22


Meine geneigten Leser können sich das Entsetzen vorstellen, das ich augenblicklich empfand. Moses Franco, ein Mann, der mir am Herzen lag, der mir nie etwas Böses angetan, es immer nur gut mit mir gemeint hatte, saß jetzt in einem dunklen Verlies, und das hatte er mir zu verdanken. Aber ich sagte mir, dass ich die Schuld nicht bei mir suchen durfte. Schließlich steckten Cobb und sein niederträchtiger Schoßhund Hammond hinter alledem. Ich hätte Mr. Franco nie etwas Schlechtes gewünscht. Dennoch war ich nicht ganz überzeugt, ob ich es mir damit nicht zu einfach machte. War ich bei meinen Nachforschungen zu weit gegangen? Hätte ich denen, die sich unerwünschterweise an meine Fersen hefteten, von meinen Ergebnissen berichten sollen? Hatte ich versucht, zu vielen Herren gleichzeitig zu dienen und in allererster Linie mir selber? Mr. Franco war es jedenfalls, der jetzt den Preis dafür bezahlen musste.

Ich hätte mich am liebsten sofort zum Gefängnis in der Fleet Street begeben, aber es war schon spät, und ich wollte Mr. Franco nicht in der Nachtruhe stören, die er dort gefunden haben mochte. Stattdessen verbrachte ich selber eine ruhelose Nacht und brach früh am nächsten Morgen auf, um meine Peiniger zur Rede zu stellen. Da es Sonntag war, wurde ich nicht im Craven House erwartet und konnte mir die Muße erlauben, einen Tag lang so zu tun, als diene ich nicht der East In-dia Company.

Um acht Uhr stand ich vor Cobbs Haus. Es war eigentlich noch zu früh für einen Besuch, aber ich scherte mich nicht um die Morgenruhe in diesem Haus. Mir lag sogar ausgesprochen viel daran, seine Bewohner früh aus dem Bett zu holen, vor allem, ehe sie zum Gottesdienst aufbrachen - vorausgesetzt natürlich, dass diese Leute, die sich sechseinhalb Tage in der Woche alle nur erdenklichen Schurkereien ersonnen, meinten, dies ließe sich mit ein paar Stunden heuchlerischer Bußfertigkeit wiedergutmachen.

Es überraschte mich, dass ich nur einmal an der Kordel der Glocke ziehen musste, und mir sogleich von einem bereits in seine Livree gekleideten und alles andere als verschlafen wirkenden Edgar geöffnet wurde. »Weaver«, begrüßte er mich, »wie kommt es, dass es mich nicht erstaunt, Sie zu sehen?«

Ich schob mich an ihm vorbei, und er schnaubte verächtlich durch die Nase angesichts meiner Grobheit. Er begriff wohl nicht, dass allein schon die scheußliche Tatsache, dass er lebte, dass er auf der selben Erde wandelte wie schöne Frauen, lachende Kinder und springlebendige hüpfende Welpen mir Grund genug war, ihn so zu hassen, dass ich ihn lieber geschlagen hätte anstatt ihn nur beiseitezustoßen. Und dabei hätte ich es nicht mit ein paar Fausthieben bewenden lassen. Nein, hätte ich mich nur eine Sekunde länger in der Eingangshalle aufhalten müssen, wäre ich ihm mit aller Kraft auf den Fuß getreten, hätte ihm den Ellenbogen in die Nase gerammt, bis sie nicht mehr zu bluten aufhörte, und ihn mit dem Knie seiner Männlichkeit beraubt. Und wer weiß, was ich ihm noch alles angetan hätte.

Ich folgte dem Geräusch von Silberbesteck, das klingend gegen Porzellan stieß und betrat einen bescheidenen, intimen Speiseraum, der viel kleiner war als der Saal, in dem Eller-shaw zu speisen pflegte. Aber ich nahm an, dass Cobb durchaus auch über ein solches Gewölbe verfügte, in dem er den feinen Herrn spielen konnte. Ja, man konnte diesen Raum trotz des in dunklem Blau und Braun gehaltenen Teppichs, der fast schwarzen Möbel und der in einem solch düsteren Grün getünchten Wände, dass man dabei an eine wolkenverhangene, mondlose Nacht denken musste, als gemütlich bezeichnen. Durch die hohen Fenster fielen lange, schmale Lichtstreifen herein, die den Eindruck erweckten, das Zimmer wäre von Spinnweben durchzogen.

