war? Ich konnte nur eines mit Bestimmtheit sagen: Ich wollte nicht, dass sie noch mehr erfuhr, als sie ohnehin schon wusste.
»Guten Morgen, Celie«, begrüßte ich sie und ignorierte Elias für den Augenblick. »Hältst du es für klug, allen Beschäftigten des Craven House vorzuführen, dass du Bedarf nach dem Ratschlag eines Arztes hast?«
Im Nachhinein ist mir bewusst geworden, dass ich mir eine weniger gehässige Bemerkung hätte einfallen lassen sollen, um ihr Gespräch zu unterbrechen, eine, bei der ich nicht so sehr durchblicken ließ, was ich über ihre Vorgeschichte wusste - die ich immer noch nicht zu glauben bereit war. Zu jenem Zeitpunkt jedoch war ich zufrieden damit, dass sie ihre Wirkung nicht verfehlt hatte. Miss Glade wurde rot und eilte davon.
Elias zog die Augen zu Schlitzen zusammen und presste die Lippen aufeinander - ein klares Zeichen, dass ich mir seinen Unmut zugezogen hatte. »Das war nicht gerade galant, Wea-ver, muss ich sagen.«
Da ich allerhand mit ihm zu bereden hatte und dies nicht der passende Ort dafür war, zögerte ich nicht, gegen die Dienstordnung zu verstoßen und das Gelände zu verlassen, um ein Schanklokal mit ihm aufzusuchen. Den ganzen Weg lang schimpfte er herum, dass ich seine Unterredung mit Miss Glade abgewürgt hatte.
»Das Mädchen war scharf wie eine Feldhaubitze, Weaver. Das werde ich dir nicht so schnell vergessen, mein Freund.«
»Darüber reden wir später«, grummelte ich.
»Nein, ich möchte jetzt darüber reden«, beharrte er. »Ich bin viel zu aufgebracht, um über etwas anderes zu sprechen.«
Ich duckte mich, um mir nicht an einem der in der ganzen Stadt berüchtigten niedrig hängenden Ladenschilder den Kopf zu stoßen. Elias war viel zu erbost, um darauf zu achten, und ich war so verärgert, dass ich ihn beinahe in sein Unglück hätte laufen lassen, aber letzten Endes wollte ich doch nicht, dass ihm ein Leids geschah, selbst, wenn es sich nur um einen kleinen, geradezu grotesken Unfall gehandelt hätte, und zog ihn im Gehen beiseite. Er aber geriet nicht einmal aus dem Schritt.
»Oh«, sagte er, »da hast du aber gut aufgepasst. Aber damit machst du dein skandalöses Benehmen auch nicht wieder bei mir gut, Weaver. Skandalös, sage ich. Ich werde mir etwas sehr Teures kommen lassen und darauf bestehen, dass du mich dazu einlädst.«
Sobald wir vor unseren Krügen saßen und Elias sich einen Teller mit Brot und kaltem Fleisch bestellt hatte, stärkte er sich mit einer Prise Schnupftabak und fing sein Lamento wieder von vorne an.
»Wenn du mich in Zukunft mit einem hübschen Mädchen siehst, Weaver, wäre mir sehr daran gelegen, dass du ...«
»Dein Leben und das meine und das meiner Freunde hängt davon ab, was im Craven House geschieht«, unterbrach ich ihn. »Und was dich betrifft, so habe ich hier zu bestimmen. Du tust, was ich dir sage und wenn ich es sage und enthältst dich jeglicher Widerworte. Ich werde es nicht zulassen, dass du mit deinem unstillbaren Verlangen nach den Frauen und deiner Unfähigkeit, eine Gefahr unmittelbar vor deiner Nase zu erkennen, uns beide und andere ins Verderben stürzt. Du magst es vielleicht amüsant finden, dich an irgendwelche Frauen heranzumachen, aber in diesem Fall könnte es auf den reinsten Selbstmord hinauslaufen.«
Er starrte in seinen Krug und schien meine Worte zu erwägen. »Ja«, sagte er endlich. »Du hast recht. Es ist der falsche Ort, um nach Vergnügungen Ausschau zu halten, und es stimmt auch, dass ich mir von Frauen leicht den Kopf verdrehen lasse, vor allem, wenn sie so schön sind wie Miss Glade.«
»Gut.« Ich gab ihm einen Klaps auf die Schulter, damit er wusste, dass die Sache für mich erledigt war. »Tut mir leid, dass ich dir so heftig an den Karren gefahren bin, aber ich habe es in jüngster Zeit auch nicht leicht gehabt.«
»Nein, du brauchst dich nicht bei mir zu entschuldigen. Ich brauche ab und zu mal einen Tritt in den Allerwertesten, und den hole ich mir lieber von meinen Freunden als von meinen Feinden.«
»Ich werde mich bemühen, dich zu gegebener Zeit daran zu erinnern«, sagte ich grinsend. Ich war froh, dass der Missklang zwischen uns bereinigt war. »Nun erzähl mir lieber von deinen sonstigen Errungenschaften.«
Ich weiß nicht, ob es sein sprunghaftes Wesen war, das ihn seinen Groll so rasch vergessen ließ, aber seine Miene hellte sich sogleich sichtlich auf. »Deinen Freund Ellershaw hat es ganz schön erwischt«, sagte er und grinste nun seinerseits, obwohl dies ja nun wirklich keine erfreuliche Nachricht war.
