15


Während ich Ellershaw etwas vormachte, Cobb Informationen vorenthielt, mich mit Carmichael verschwor und mit Elias' Hilfe mein Ränkespiel weitertrieb, war es mir nicht ein einziges Mal in den Sinn gekommen, dass gewisse französische Spitzbuben sich meines bevorstehenden Unterganges so sicher wähnten, dass sie sogar einen Einsatz darauf wagten. Der Gedanke war zumindest unerfreulich, aber wie ich vor gar nicht so langer Zeit in Kingsley's Coffee House hatte feststellen dürfen, sollte man sich seiner Sache nie allzu sicher sein, und ich hatte allen Grund zu der Hoffnung, dass diese Gecken ihr Geld in den Sand setzen würden.

Gerne hätte ich mehr Zeit für Elias gehabt, denn obwohl es uns keine fünf Minuten gekostet hatte, eins und eins zusammenzuzählen, benötigen manche Erkenntnisse Zeit, sich erst einmal zu setzen und dann zu reifen, bevor wir sie voll und ganz auskosten können - wie eine gute Flasche Wein etwa. Den Luxus eines langsamen Gärprozesses konnte ich mir allerdings nicht leisten, denn ich hatte eine Verabredung, und obwohl ich dem Treffen mit gemischten Gefühlen entgegensah, wollte ich nicht zu spät kommen.

Ich hatte den ganzen Tag lang an kaum etwas anderes gedacht, und sowie ich ohne aufzufallen Craven House den Rücken gekehrt hatte, begab ich mich sogleich nach St. Giles-in-the-Fields. Meinen geneigten Lesern dürfte bekannt sein, dass es sich dabei nicht um einen der angenehmsten Stadtteile der Metropole London handelt, und obwohl ich es gewohnt bin, in anrüchigen Vierteln zu verkehren, stellt St. Giles mit seinen gewundenen Straßen und seinem Labyrinth von Gassen doch selbst die profundeste Ortskenntnis auf die Probe. Trotzdem fand ich mich ganz gut zurecht, und ein paar Münzen in der Hand einer mitteilsamen Straßendirne halfen mir denn auch, das Duck and Wagon zu finden.

Das Wirtshaus stellte, jedenfalls in Hinblick auf die Umgebung, in der es sich befand, sogar einigermaßen etwas dar, und mein Eintreten rief kaum Aufmerksamkeit hervor außer bei den Spielern und Huren und Bettlern, die allesamt auf Geldbeutel und ihre unbedarften Besitzer lauerten. Ich aber war nicht fremd in solchen Etablissements, und ich wusste mir einen bedrohlichen Anschein zu geben, so dass diejenigen, die in solch trüben Wassern nach leichter Beute fischten, sogleich witterten, dass sie es mit einem Hai unter den Ihrigen zu tun hatten und sich tunlichst fern von mir hielten.

Rasch erkannte ich, dass das Duck and Wagon zu der Sorte Spelunken gehörte, die sich Speisewirtschaft schimpften. Dementsprechend war in der Nähe der Küche ein Bottich von der Größe, dass ein ausgewachsener Mann darin hätte ein Bad nehmen können, aufgestellt, um den sich ungefähr zehn mit langen Messern bewaffnete Männer scharten. Sie alle hatten ihre drei Pennys bezahlt, um mit dem Messer zwei oder drei Mal - je nach den Regeln des Hauses - in den Bottich hineinstoßen zu dürfen. Ein Gewinner in diesem Glücksspiel würde am Ende ein Stück Fleisch aufgespießt haben, während die Verlierer sich mit einer Karotte oder einer Rübe bescheiden mussten.

Ich suchte mir einen Tisch in einer dunklen Ecke abseits des Trubels um besagten Bottich und zog mir den Hut tief ins Gesicht, während ich mein gepanschtes Ale trank. Es dauerte noch zwei Krüge von dem Gesöff, bis Miss Glade eintraf, und ich muss zugeben, sie nicht auf Anhieb erkannt zu ha-ben, was allerdings weder an der Finsternis noch an meinen leicht benebelten Sinnen lag, sondern an ihrer Kleidung. Offenbar wusste sie in noch mehr Rollen zu schlüpfen als die des Dienstmädchens und die der Angestellten in einem Handelshaus. Heute war sie als alte, schlampige Hure verkleidet und wirkte so unansprechend, dass sie ebenso gut auch unsichtbar hätte sein können. Aber man konnte sich wohl kaum besser tarnen als durch die äußere Erscheinung einer Kreatur, von deren Anblick ein jeder sich am liebsten abwendet. Zu Hunderten schleichen diese unglücklichen Weiber, deren verwitterte Körper für ihren Beruf nicht mehr taugen, in der Hoffnung durch die Straßen, einen Mann zu finden, der zu betrunken oder zu verzweifelt ist, um sich daran zu stören.