Cobb und Hammond hockten denn auch wie zwei fette Spinnen einander gegenüber an jeweils einem Ende eines rechteckigen Tisches, der jedoch nicht so lang war, als dass dies einer Unterhaltung hinderlich gewesen wäre. Vor sich auf dem Tisch hatten sie so viel Brot, gebratene Pilze und Gebäck, dass es für zehn gereicht haben würde. Und während ich in der Tür stand und ins blendende Sonnenlicht blinzelte, schwirrten Bedienstete um sie herum und füllten ihre Teller mit allen erdenklichen Sorten von Schweinefleisch: Speck, Würste, so dünn geschnittene Schinkenscheiben, dass man beinahe durch sie hindurchsehen konnte und deren Fettrand im Kerzenschimmer glänzte. Obwohl ich in jüngster Zeit bemüht war, nur koschere Speisen zu mir zu nehmen, ist das nicht immer so gewesen, doch seit ich am Duke's Place mit seinen verschiedenen jüdisch geführten Speiselokalen lebte, war mir der Geruch von Schweinefleisch zuwider geworden. Aber das war es nicht, was mich mit solcher Abscheu erfüllte, sondern die Verfressenheit, mit der die beiden tafelten. Wenn man zusah, wie sie sich das Fleisch in die Münder stopften, konnte man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie am liebsten kleine Ferkel von den Zitzen ihrer Muttersau gerissen hätten, um sie bei lebendigem Leibe zu verschlingen.

Cobb wandte mir den Blick zu, nickte und spülte dann das, was er gerade im Mund hatte, mit einem kräftigen Schluck einer rötlich-gelben Flüssigkeit hinunter, die in einem übergroßen Kristallkelch schwappte. Ich hielt das Getränk für einen verdünnten Reisbranntwein. »Ah, Weaver«, sagte er, nach-dem er geschluckt und den Kelch abgestellt hatte. »Ihr Besuch kommt für uns nicht gänzlich überraschend. Soll der Junge ein Gedeck für Sie auflegen?«

»Wir wollen es doch nicht übertreiben«, sagte Hammond und fuhr von seinem Teller hoch, den er aufmerksam studiert zu haben schien. Er war etwas wählerischer als sein Onkel und schnitt seinen Schinken zumindest in mundgerechte Bissen zurecht, wobei allerdings einiges davon neben den Teller fiel. »Er hat kein Verlangen, mit uns zu speisen, und wir nicht mit ihm. Er soll da stehen bleiben, wenn er etwas zu sagen hat. Oder vielmehr soll er da stehen bleiben, damit er sich anhören kann, was wir ihm zu sagen haben.«

»Ich verlange, dass Mr. Franco aus der Haft entlassen wird«, sagte ich.

»Ich verstehe, wie Sie sich fühlen müssen, Mr. Weaver«, sagte Cobb. »Aber Sie müssen doch auch uns verstehen. Sie sind nicht sehr zuvorkommend uns gegenüber gewesen.«

»Und wir haben ihn auch noch dafür bezahlt. Das ist das Teuflischste daran«, meldete sich Hammond wieder zu Wort. »Es ist ja nicht so, dass wir ihn einfach dazu gezwungen hätten, unsere Wünsche zu erfüllen, nicht wahr, Onkel? Nein, er hat Geld bekommen, und das nicht zu knapp. Und bei der East India Company kassiert er auch noch ab. Doch nun besitzt er die Frechheit, uns Vorwürfe zu machen, weil wir ihn dafür bestrafen, dass er seine Pflichten vernachlässigt. Ich würde sagen, er hat Glück, dass nicht er im Karzer sitzt und darauf wartet, dass er am Fieber stirbt, ehe das Parlament irgendein dummes Amnestiegesetz erlässt.«

Cobb hüstelte sich verlegen in die Hand. »Sie müssen meine Lage begreifen, Mr. Weaver. Mr. Hammond übertreibt gern ein wenig, ich dagegen nicht. Doch hat jede Geduld einmal ihr Ende. Das werden Sie doch verstehen. Sie haben in ganz London Nachforschungen angestellt und sonst was in Erfahrung gebracht, aber uns haben Sie nicht eine Einzelheit mitgeteilt.