»Die französische Krankheit?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, nicht die französische. Die englische. Wahnsinn.«
»Wie meinst du das?«
»Was ich meine, Weaver, ist, dass er sich von einer fortgeschrittenen und höchst ansteckenden Syphilis befallen glaubt. Er spricht davon zwar als einer Gonorrhöe, weil er den Unterschied nicht begreift, aber auf jeden Fall weist er keinerlei Symptome auf. Ich kann keine wunden Stellen, keine Pusteln, keinen Ausschlag und keine Entzündung feststellen. Und auch kein Anzeichen dafür, dass es je solche gegeben hat.«
»Bist du dir da sicher?«
Er nahm einen tiefen Zug von seinem Ale. »Weaver, die letzte Stunde habe ich damit verbracht, das allerprivateste Körperteil eines wirrköpfigen alten Fettwanstes zu befingern. Bitte frage mich nicht, ob ich meiner Sache sicher bin. Ich möchte diesen Vormittag so schnell wie möglich vergessen.«
»Und was hast du ihm nun gesagt?«
»Du weißt, dass ich per Eid verpflichtet bin, meine Patienten nach bestem Wissen zu behandeln.«
»Ja, schön und gut. Aber was hast du nun zu ihm gesagt?«
»Da ich nicht verpflichtet bin, nicht wenigstens so zu tun, als würde ich einen Mann, der sich nur krank wähnt, behandeln, vor allem, wenn ihm dies Seelenfrieden verschafft, habe ich ihm gesagt, dass ich ein Mittelchen wüsste, das erst jüngst von Barbados an unsere Küsten gelangt ist, und dass ich der Überzeugung wäre, dass dieses ihm Linderung verschaffen würde. Ich habe ihn ein wenig zur Ader gelassen, seinen Darm entschlackt und ihm ein ziemlich harntreibendes Diuretikum dagelassen. Sowie ich hier mit dir fertig bin, werde ich meinem Apotheker eine Nachricht zukommen lassen, dass er Ellershaw eine Anzahl Mixturen schicken soll, die keine andere Wirkung haben werden, als seine Aufregung zu dämpfen. Und da er an meine Medizin zu glauben scheint, wird ihm das vielleicht guttun.« Er hielt eine glänzende Guinee hoch. »Auf jeden Fall hat er sich sehr erkenntlich gezeigt.«
»Alle Achtung. Und wirst du ihn weiterhin behandeln?«
»So gut es geht, aber es könnte ihn verstimmen, wenn ich mich weigere, ihm Quecksilber zu verabreichen, denn das möchte ich vermeiden. Ihm fehlt nichts, was die Vergabe eines so starken Mittels rechtfertigt.«
»Gib ihm doch, was er will, solange er dich bei Kasse hält.«
»Quecksilber wirkt bei Geschlechtskrankheiten Wunder, aber es hat auch böse Nebenwirkungen. Es widerspricht der Ethik, einem Mann eine Medizin zu geben, die er nicht nötig hat und die Nebenwirkungen bei ihm hervorruft, unter den er nicht zu leiden bräuchte.«
»Entspräche es der Ethik, wenn du den Rest deiner Jahre im Schuldnergefängnis verbringen müsstest, nur, weil du dich um die Gesundheit eines habgierigen alten Dummkopfs gesorgt hast?«
»Da ist was dran«, sagte er. »Ich werde zu gegebener Zeit darüber nachdenken.«
»Aber lass es mich bitte wissen, bevor du etwas unternimmst.«
»Auf jeden Fall. Wenn du erlaubst, möchte ich nun noch ein letztes Mal auf das Mädchen zu sprechen kommen. Hast du mal daran gedacht, dass es mir einen Vorwand verschaffen würde, mich öfter im Craven House aufzuhalten, wenn ich eine amouröse Beziehung mit ihr anfinge? Zwei Paar Augen sehen mehr als nur eines alleine und .«
»Sie ist eine französische Spionin«, unterbrach ich ihn, was wie ein Pistolenknall wirkte und ihn augenblicklich zum Schweigen brachte. Doch sogleich bereute ich meine Worte. Elias war der Dame nicht gewachsen. Wenn es mir nicht gelang, ihn von ihr abzubringen, bräuchte sie ihm nur ein wenig auf den Zahn zu fühlen, und das, was er von mir über sie erfahren hatte, würde ihm wie mit Tinte geschrieben von der Stirn abzulesen sein. Aber nun hatte ich es einmal aufs Tapet gebracht und konnte die Angelegenheit kaum damit auf sich beruhen lassen. »Irgendwo haben wir hier eine Verschwörung von Seiten der Franzosen, Elias. Ich weiß nicht, ob es die größte Schurkerei ist, mit der wir es im Umfeld der East India Company zu tun haben, aber eine Verschwörung ist es allemal. Zuerst finden wir heraus, dass es Franzosen sind, die mein Leben versichert haben, als wäre ich ein todsicheres Papier an der Börse, und nun stellt sich heraus, dass eine französische Spionin versucht, alles über die East India Company und über mich in Erfahrung zu bringen.«