Miss Glade hatte sich in verlotterte Kleider geworfen, sich das Haar zerzaust, sich ein paar Zähne schwarz übertüncht und sich andere bräunlich gefärbt, um einen möglichst unappetitlichen Anschein zu erwecken. Am überzeugendsten jedoch war ihre Haltung. Mir war noch nie aufgefallen, dass ältere Huren einen ganz bestimmten Gang an sich haben, aber nun sah ich es. Nur Miss Glades dunkle, glänzende und wache Augen verrieten, dass sie es war.

Damit ihre Verkleidung überzeugend wirkte, bestellte ich auf ihren Wunsch hin einen Gin für sie. Ein paar der Gäste amüsierten sich zwar über meinen Geschmack, was Frauen betraf, aber niemand schien sich weiter etwas dabei zu denken -für sie war ich eben nicht mehr ganz nüchtern, und diese Frau konnte von Glück reden, auf mich gestoßen zu sein.

»Nun gut denn«, sagte ich und kam mir dabei ziemlich albern vor. »Mit Ihrer Maskerade hätten Sie mich beinahe hereingelegt, aber sei's drum - wir haben allerhand zu bereden.«

»Und das wird gar nicht so einfach sein, denn keiner von uns traut dem anderen.« Unter Schichten von Theaterschminke kam wie ein Palimpsest ein Lächeln zum Vorschein - ihr wahres Lächeln.

»Das, Madam, ist die traurige Wahrheit. Vielleicht wären Sie so gut, mir zu erklären, was Sie im Craven House eigentlich tun. Und wenn Sie schon einmal dabei sind, könnten Sie mir auch gleich verraten, inwiefern der Aufstand der Seidenweber neulich abends Ihre Pläne durchkreuzt hat.«

Sie zwinkerte unwillkürlich mit den Augen, was mir verriet, dass ich ins Schwarze getroffen hatte. »Meine Pläne?«

»Als Sie meiner angesichtig wurden, haben Sie etwas wie >Da sind Sie ja< oder so gesagt und dann Ihre Überraschung darüber zum Ausdruck gebracht, dass ich von der Menschenansammlung am Tor nicht aufgehalten worden war. Es ist klar, dass Sie mich für jemand anderes gehalten haben, weswegen Sie in meiner Gegenwart auch nicht Ihre Stimme verstellt haben, wie Sie es sonst im Craven House zu tun pflegen. Wenn wir uns an jenem Abend nicht begegnet wären, hätte ich wohl nie den Schluss gezogen, dass Sie sich als jemand anderes ausgeben, während Sie Ihrer Arbeit bei der East India Company nachgehen.«

»Sie ziehen eine ganze Menge Schlüsse«, sagte sie.

»Das stimmt. Falls Sie mich aber mit Fakten versorgen, werde ich weniger aufs Schlüsseziehen angewiesen sein.«

»Oder wie wäre es, wenn Sie mich mit Fakten darüber versorgen, was Sie so treiben?«

Ich musste lachen. »Wenn wir weiter wie Katz und Maus umeinander herumschleichen, kommen wir nie einen Schritt weiter. Sie müssen sich Ihre Gedanken gemacht haben, sonst hätten Sie sich nicht mit mir verabredet.«

Sie presste nachdenklich die Lippen aufeinander. »Da haben Sie natürlich recht. Es hat wenig Sinn, um den heißen Brei herumzureden. Wenn keiner von uns es wagt, den Mund aufzumachen, kommen wir nie zu einer Lösung. Und Sie dürfen mir glauben, dass es mein größter Wunsch ist, dass wir am selben Strang ziehen.«

»Und warum das?«, erkundigte ich mich.