Und Sie haben einen meiner Verbindungsmänner verprügelt, und das kann ich auch nicht gutheißen.«

»Reden Sie von dem Mann, der versucht hat, meine Briefe zu stehlen?«

»Genau. Sie haben ihn übel zugerichtet, und das trage ich Ihnen sehr nach.«

»Woher hätte ich denn wissen sollen, dass er von Ihnen geschickt war und nicht von jemandem im Craven House?«, verteidigte ich mich, aber ich wusste, dass es nicht sehr überzeugend klang.

»Oh, das ist schwach«, fuhr Hammond dazwischen. »Äußerst schwach. Er benimmt sich wie ein Kind, das in der Speisekammer erwischt wird und behauptet, es wolle bloß eine Maus erschlagen.«

Cobb biss in eine Art Apfelgebäck und kaute nachdenklich. Nachdem er hinuntergeschluckt hatte, sah er mich so ernst an wie ein Schullehrer, der seinen Lieblingsschüler nur der Form halber ausschilt. »Ich würde mal sagen, dass Sie uns alles erzählen, was sie bisher herausgefunden haben, Mr. Weaver. Und von jetzt an wünsche ich, dass Sie uns regelmäßig Bericht erstatten. Ich möchte alles über Ihr Tun und Treiben im East In-dia House erfahren, ich möchte in sämtliche Einzelheiten Ihrer Nachforschungen eingeweiht werden, auch wenn diese kein Resultat hervorgebracht haben. Wenn Sie den Tag damit verbringen, einen Schneider auszufragen, von dem Sie glauben, er könne Ihnen etwas sagen, und dann feststellen, dass er doch nichts weiß, möchte ich seinen Namen und seine Adresse hören und auch das, was Sie von ihm zu erfahren hofften, und das, was er Ihnen tatsächlich hat sagen können. Ich hoffe, wir haben uns verstanden.«

Ich ballte die Faust und spürte, wie mir die Zornesröte ins Gesicht stieg, pflichtete ihm aber dennoch mit einem Kopfnicken bei. Da waren ja immer noch Elias und meine Tante. Und natürlich Mr. Franco, den ich bald wieder auf freiem Fuß zu sehen hoffte. Also folgte ich dem Rat meiner Tante, packte meine Wut und verschloss sie in einer Kammer, die ich eines Tages wieder öffnen würde - am Tag der Vergeltung.

»Ich fürchte, ich bin zu beschäftigt gewesen, um Ihnen regelmäßig Bericht erstatten zu können«, sagte ich entschuldigend, »aber wenn Sie ein Prinzip erarbeiten möchten, nach dem ich Ihnen regelmäßig zu Ihrer Zufriedenheit berichte, werde ich mich bemühen, diesem Prinzip treu zu bleiben. Und ich bin mir sicher, dass Sie Mr. Francos Freilassung bewirken werden, sowie Sie hören, was ich Ihnen bisher mitteilen kann.«

»Das glaube ich nicht«, mischte Hammond sich ein, um seinem Onkel keine Gelegenheit zu einer Erwiderung zu geben. »Das können wir nicht zulassen. Weaver hat sich unbotmäßig gezeigt, also bestrafen wir seinen Freund. Wenn wir diesen Freund nun frei lassen, weil Weaver alles wiedergutmachen will, hat er keinen Ansporn mehr, weiterhin ehrlich uns gegenüber zu sein. Dann kann er tun und lassen, was er will, und uns nur das Nötigste erzählen, während er uns weiter hinters Licht führt. Nein, ich muss darauf bestehen, dass Franco als Gemahnung daran, was auch den anderen blüht, wenn Wea-ver noch einmal schlauer als wir zu sein versucht, vorerst in Arrest bleibt.«