Ich berichtete ihm auch von meinem Treffen mit Miss Glade am Vorabend, doch obwohl ich die amourösen Elemente desselben nach Möglichkeit aussparte, kannte mich Elias doch lange genug und war zu sehr ein Menschenkenner, um nicht doch Verdacht zu schöpfen.
»Hast du etwa ein Auge auf diese verräterische Kreatur geworfen?«
»Sie möchte, dass ich es tue«, antwortete ich.
»Und da sie so gut aussieht und so viel Charme versprüht, würdest du ihr wohl gerne diesen Gefallen erweisen?«
»Ich weiß mich sehr wohl zu beherrschen«, versicherte ich ihm. »Und ich habe kein Verlangen, mich mit einer Frau einzulassen, von der wir längst noch nicht genau wissen, was wir von ihr zu halten haben. In dieser Hinsicht brauchst du dir um mich keine Sorgen zu machen.«
Er vertiefte sich einen Augenblick lang in die Betrachtung seiner penibel gepflegten Fingernägel - ein klares Zeichen dafür, dass ihm etwas Unangenehmes auf der Zunge lag. »Ich gehe davon aus, dass du dich damit abgefunden hast, dass es mit dir und der Witwe deines Cousins nie etwas wird.«
Ich schüttelte ungläubig den Kopf. »Glaubst du allen Ernstes, mein Verlangen nach Miriam wäre das Einzige, was zwischen mir und einer niederträchtigen Spionin stünde?«
»Ich weiß, wie lange du dich nach Miriam Melbury verzehrt hast, und dass es dir das Herz im Leibe zerrissen hat, aber wenn du es so ausdrückst, ziehe ich meinen Einwand zurück.«
»Es beruhigt mich ungemein, das zu hören.«
»Und dennoch näherst du dich dem Alter, in dem ein Mann ans Heiraten denken sollte.«
»Elias, wenn ich mich darüber mit jemandem unterhalten wollte, könnte ich mich ebenso gut an meine Tante Sophia wenden, die Klügeres dazu zu sagen wüsste und mich wahrscheinlich noch mit einem guten Mahl bewirten würde. Übrigens könnte ich das Gleiche von dir behaupten, aber du scheinst mir auch nicht auf der Suche nach der Frau fürs Leben zu sein.«
»Ach, ich bin nicht für die Ehe geschaffen, Weaver, und wenn ich es wäre, dann müsste es eine Gattin mit einer beträchtlichen Mitgift sein, die sich nicht an meiner ständigen Geldknappheit stört. Du hingegen bist Jude, und es bleibt dir gar nichts anderes übrig, als zu heiraten. Wenn du meine Meinung hören willst - eine Frau in deinem Leben würde dir guttun.«
»Ich sollte Mr. Cobb sagen, dass er dich schleunigst in den Schuldturm werfen lassen soll.«
»Wer die Wahrheit ausspricht, macht sich oft unbeliebt.«
»Ja, und du beherrscht diese Kunst meisterhaft. Dürfte ich vorschlagen, dass wir uns darauf beschränken, die Angelegenheit mit den Franzosen zu diskutieren?«
Er seufzte. »Na schön. Ich habe noch nie davon gehört, dass die Franzosen jemanden losschicken, damit der sich in die Geschäfte eines der großen Handelshäuser einmischt, aber es würde mich nicht überraschen, wenn sie auf eine solche Idee kämen. Immerhin verschaffen diese Handelhäuser unserem Land einen enormen Reichtum, und die East India Company streckt ihre Finger auch nach möglichen Kolonialgebieten aus. Es könnte jede Menge Gründe für die Franzosen geben, Craven House zu infiltrieren.«
Mehr wusste Elias dazu leider auch nicht zu sagen. Inzwischen hatte ich ausgetrunken und hielt es für angebracht, mich wieder auf dem Gelände der East India Company blicken zu lassen, ehe jemandem meine Abwesenheit auffiel. Zwar glaubte ich nicht, dass ich in diesem Falle viel zu befürchten hätte, aber ich hielt es für besser, keine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen.