Noch einmal zeigte sie mir ihr Lächeln. »Sie dürfen einer Lady nicht eine solche Frage stellen«, sagte sie. »Aber ich glaube, Sie kennen die Antwort.«

Ja, das hoffte ich auch. Aber ich durfte dieser Frau nicht trauen. Sie hatte Charme, sah gut aus und verfügte über Humor - eine Mischung, die ich ziemlich unwiderstehlich fand, und in ihr verbanden sich diese vorzüglichen Eigenschaften auf eine Weise, die mich geradezu magisch anzog. Doch alles, was ich bisher von ihr gesehen hatte, sagte mir, dass sie die Kunst, anderen etwas vorzumachen, auf das Trefflichste beherrschte, also musste ich davon ausgehen, dass jeder Versuch, mir zu schmeicheln, so falsch sein konnte wie ihre Kostümierung.

»Sir«, sagte sie. »Ich muss Ihnen eine einzige Frage stellen. »Beabsichtigen Sie mit Ihrem Tun im Craven House, dem Unternehmen zu schaden oder ihm zu nützen?«

»Keines von beiden«, sagte ich nach einem Augenblick des Zögerns. Ich hatte diese Frage nicht erwartet und musste mit meiner Antwort auf Nummer sicher gehen. Von einer neutralen Position ließ sich immer leichter abweichen. »Mir ist das Schicksal der East India Company gleichgültig, und ich lasse mich in meinem Handeln weder von dem einen noch von dem anderen beirren.«

Die Antwort schien sie zufriedenzustellen. »Ich freue mich, das zu hören, denn es bedeutet, dass wir nicht auf verschiedenen Seiten kämpfen. Nun aber dazu, was ich für die East India Company tue. Wie Ihnen bekannt ist, Sir, besitzt das Unternehmen kein Monopol auf seinem Gebiet. Jedes Unternehmen, das über die notwendigen Mittel und Beziehungen verfügt, kann mit Indien Handel treiben.«

Wieder musste ich lachen. »Ja, das habe ich auch schon gehört. Es scheint ein bevorzugtes Thema im Craven House zu sein.«

»Das ist auch nur zu begreiflich. Die East India Company muss ständig auf der Hut vor denjenigen sein, die ihr schein-bar ihren Reichtum nehmen wollen. Also wird häufig etwas unternommen, um einen potenziellen Mitbewerber auszustechen. Doch manchmal bleibt es nicht dabei. Manchmal wird zu unfairen Praktiken gegriffen und auch vor Diebstahl nicht zurückgeschreckt, um ein kleines Unternehmen, dass nicht mehr als einen Fingerhut voll vom Reichtum des Ostens abhaben möchte, im Keime zu ersticken.«

»Und Sie gehören zu einem solchen Unternehmen?«

»In der Tat. Ich stehe in Diensten eines Handelsherren, dessen geschäftliche Ideen und Kontakte ihm von Agenten der East India Company abspenstig gemacht worden sind. Ich halte mich im Craven House auf, um Beweise für diese Missetat zu finden und das begangene Unrecht wiedergutzumachen. Wie auch Ihnen liegt mir weder etwas daran, der East India Company zu schaden, noch ihr zu nützen. Ich will nur Genugtuung.«

»Die Direktoren der East India Company werden ein wenig anders darüber denken, aber das soll mir gleich sein. Wenn Ihrem Auftraggeber ein Unrecht widerfahren ist, wie Sie sagen, kann ich Ihnen nur Erfolg bei Ihren Bemühungen wünschen.«

»Vielen Dank, Sir. Könnten Sie mir nun vielleicht sagen, was Sie so umtreibt?«

»Aber gewiss.« Ich hatte mir darüber ausgiebig Gedanken gemacht, nachdem von Miss Glade der Vorschlag für diese Zusammenkunft gekommen war, und ich hatte mir eine Geschichte zurechtgelegt, von der ich glaubte, dass Sie meinen Zwecken aufs Vorzüglichste dienen würde. »Ich stehe in Diensten eines Gentleman, der mehr persönliche Verdienste als Vermögen vorweisen kann. Es handelt sich dabei um den leiblichen Sohn von Mr. Ellershaw. Unser werter Kollege hat ihn vor ungefähr zwanzig Jahren gezeugt, danach aber weder dem Kind noch der unglücklichen Mutter den Unterhalt gewährt, den auch solche unehelichen Kinder zum Leben brauchen. Ja, er hat die Mutter sogar auf die herzloseste Weise abgewiesen, als diese ihn um Hilfe anflehte. Auf Wunsch dieses Sohnes bin ich nun hier, um Beweise für Ellershaws Vaterschaft zu erbringen, damit gegen ihn ein Verfahren angestrengt werden kann.«

»Ich glaube, ich habe von dem Fall gelesen«, sagte Miss Glade.