»Ich fürchte, da muss ich meinem Neffen recht geben«, sagte Cobb. »Ich bin Ihnen nicht böse, weil Sie versucht haben, uns zu hintergehen. Ich kann es sogar nachvollziehen. Ihnen gefällt Ihre Lage nicht, und wenn Sie versuchen, sich möglichst geschickt aus der Affäre zu ziehen, ist das vollkommen verständlich. Aber lassen Sie sich gesagt sein - auch wenn ich Ihnen nichts Böses zufügen will, werde ich doch dazu gezwungen sein, wenn mir keine andere Wahl bleibt. Nein, Mr. Weaver, Ihr Freund bleibt im Gefängnis, wenn auch nicht unbedingt bis an das Ende seiner Tage. Wir lassen eine Weile ins Land gehen, und wenn ich dann Grund zu der Annahme finde, dass Sie sich fair uns gegenüber gezeigt haben, werde ich seine Frei-lassung erwägen. Aber er muss lange genug dort bleiben, um seinen Aufenthalt beschwerlich zu machen. Sonst kommt es so, wie mein Neffe es gesagt hat und Sie werden nicht zögern, die Dinge in Ihrem Sinne anzugehen anstatt in unserem. So, und nun, Sir, muss ich Sie bitten, uns genauestens zu berichten, was Sie mit der Ihnen zur Verfügung gestandenen Zeit angefangen haben und was es war, was Sie uns nicht erzählen wollten. Mit anderen Worten - es interessiert mich brennend, was Sie für so wichtig gehalten haben, dass Sie es lieber vor uns verheimlichen, anstatt Ihre Freunde zu beschützen.«

»Mein Gott, hört auf, ihn so zu verhätscheln, Onkel«, blaffte Hammond dazwischen. »Die verdammte Aktionärsversammlung brennt uns auf den Nägeln, und wir wissen immer noch nicht, was Ellershaw vorhat. Und erst recht nichts von Pepper und seinen ...«

»Weaver«, unterbrach Cobb ihn, »es ist Zeit, uns zu sagen, was Sie wissen.«

Mir blieb keine andere Wahl. Da stand ich nun und fühlte mich schon wieder wie ein Schuljunge, aber diesmal wie einer, der vor die Klasse zitiert worden ist, um lateinische Verben zu konjugieren oder ein Gedicht aufzusagen. Und ich musste blitzschnell entscheiden, was ich über Absalom Pepper preisgeben durfte - falls ich ihn überhaupt erwähnte. Dieser tote Hallodri war die Schlüsselfigur dessen, was Cobb zu erfahren trachtete, und wenn es mir gelang, die Wahrheit am Ende dieses langen, verschlungenen Pfades aufzudecken, wäre es mir vielleicht auch möglich, meinen Peinigern einen vernichtenden Schlag zu versetzen. Ging ich aber nicht vorsichtig vor, musste ich damit rechnen, nach und nach von ihnen vernichtet zu werden.

Also zeigte ich, dass ich meine Hausaufgaben gemacht hatte. Ich erzählte ihnen von Ellershaws eingebildeter Krankheit, die ihn an den Rand des Wahnsinns trieb. Ich sprach über Forester und seine geheime Beziehung zu Ellershaws Frau und von meinem sonderbaren Abend in dessen Haus. Alle schäbigen Einzelheiten sprudelten nur so aus mir heraus, während ich bemüht war, das zu verschleiern, was ich nicht offenbaren wollte. Also beschrieb ich, wie man mich hatte zwingen wollen, Mr. Thurmond unter Druck zu setzen, die ganze verfahrene Situation in Ellershaws Eheleben und auch den Kummer wegen der verlorenen Tochter, den Mrs. Ellershaw für sich behalten musste. Ich berichtete Ihnen von Aadil, dass er sich feindselig mir gegenüber verhielt und ich ihn als gefährlich erachtete, dass er es aber offenbar nicht auf mich persönlich abgesehen hatte. An diesem Punkt gab ich mir den Anschein, als wäre ich mit meinem Latein am Ende. Eines hatte ich noch in der Hinterhand, und dieses mir verbliebene Faustpfand wollte ich mir vorerst noch bewahren.