Ich hatte auf meinem Weg zu den Lagerhäusern kaum das Tor passiert, als ich eine dringliche Stimme meinen Namen rufen hörte.
»Mr. Weaver, würden Sie bitte auf mich warten?«
Als ich mich umdrehte, sah ich Carmichael mit seinem Strohhut in der Hand auf mich zugerannt kommen.
»Was gibt es denn?«
»Mr. Ellershaw ist vor einer knappen halben Stunde hier gewesen. Es schien ihn sehr zu bekümmern, dass niemand wusste, wo Sie waren.«
Ich bedankte mich mit einem Kopfnicken und machte mich auf den Weg zu Ellershaws Büro. Auf mein Klopfen hieß er mich einzutreten. Ihm gegenüber an seinem mit Stoffproben vollgestapelten Schreibtisch saß Forester. Beide schienen wenig erbaut, mich zu sehen.
»Weaver.« Ellershaw spuckte ein paar Krümel von der braunen Masse aus, auf der er immer herumkaute. »Wo haben Sie gesteckt, Mann? Bezahle ich Sie, damit Sie sich auf meine Kosten vergnügen oder für Ihre Arbeit?«
»Tut mir leid, dass ich Ihrem Ruf nicht gleich Folge leisten konnte«, sagte ich. »Ich habe gerade eines der Lagerhäuser inspiziert, als Sie nach mir schickten.«
»Wenn Sie in einem der Lagerhäuser waren, wieso hat dann niemand Sie finden können?«
»Weil keiner es zu wissen brauchte. Inspektionen sind am wirkungsvollsten, wenn sie überraschend stattfinden.«
Ellershaw erwog dies einen Moment lang und nickte dann bedächtig. Seine Kiefer mahlten unterdessen weiter. »Das stimmt.«
Forester hielt ein Stück blauen Stoffes in der Hand, in dessen Betrachtung er vertieft war. Er schien es geradezu darauf anzulegen, den Blick nicht eine Sekunde lang von dem Tuch abzuwenden. Ich nahm an, dass er den Blickkontakt mit mir mied, weil mir sein Gesicht sonst etwas verraten hätte. Heimlichtuerei war nicht seine Stärke, und das wusste er. Ich aber konnte mir diesen Umstand zu Nutze machen.
»Was führt Sie denn nun her?«, verlangte Ellershaw von mir zu erfahren.
»Ich wollte mich nur bei Ihnen melden, weil Sie nach mir gesucht haben, Sir«, sagte ich.
»Jetzt habe ich aber keine Zeit für Sie. Merken Sie denn nicht, dass wir hier mit Dingen zu tun haben, die nicht Ihre Angelegenheit sind? Oder sehen Sie das anders, Forester?«
Forester behielt den Blick gesenkt. »Keineswegs. Ein Mann von seinem Schlage hat dem, was wir hier bereden, nichts hinzuzufügen.«
»Nun, da haben Sie aber eine sehr strenge Meinung von Mr. Weaver«, wies Ellershaw ihn zurecht. »Er mag zwar mit unseren Geschäften nichts zu tun haben, aber er verfügt über einen scharfen Verstand. Möchten Sie uns etwas sagen, Wea-ver?«
»Ich weiß ja nicht, worum es hier geht.«
»Nichts, was Sie interessieren könnte«, knurrte Forester.