»Tatsächlich?« Meine Verblüffung musste mir am Gesicht abzulesen gewesen sein.

»Ja. Miss Eliza Haywood hat ihn in einem ihrer romantischen Romane verwendet.«

Ich hustete nervös. Ein Mann am Nebentisch schaute zu uns herüber, um sich zu vergewissern, dass ich auch nicht erstickte. »Sie verfügen über einen wachen Geist, Madam, aber Sie wissen doch, dass Romanschriftstellerinnen sich rühmen, wie aus dem Leben gegriffen zu schreiben. Es kann daher nicht verwundern, wenn eine Geschichte aus dem wahren Leben in gewisser Weise einer Romanepisode ähnelt, die ihr nachempfunden ist.«

»Kann sein, dass Sie eher gewitzt als überzeugend sind.« Sie machte eine ausholende Geste mit den Händen und grinste dazu.

»Trotzdem«, sagte ich, »würde ich, wenn wir nun schon dabei sind, einander gegenseitig auf den Zahn zu fühlen, gerne etwas von Ihnen erfahren. Wie kommt es, dass eine junge Dame über eine solch bemerkenswerte Verstellungskunst verfügt? Und Sie wissen sich nicht bloß zu kostümieren, sondern auch Ihre Stimme, ja Ihren ganzen Habitus dem Kostüm anzupassen.«

»Nun ja.« Sie blickte zu Boden. »Ich habe Ihnen noch nicht alles von mir erzählt, Mr. Weaver. Aber da wir nun einander unser Vertrauen schenken und ich glaube, dass Sie mir nichts Böses wollen, will ich mich bemühen, noch ehrlicher mit Ihnen zu sein. Mein Vater, Sir, war ein jüdischer Handwerker, der ...«

»Sie sind Jüdin?« Ich musste mich gehörig zusammenneh-men, um ihr meine Frage nicht ins Gesicht zu schreien. So kam sie mehr als ein grollendes Flüstern heraus.

Sie sah mich amüsiert aus großen Augen an. »Erstaunt Sie das so sehr?«

Meine Antwort fiel ziemlich direkt aus. »Ja.«

»Ich verstehe. Eine brave Jüdin bleibt zu Hause, kocht, entzündet die Kerzen und stellt ihr Leben in den Zweck, es einem Vater oder Bruder oder Ehemann oder Sohn behaglich zu machen. Nur englischen Frauen ist es gestattet, sich frei auf der Straße zu bewegen.«

»So habe ich das nicht gemeint.«

»Sind Sie sich da ganz sicher?«

Nein, das war ich nicht, also vermied ich es, die Frage zu beantworten. »Es gibt nicht so viele von uns auf dieser Insel, als dass ich erwarten könnte, eine charmante Fremde wie Sie darunter zu finden.«

»Und doch verhält es sich so. Aber dürfte ich nun mit meiner Geschichte fortfahren?«

»Selbstverständlich.«

»Wie ich sagte, war mein Vater Handwerker, ein gelernter Steinmetz, der als junger Mann seine Heimatstadt Wilna verließ, um sein Glück zu suchen. Viele Männer wie ihn verschlug es nach England, denn nirgendwo in Europa können Juden so unbehelligt leben wie hier. Und hier ist ihm auch meine Mutter begegnet, die ebenfalls nach England ausgewandert war. Geboren war sie als Kind armer Eltern in einem Ort namens Kazimierz.«

»Also sind Sie eine Aschkenasin?«

»So pflegt Ihresgleichen uns zu bezeichnen«, sagte sie nicht ohne Bitterkeit. »Sie mögen uns nicht sehr.«

»Ich hege keine Vorurteile. Dessen können Sie gewiss sein.«

»Und wie viele Juden von meiner Sorte zählen Sie zu Ihren Freunden?«

Es war mir äußerst unangenehm, so ausgefragt zu werden,

also legte ich ihr nahe, doch mit ihrer Erzählung fortzufahren.