»Wenn Sie uns nun freundlicherweise erklären würden, was mit dem Brief beabsichtigt war, den Sie Ihrem Freund, dem Doktor, hatten zukommen lassen wollen, und was es mit Ihren häufigen Besuchen in den Kaschemmen der Seidenweber auf sich hat.«

»Ja, darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen. Ich habe es mir bis zum Schluss aufgespart, weil ich es für das letzte Teil des Puzzles halte - zumindest des Puzzles, das ich bisher aufgedeckt habe. Ich bin dahintergekommen, dass Forester einen Teil der Lagerräume dazu nutzt, etwas zu verbergen, obwohl niemand zu wissen scheint, um was genau es sich dabei handelt. Mit der Hilfe eines Kameraden unter den Wachleuten habe ich mir Zugang zu diesem Geheimversteck verschafft, um zu erfahren, was Forester dort für sich aufbewahrte. Ich konnte unentdeckt entkommen, aber mein Kamerad wurde gestellt und ermordet, doch man hat es wie einen Unfall aussehen lassen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es Aadil, dieser Inder, gewesen ist.«

»Hören Sie auf, dauernd inhaltsschwangere Pausen zu machen«, fauchte Hammond mich an. »Wir sind hier nicht bei ei-ner Dichterlesung. Was war in dem Geheimversteck? Hat es etwas mit Pepper zu tun?«

»Das kann ich nicht sagen. Aber dieses geheime Versteck war der Grund für mein Treffen mit den Seidenwebern. Ich konnte mir nicht erklären, warum das, was ich dort vorfand, es wert sein sollte, versteckt zu werden oder gar einen Mord dafür zu begehen.«

»Heraus mit der Sprache!«, brüllte Hammond.

»Rohseide«, log ich und hoffte, dass es reichen würde, um sie auf eine falsche Fährte zu setzen. »Rohseide aus den südlichen Kolonien Amerikas. Forester und ein paar Mitverschwörer innerhalb der East India Company müssen auf eine Möglichkeit gestoßen sein, auf dem britischen Boden der Kolonien billig Seide herstellen zu lassen.«

Hammond und Cobb sahen einander verwundert an, und ich wusste, dass sie meine Lüge geschluckt hatten. Ich hatte Foresters rätselhaften Vorrat an Seide durch etwas ersetzt, von dem ich durch Devout Hale wusste, dass es so etwas wie den Heiligen Gral englischer Textilproduktion darstellte - Seide, für die kein Handel mit den Ländern des Orients getrieben werden musste. Ich konnte nur hoffen, dass mein Trick verfing.

Sowie ich meinen Vortrag beendet hatte, schien ich für die beiden nicht mehr zu existieren, ja geradezu unsichtbar geworden zu sein, während Cobb und Hammond aufgeregt im Flüsterton miteinander darüber debattierten, was diese Entdeckung bedeutete und wie mit ihr umzugehen sei - ein erstes Anzeichen dafür, dass meine Anwesenheit nicht länger erwünscht war. Daher murmelte ich ein paar höfliche Worte des Abschieds und zog mich unbemerkt zurück, während die beiden weiter versuchten, hinter des Rätsels Lösung zu kommen und sich damit auf die Jagd nach einem Phantom begaben. Über die möglichen Konsequenzen meiner Lüge machte ich mir jetzt noch keine Gedanken. Sollten sie mir dahinterkommen, würde ich die Schuld auf eine Fehlinformation seitens der Seidenweber abwälzen. Dann sollte Hammond doch versuchen, sein Mütchen an den Männern zu kühlen, die Devout Hales Flagge hochhielten. Aber das würde er bestimmt nicht wagen.

Mein nächster unangenehmer Anlaufpunkt war kein anderer als das berüchtigte Schuldnergefängnis in der Fleet Street, also machte ich mich auf den Weg nach Clerkenwell. Das große Gebäude aus roten Ziegeln mochte äußerlich stattlich wirken, doch für die Armen war es ein Ort des Grauens. Selbst diejenigen, die noch über etwas bare Mittel verfügten, konnten dort kaum auf einen erträglichen Aufenthalt hoffen, und jeder, der bei seiner Einlieferung noch nicht verschuldet war, würde es bald sein, denn auch für den kleinsten Brotkrumen musste man dort ein Vermögen berappen. Wer hier einsaß, hatte ohne eine Intervention seitens seiner Freunde keine Aussicht auf Entlassung.

Da ich gelegentlich schon mit dieser Institution in Berührung gekommen war - glücklicherweise jedoch nicht infolge eigener Verschuldung -, kannte ich einen der Wärter und hatte keine Schwierigkeiten, mich zu Mr. Franco führen zu lassen.