»Was Sie hier vor sich sehen, Weaver, sind die Stoffe, die das Parlament, mögen sie allesamt in der Hölle schmoren, uns nach Weihnachten auf dem Binnenmarkt verkaufen lassen will. Nicht gerade eine üppige Auswahl, was? Den größten Teil unseres Handels werden wir mit diesen blauen Stoffen tätigen« -er hielt ein Stück hellblauen Baumwollstoff in die Höhe -, »und ich fürchte, die Umsätze, die wir damit erreichen, werden nur ein Schatten dessen sein, was wir vorher verkauft haben.«
Ich enthielt mich jeden Kommentars.
»Da haben wir es«, bemerkte Forester. »Er hat weder Erfahrung mit noch Interesse an solchen Dingen. Ich möchte den Burschen nicht beleidigen, aber er ist nicht der Mann, an dessen Meinung Ihnen gelegen sein sollte.«
»Wofür wird dieser Stoff denn jetzt verwandt?«, fragte ich.
»Halstücher«, sagte Ellershaw. »Strümpfe, Binder, solche Accessoires. Und natürlich für Damenkleider.«
»Dann wäre es vielleicht nicht schlecht, auch die Männerwelt zu ermuntern, sich Kleidung aus diesem Stoff fertigen zu lassen«, schlug ich vor.
Forester lachte laut auf. »Ein Herrengewand, meinen Sie? Selbst der verrückteste Geck würde es sich nicht einfallen lassen, sich in einer so weibischen Farbe zu kleiden. Die Vorstellung ist geradezu lächerlich.«
»Kann sein«, sagte ich schulterzuckend. »Aber hat Mr. Eller-shaw nicht gesagt, dass der Schlüssel zum Erfolg darin zu suchen sei, dass unsere Warenbestände die Mode bestimmen und nicht umgekehrt? Sollte die East India Company nicht vielmehr eine breite Öffentlichkeit für diese Stoffe zu interessieren versuchen, anstatt ihre Handelsware der gängigen Mode anzupassen? Dann könnten wir so viel davon verkaufen, wie wir wollen. Wie ich es verstanden habe, braucht man doch nur genügend Gewänder aus diesem Stoff unter die modebewussten Herren zu bringen, damit es schon bald keineswegs mehr lächerlich wirkt, sich so sehen zu lassen. Wenn Ihnen dies ge-lingt, wird sich schon im nächsten Jahr niemand mehr daran erinnern, dass diese Farbe einmal unbeliebt gewesen ist.«
»Unsinn«, sagte Forester.
»Nein«, widersprach Ellershaw ihm. »Er hat recht. Genau darum geht es. Fangen Sie damit an, dies bei Ihren Mittelsmännern unter den modebewussten Gentlemen durchblicken zu lassen. Machen Sie Termine, damit sie von einem Schneider aufgesucht werden.«
»Sir, das wäre doch nur vergeudete Zeit und Mühe«, wandte Forester ein. »Niemand wird ein Gewand in einer so grotesken Farbe tragen.«
»Die ganze Welt wird diese Farbe tragen«, sagte Ellershaw. »Sehr gut, Weaver. Es sind noch zwei Wochen bis zur Versammlung der Anteilseigner. Vielleicht kann ich meinen Kopf doch noch retten. Noch ist das letzte Wort längst nicht gesprochen. Nun aber zurück zu Ihren eigentlichen Aufgaben.«
Ich verbeugte mich vor beiden und ging. An Foresters Gesichtsausdruck sah ich, dass ich soeben weiteres Öl in die Flamme des Hasses auf mich geschüttet hatte, die in ihm brannte.
An diesem Abend traf ich mich zur verabredeten Zeit mit Car-michael hinter dem größten der Lagerschuppen. Der Himmel war ungewöhnlich dunkel - dichte Wolken, aus denen nur vereinzelt Schneeflocken fielen, verdeckten den Mond. Obwohl das Gelände gut beleuchtet war, gab es doch überall genügend Schatten, in deren Schutz wir uns voranschleichen konnten. Ich wusste, dass die Hunde meinen Geruch inzwischen kannten und nicht anschlagen würden und auch, wann die Wachposten wo auf ihren Rundgängen vorbeikämen. So war es nicht schwierig, sich in der Finsternis ungesehen zu bewegen.