»Teils wegen der Frömmelei der Engländer, teils wegen der Bigotterie unseres eigenen Volkes fand er es sehr schwer, hier in seinem Beruf zu arbeiten, doch nach vielen Jahren der Mühe brachte er es zu einem einigermaßen auskömmlichen Leben. Leider ist er bei einem Arbeitsunfall ums Leben gekommen, als ich gerade siebzehn Jahre alt war. Ich kann mich nur damit trösten, dass die Arbeit mit Stein eben vielerlei Gefahren mit sich bringt. Meine Mutter war nicht in der Lage, uns zu ernähren, und wir hatten sonst keine Angehörigen in diesem Land. Also waren wir auf die Wohltätigkeit unserer Synagoge angewiesen, aber im Gegensatz zur anglikanischen Kirche verfügt diese nur über sehr geringe Mittel und konnte es sich kaum leisten, uns unser täglich Brot und ein Dach über dem Kopf zu gewähren. Diese Schande war zu viel für meine Mutter, so dass sie meinem Vater binnen eines halben Jahres ins Grab folgte. In all meinem Kummer fand ich mich auch noch mutterseelenallein auf der ganzen Welt.«

»Es tut mir sehr leid, das zu hören.«

»Sie machen sich kein Bild davon, wie schlimm es um mich stand. Alles, was ich besaß, war mir genommen worden, und mir standen nur bitterer Mangel und Elend bevor. In dieser Situation beschloss ich, die Papiere meines Vater zu durchforsten und stellte dabei fest, dass ein Mann von gewissem Ansehen ihm noch drei Pfund schuldig war. So bin ich zu Fuß durch diesen Moloch von einer Stadt gezogen und habe mir die übelsten Schmähungen gefallen lassen müssen, die Sie sich nur vorstellen können. Und ich wusste dabei um die Torheit meines Unterfangens, denn Männer wie der Schuldner meines Vaters pflegen ihre Rechnungen nicht zu begleichen, wenn sie es denn vermeiden können. So viel war mir längst klar geworden. Ich erwartete, grob abgewiesen zu werden, aber ich sollte mich gründlich getäuscht haben. Trotz der Fetzen, die ich am Leibe trug und meines elenden Aussehens empfing mich der Gentleman persönlich und übergab mir unter dem Ausdruck seines tiefsten Bedauerns ob der Verzögerung und meines Schicksals die mir zustehenden Silbermünzen, ja, er bezahlte mir sogar das Doppelte, um mein Leid zu mindern. Und er tat noch mehr für mich, Mr. Weaver. Er fragte mich, ob ich nicht als seine Gefährtin bei ihm bleiben wolle.«

Ich versuchte, meine Gefühle zu verhehlen. »Sie dürfen sich nicht schämen, zu etwas gezwungen gewesen zu sein, um nur überleben zu können.«

Sie sah mich unverwandt an. »Ich spreche nicht davon, dass ich mich geschämt hätte. Ich hatte sechs Pfund in meiner Hand, die wohl für Monate mein Überleben sichern würden. Und doch nahm ich das Angebot an, denn warum, sagte ich mir, sollte ich auf saubere Kleidung, ein Heim und mehr zu essen als das, was ich brauchte, um mich gerade eben vor dem Verhungern zu bewahren, verzichten? Ich weiß auch etwas über Ihre Geschichte, Sir, denn es ist in den Zeitungen darüber geschrieben worden. Als Sie in Ihrer Jugend ohne einen Heller dastanden, sind Sie in den Ring gestiegen, haben sich also von den Gaben Ihres Körpers ernährt. Ich habe nichts anderes getan, doch wenn Frauen dergleichen tun, werden sie mit allen möglichen Schimpfnamen bedacht. Und wenn ein Mann sich einer Frau annimmt, ihre Bedürfnisse nach Kleidung und Nahrung und einem Dach über dem Kopf stillt und sie als Gegenleistung nur auf die Aufmerksamkeiten anderer Männer verzichtet, nennt man das in manchen Ländern den Stand der Ehe. Hierzulande ist es Hurerei.«