Carmichael führte mich zu der nördlichsten Ecke des Geländes, zu ebenjenem Gebäude, das sich Greene House nannte. Es ragte drei Stockwerke empor, war aber schmal gebaut und hatte auch schon bessere Tage gesehen. Es war die Rede davon, dass es irgendwann im nächsten Jahr abgerissen werden sollte.
Die Wachposten hatten keinen Zugang zu dem Gebäude, da man argwöhnte, sie könnten sonst versucht sein, sich nach Herzenslust zu bedienen, weshalb die Tür auch verriegelt war. Ich als der Oberaufseher jedoch besaß einen Schlüssel, und nachdem einer der Männer, dem man an seinem schwankenden Gang ansah, dass er während seiner Arbeitszeit ein wenig zu sehr dem Bier zugesprochen hatte, an uns vorbeigetorkelt war, verschafften wir uns Zutritt.
Vorsichtshalber hatte ich bereits Kerzen und Zündholz an einer leicht wiederzufindenden Stelle deponiert. Dann wandte ich mich in dem dunklen Gebäude, von dessen hohen Wänden sämtliche Geräusche widerhallten, nach Carmichael um, dessen Gesicht vom flackernden Kerzenschein erhellt wurde.
»Wohin?«
»Nach oben«, sagte er. »Es ist im obersten Stockwerk, das nicht mehr genutzt wird, weil es eine Heidenarbeit ist, Lasten hinauf- und hinunterzutragen. Und die Treppe ist ziemlich morsch, also müssen wir uns sehr vorsehen. Bleiben Sie auch mit der Kerze weg vom Fenster, sonst sieht man uns. Man weiß nie, wer zu Aadils Gefolgsleuten gehört und wer nicht.«
Das war unzweifelhaft ein guter Rat, also übergab ich lieber ihm die Kerze und ließ mich von ihm, wie ich hoffte, sicher führen. Schließlich war es durchaus möglich, dass Carmichael doch kein so braver Kerl war - unter Umständen konnte man ihm doch nicht trauen. Ich war hier schon mehr falschem Spiel begegnet, als ich gewohnt war, obwohl ich durchaus bereits früher die Erfahrung gemacht hatte, dass in großen Unternehmen wie diesem Missgunst an der Tagesordnung war.
Als wir vor der letzten Treppe standen, wandte sich Carmi-chael zu mir um und sagte: »Ab hier wird's schwierig.«
Im Licht der Kerze begriff ich sofort, was er meinte. Die Stufen waren faulig, und die ganze Treppe drohte jeden Moment in sich zusammenzustürzen. Nichts gab einen Hinweis darauf, wo sie das Gewicht eines Mannes noch zu tragen vermochte und an welcher Stelle sie unter meinen Füßen nachgeben würde. Ganz so morsch konnte sie nun aber auch wieder nicht sein, sagte ich mir, denn wie sollten Aadil und seine Männer sonst Kisten in den dritten Stock hinaufschaffen? Trotzdem folgte ich vorsichtig Carmichaels Schritten.
Oben angekommen, führte er mich einen staubigen Gang hinunter, der an einer Tür endete. Sie war verschlossen, doch ich hatte mich vorbereitet und zog einen Satz Pickel, die im Schein der Kerze glänzten, aus meiner Tasche. Carmichael aber wollte sich auch nicht lumpen lassen. In der Düsternis sah ich ein Grinsen aufblitzen, und schon hatte er einen Schlüssel in der Hand.
»Ich bin sicher, dass Sie mit einem Pickel gut umzugehen wissen, Sir, aber das hier macht die Sache für uns ein ganzes Stück leichter.«
Ich steckte die Pickel wieder ein und nickte zustimmend. Dann nahm ich ihm die Kerze ab und sah zu, wie er den Schlüssel ins Loch schob, am Knauf drehte und die Tür aufstieß. Mit einer großen Geste, hinter der wohl mehr steckte als bloße Höflichkeit, ließ er mich vor ihm eintreten.
Ich hielt die Kerze hoch, um mich in dem großen Lagerraum umzuschauen, in dem Kisten verschiedener Größen aufeinan-dergestapelt standen. Manche Stapel reichten bis fast unter die Decke; weitere Kisten waren scheinbar wahllos hier und dort auf dem Boden abgestellt. Alle waren verschlossen.
Als ich ein Stemmeisen entdeckte, stellte ich die Kerze ab, ergriff das Eisen und trat auf die nächstbeste Kiste zu.
»Nicht«, rief mich Carmichael zurück. »Sie dürfen sie nicht aufbrechen. Dann wissen sie, dass wir hier gewesen sind.«
»Sie werden natürlich sehen, dass jemand hier oben gewesen ist, aber nicht, dass wir es waren. Und wir sind nicht herge-kommen, um nur mal einen abschätzenden Blick in den Speicher zu werfen. Ich muss wissen, was hier versteckt wird.«
Er pflichtete mir mit einem wenig enthusiastischen Kopfnicken bei, und ich stemmte die erste Kiste auf. Sie enthielt dicke Stoffballen mit buntem Blumenmuster. Ich hielt die Kerze näher heran.
»Was ist das?«, fragte ich Carmichael.
Er nahm eine Ecke Stoff, rieb sie zwischen den Fingern, strich darüber und hielt sie ans Licht. »Das ist nichts«, flüsterte er. »Das ist der gleiche Stoff, der auch in den übrigen Schuppen gelagert wird.«
Wir öffneten willkürlich noch ein halbes Dutzend weiterer Kisten, fanden aber wiederum nichts außer der üblichen Importware der East India Company. Carmichael schüttelte den Kopf. »Das verstehe ich nicht«, sagte er. »Warum macht man sich die Mühe, das Zeug heimlich und unter Geheimhaltung hier raufzuschaffen? Das ist doch nichts Besonderes.«
Es dauerte einen Moment, bis ich dahinterkam, warum ein leitender Angestellter sich der Mühe unterzog, einen Verschwörertrupp zusammenzustellen, um Güter zu verstecken, die ebenso gut auch irgendwo anders gelagert werden konnten. »Könnte es sein, dass sie sich diese Kisten unter den Nagel reißen und den Inhalt zu ihrem eigenen Profit verkaufen wollen?«, fragte ich Carmichael.
»Diebstahl?« Carmichael lachte. »Wozu? In einem Monat gibt es für diese Stoffe keinen Markt mehr.«
»Vielleicht einen Schwarzmarkt, wo sie die Ware unter der Hand verkaufen?«
Wieder schüttelte er den Kopf. »Nein. Das Gesetz verbietet nicht den Verkauf von Seide, nur deren Tragen. Sie können diese Stoffe weiterhin anbieten, aber niemand wird sie abnehmen. Nach Weihnachten wird man sie nicht einmal verschenken können. Hier in England wird all dies bald weniger als nichts wert sein.«
»Und du bist dir sicher, dass an diesem Seidenstoff nichts Außergewöhnliches ist?«
Er nickte ernst. »Ganz normale Seide.«
Ich war mir sicher, dass ich etwas Wichtiges übersah. Auch Carmichael blickte ratlos drein. »Vielleicht sollten wir einen Blick auf die Frachtpapiere werfen«, sagte er. »Könnte doch sein, dass es nicht wegen der Stoffe selber ist, sondern damit zu tun hat, wo sie herkommen oder wo sie hinsollen?«
Das war ein guter Gedanke, und ich wollte Carmichael gerade dafür loben, als wir von unten das unzweifelhafte Geräusch einer Tür hörten, die geöffnet wurde, und gleich darauf gedämpfte, aber erregte Stimmen.
»Beim Scheitan«, fluchte Carmichael. »Sie müssen doch das Licht hinter dem Fenster gesehen haben. Schnell, verschwinden Sie von hier.«
»Wie denn?«
»Durch das Fenster. Das da. Auf dieser Seite des Gebäudes ist das Mauerwerk so uneben, dass Sie auf das Dach klettern und sich dort verstecken können, wenn Sie gelenkig genug sind.«
»Und was wird aus dir?«
»Ich muss das Fenster wieder hinter Ihnen schließen. Machen Sie sich um mich keine Sorgen, Mr. Weaver. Ich kenne mich in diesen Lagerschuppen aus, als wäre ich hier geboren. Sie werden mich nicht finden. Darauf können Sie sich verlassen.«
»Ich kann dich doch nicht so einfach deinem Schicksal überlassen.«
»Es bleibt uns keine andere Wahl. Sie darf um unser beider willen niemand hier antreffen. Und Sie können mir glauben - man wird nie merken, dass ich hier gewesen bin. Mir bleiben noch ein paar Minuten, alles wieder herzurichten, abzuschließen und mich in einer Nische zu verbergen, wo man nicht nach mir suchen wird. Wir sehen uns morgen, aber jetzt müssen Sie zu dem Fenster da hinaus.«
Ich tat es nicht gern, aber ich sah ein, dass er recht hatte. Carmichael hatte es nicht aus Selbstlosigkeit vorgeschlagen, sondern weil es das Vernünftigste war. Also ließ ich mich von ihm zu dem bewussten Fenster führen. Es war lange nicht geöffnet worden und klemmte, aber es gelang mir doch, es aufzureißen. Dann sah ich hinaus. Die Mauersteine waren tatsächlich ziemlich uneben. Jemand, der Angst vor großen Höhen hatte oder in ungewohnten Situationen nicht gut zurechtkam, wäre bei diesem Ausblick vielleicht das Herz in die Hose gerutscht, aber ich sagte mir, dass ich in der Vergangenheit Schlimmeres überstanden hatte, und das auch noch bei Regen und Schnee.