»Madame, es steht mir nicht zu, über Sie zu urteilen.«

»Nicht mit Ihren Worten, aber ich kann in Ihren Augen lesen.«

Darauf wusste ich nichts zu erwidern, denn sie hatte richtig beobachtet. Ich hatte lange genug selber auf der Straße gelebt, um zu wissen, wie töricht es war, den Stab über eine Frau zu brechen, weil sie die ihr gegebenen Möglichkeiten nutzt, um dem Hungertode oder einem kaum erstrebenswerteren Dasein zu entgehen. Und ich wusste auch, dass wir nur deshalb so vorschnell verächtlich über Frauen sprachen, die sich nach ihrem Wohlgefallen ihres Körpers bedienten, weil wir Männer über das Tun und Lassen der Frauen bestimmen wollten. Und doch war ich enttäuscht, denn in meiner Vorstellung sollte sie rein und unbefleckt sein - was wiederum nur zu töricht meinerseits war. Es hatte schließlich mit ihrem Freiheitsdrang, ihrem wachen Geiste zu tun, ihrem Wunsch, mit der Welt im Einklang zu stehen - oder besser noch, die Geliebte der ganzen Welt zu sein -, dass ich mich so zu Celia Glade hingezogen fühlte.

»Wie Sie bin auch ich von der Welt, in die ich hineingeboren wurde, geprägt worden«, sagte ich versöhnlich. »Seit meiner frühesten Jugend ist es mir anerzogen worden, derartige Urteile über Frauen zu fällen, die ähnliche Entscheidungen wie Sie getroffen haben. Und obwohl ich mit reiferen Jahren den Wunsch habe, solche Vorstellungen aus meinen Gedanken zu verbannen, meldet sich doch eine innere Stimme in mir, die mich von dem Gegenteil überzeugen möchte.«

»Ja«, sagte sie, »ich habe Entscheidungen getroffen, und ich wusste, dass diese Entscheidungen zu der Zeit die richtigen waren, doch höre auch ich auf eine innere Stimme. So sehr, wie ich mir wünsche, nicht von Ihnen verdammt zu werden, so wenig will auch ich Sie verdammen. Doch zurück zu meiner Geschichte. Während ich seine Bevorzugte war, hat es mir an nichts gefehlt, und er fand großen Gefallen an meiner Neigung, alles zu parodieren. Zu Anfang ermunterte er mich nur, Bekannte von uns nachzuahmen, aber dann begann er, Kostüme für mich zu kaufen und mich in allerlei Rollen schlüpfen zu lassen - die einer bettelnden Zigeunerin, einer arabischen Kurtisane, eines Bauernmädchens, sogar die einer alten Frau. Ihm zu Gefallen habe ich mir die Fertigkeiten angeeignet, die Sie an mir beobachtet haben. Doch wie es sich unter solchen Umständen ergibt, traf er eine andere Frau, die jünger und interessanter war als ich und noch mehr seinem Geschmack entsprach.«

»Er muss der größte Dummkopf der Welt gewesen sein, dass er eine andere Frau Ihnen vorgezogen hat.«

Ich sah ein selbstgefälliges Funkeln in ihren Augen aufblitzen, doch sie zog es vor, meine schmeichlerische Bemerkung zu ignorieren.

»Auch wenn ich nicht länger die Dame seines Herzens war, hat jener Gentleman, dessen Namen ich nicht nennen werde, doch seine Pflicht erkannt - anders als Mr. Ellershaw, wie Sie ihn mir beschrieben haben - und fuhr damit fort, mich zu unterstützen. Nachdem ich zwei Jahre lang von ihm getrennt, aber von seinen Zuwendungen gelebt hatte, suchte er mich eines Tages auf, um mir zu sagen, dass er wünschte, ich würde meine Talente zu seinem Nutzen anwenden. Da ich ihm einiges zu verdanken hatte, konnte ich ihm diesen Wunsch schlecht abschlagen, vor allem, da ich mir auch in Zukunft sein Wohlwollen nicht verscherzen mochte. So bin ich als seine Augen und Ohren ins Craven House gekommen, um möglichst viel über die illegalen Machenschaften der East India Company in Erfahrung zu bringen und damit auch anderen Geschäftsleuten den Handel mit Asien zu öffnen. An dem Abend unserer ersten Begegnung hielt ich Sie für einen Bediensteten meines Wohltäters, der gekommen war, um die Abschriften einiger Papiere zu holen, die ich für seine Zwecke angefertigt hatte, und dadurch habe ich mich unwillkürlich verraten.«

Mir lag die Bemerkung auf der Zunge, dass ich wohl nicht der Einzige war, der Geschichten zum Besten gab, in denen Stoff für einen Roman steckte, aber das wäre ungalant gewesen, also nickte ich nur. Doch als dann die Andeutung einer Träne in ihrem Augenwinkel erschien, strich ich ihr über die Hand, wobei ich ein Ginglas umstieß, das seit ihrem Eintreffen unberührt auf dem Tisch gestanden hatte, und da wir recht weit entfernt vom Feuer saßen, konnte ich mir vorstellen, dass sie über die kühle Flüssigkeit in ihrem Schoß erschrecken musste.