»Ich lasse das Fenster gerade so weit offen, dass Sie sich daran festhalten können, wenn Sie zurückkommen«, sagte Carmichael. »Aber die Tür muss ich hinter mir absperren, also hoffe ich, dass Ihr Werkzeug zu was nutze ist.«
Es waren nicht die Pickel, auf die es ankam, sondern der, der sie benutzte, aber ich war damit nicht unerfahren, also nickte ich nur. »Und du bist sicher, dass du hierbleiben willst?«
»Es ist das Beste so. Nun aber los.«
Also stieg ich aus dem Fenster und stellte mich in der nächtlichen Finsternis auf das zum Glück breite Sims. Ich fand Halt an einem hervorstehenden Mauerstein und zog mich zu einer Art Mauervorsprung hoch und danach zu einem weiteren, und gelangte so mit einer Leichtigkeit, die ich fast bedenklich fand, auf das Dach. Dort legte ich mich an einer Stelle, von der aus ich die Tür gut im Blick hatte, flach auf den Bauch. Aus dem Gebäude hörte ich gedämpfte Schritte, aber mehr auch nicht. Und dann nur noch die nächtlichen Geräusche Londons, die Rufe der Straßenhändler in der Ferne, das Gekeife und das Werben der Huren, das Klappern von Hufen auf Kopfsteinpflaster. Vom Hof drangen das Husten und das Lachen und das Fluchen der Wachleute zu mir hoch.
Ein leichter Regen durchnässte mich durch meinen Mantel hindurch bis auf die Haut, aber ich blieb mucksmäuschenstill liegen, bis ich sah, wie sich eine Gruppe Männer von dem Lagerhaus entfernte. Aus der Höhe konnte ich nicht hören, was sie sagten und nicht erkennen, wer sie waren, sondern nur, dass es vier Männer waren und es sich bei einem von ihnen seiner Statur nach um Aadil handeln musste. Einer der vier schien sich auf der Treppe verletzt zu haben, denn einer seiner Begleiter musste ihn stützen.
Ich wartete noch ein paar Stunden, bis ich schließlich befürchten musste, dass man mich in der Morgendämmerung würde sehen können, und machte mich auf den Abstieg, der weit beschwerlicher und beklemmender ausfiel als der Aufstieg. Vorsichtig tastete ich mich bis zu dem Sims vor und fand das Fenster angelehnt, wie Carmichael es versprochen hatte. Meine Pickel brauchte ich nicht einzusetzen, denn die Tür war nicht wieder verschlossen worden. Ich wusste nicht, ob Car-michael es einfach nur vergessen hatte oder es mir damit hatte leichter machen wollen oder ob es das Versäumnis der Männer gewesen war, die das Gebäude durchsucht hatten. Aber in dem Moment war es mir auch gleich. Später sollte mir aufgehen, dass es mir nicht gleich hätte sein sollen, aber das konnte ich zu jenem Zeitpunkt noch nicht ahnen.
Ohne Kerze musste ich mich sehr behutsam die Treppe hinunterbewegen und fragte mich die ganze Zeit, ob Carmichael vielleicht schon in der Nähe auf mich wartete. Im Erdgeschoss warf ich einen vorsichtigen Blick aus einem Fenster, ob auch niemand zugegen war und verließ dann ungesehen das Greene House. Von Carmichael war keine Spur zu entdecken. Danach musste ich mich noch eine halbe Stunde lang von Schatten zu Schatten ducken, um den Wachmännern auszuweichen, bis ich endlich das Gelände verlassen konnte. Zu Hause angekommen blieb mir eine Stunde Schlaf, bis ich wieder aufstehen musste, um dem neuen Tag entgegenzusehen - und den furchtbaren Neuigkeiten, die er bringen würde.