»Oh, ist das kalt!«, entfuhr es ihr in ihrer eigenen Stimme - ganz und gar nicht der einer alternden Hure. Sie sprang auf und wischte sich das Getränk von der Kleidung. Zum Glück war es noch nicht tief eingedrungen, und obwohl sich die übrigen Gästen über das Missgeschick amüsierten, schien es niemandem aufgefallen zu sein, dass sie wie eine junge Dame gekreischt hatte und nicht wie eine verbrauchte, verwelkte Metze.

»Ich bitte sehr um Entschuldigung«, sagte ich und eilte zum Tresen, wo ich mir von dem Wirt ein einigermaßen trockenes Handtuch geben ließ. Danach konnte Miss Glade wieder Platz nehmen.

»Sie müssen meine Ungeschicklichkeit entschuldigen«, sagte ich noch einmal, nachdem ich das Handtuch zurückgebracht hatte. »Ich muss so von Ihrer Schönheit geblendet gewesen sein, dass ich gar nicht mehr wusste, was ich tat.«

»Ihre charmanten Worte klängen noch überzeugender, wenn ich nicht so gekleidet wäre«, sagte sie mit einem schiefen Grinsen, aber ich wusste, dass sie es mir nicht nachtrug. Im Gegenteil - der Zwischenfall hatte sogar dazu beigetragen, die Spannung zwischen uns zu lösen.

Es gab nun einiges, über das ich nachdenken musste. Wie viel davon sollte ich Cobb anvertrauen? Es war mir klar, dass Miss Glade die Unwahrheit gesagt hatte - zumindest, was ihren Versuch betraf, einem Kaufmann, dem man übel mitgespielt hatte, zu seinem Recht zu verhelfen. Ihre Geschichte ähnelte zu sehr meiner eigenen - eine Mär vom Streben nach Genugtuung. Aber wer wollte ihr die gute Absicht verübeln? Höchstens ein Angehöriger der East India Company. Doch für was auch immer sie mich halten mochte, eines wusste sie: Ich steckte nicht mit denen unter einer Decke.

Aber wie verhielt es sich nun wirklich mit Miss Glade? Wenn sie nicht war, als was sie sich ausgab, was war sie dann? Ich hegte durchaus meine Vorbehalte, denn ich hatte ihr schon die Geschichte davon, wie sie sich für ihren Galan verkleidet hatte, nicht abgenommen. Und sie war vermutlich auch keine Schauspielerin, denn das hätte sie doch nicht zu verhehlen brauchen. Aber wer sonst war so geschickt darin, sich als jemand anderes auszugeben?

Über die Antworten auf solche Fragen hatte ich nachgesonnen, als ich ihr Glas umstieß. Es war kalt in dem Raum, und sie würde sich erschrecken und, so hoffte ich, einen Schrei ausstoßen, und zwar mit unverstellter Stimme. Es waren nur vier Worte gewesen, nur vier Silben, aber das hatte mir gereicht, um die Spur von einem Akzent herauszuhören. Das langgezogene o, das s, das wie ein Zischlaut klang, das t, das viel gehauchter geklungen hatte, als es die Briten betonen. Es war nicht der Akzent einer Einheimischen, und erst recht nicht das Jiddisch der Juden Mittel- und Osteuropas. Oh ja, den Akzent kannte ich, konnte ihn sogar anhand so weniger Worte zuordnen.

Miss Glade war eine Französin, die etwas anderes zu sein vorgab, und ich konnte mir keinen anderen Grund dafür denken, als dass sie eine Spionin im Dienste der französischen Krone war, im Dienste eben jener Männer, die, wie ich annehmen musste, auf mein baldiges Ableben spekulierten.

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