Zu meiner Erleichterung stellte ich fest, dass es mit seiner Verarmung nicht gar so schlimm stand, als dass er sich nicht wenigstens eine einigermaßen angenehme Unterkunft in den besseren Räumlichkeiten des Gefängnisses leisten konnte. Diese befand sich in einem feuchtkalten Gang mit hohen, vergitterten Fenstern, durch die das spärliche Licht des bedeckten Himmels drang. Es roch nach Bier und Parfüm und gebratenem Fleisch, und es fand ein reger Handel statt - Straßenhändler und Dirnen drängten sich aneinander vorbei und boten ihre Waren einem jeden an, der sie haben wollte. »Der beste Wein im ganzen Gefängnis«, rief ein Mann, »frische Hammelfleischpasteten«, ein anderer. In einer dunklen Ecke sah ich einen widerlich fetten Kerl mit abgeschnittenen Lippen seine Hand in das Mieder einer ebenso unappetitlichen Frau schieben.

Und dann kam ich zu Mr. Francos Zelle. Er reagierte sofort auf mein Klopfen und stand mit einem Buch mit portugiesischer Poesie unter dem Arm vor mir. Seine rot unterlaufenen Augen mit den dunklen Säcken darunter zeugten von argem Gram, doch ansonsten war er ganz der Alte. Er hatte sich große Mühe gegeben, seine gepflegte Erscheinung zu bewahren. Unter solch schwierigen Umständen eine beachtliche Leistung.

Zu meiner Verblüffung nahm er mich zur Begrüßung in die Arme, was mir peinlich war, denn es wäre mir lieber gewesen, wenn ich seinen Zorn zu spüren bekommen hätte. Hatte ich es anders verdient? Seine Herzlichkeit schmerzte mich mehr als sämtliche wütenden Vorwürfe, die er mir hätte machen können.

»Mein lieber Freund Benjamin, wie schön, dass Sie gekommen sind. Bitte treten Sie doch näher. Es tut mir leid, dass ich Sie nicht in behaglicheren Räumen empfangen kann, aber ich will es Ihnen so angenehm wie möglich machen.«

Der Raum war eng, ungefähr fünfzehn Fuß im Quadrat. Eingerichtet war er mit einem schmalen Bett und einem alten Schreibtisch, dessen eines Bein viel kürzer war als die anderen, so dass selbst der geringste Luftzug ihn zum Wackeln gebracht hätte, aber einen solchen Luftzug gab es in dieser Kammer nicht - die kalte, nach Schweiß und schalem Wein riechende Luft stand darin, und in sie mischte sich der säuerliche Gestank einer toten Ratte, die irgendwo in einer verborgenen Ecke vermoderte.

Mr. Franco bat mich, auf dem einzigen Stuhl Platz zu nehmen, während er sich an seinen Schreibtisch stellte - gewiss der wichtigste Einrichtungsgegenstand an einem solchen Ort, denn er bot die Möglichkeit des Verfassens unterwürfiger Briefe an Freunde, in denen man sie um alles, was sie zu erübrigen vermochten, anbettelte. Auf dem Tisch lag allerdings kein Schreibpapier - vielmehr diente er der Aufbewahrung von Büchern, drei Flaschen Wein, ein paar Messingbechern, einem halb gegessenen Laib Brot und einem Stück blassgelben Käses.

Ohne mich gefragt zu haben, ob ich etwas trinken wolle, goss er Wein in einen der Becher und reichte ihn mir. Dann schenkte auch er sich einen Becher ein, und nachdem er den Segen über den Wein gesprochen hatte, nahmen wir beide einen großen Schluck.

»Ich muss Ihnen leider sagen«, begann ich, »dass sämtliches Geld, das ich auftreiben könnte, Sie hier nicht herausholen würde. Meine Feinde haben beschlossen, dass Sie hier verweilen sollen, und ich fürchte, dafür werden sie auch sorgen. Zumindest hat man mir jedoch angedeutet, dass Ihre Freilassung in ein paar Wochen möglich wäre - Wohlverhalten meinerseits vorausgesetzt.«

»Dann muss ich mich auf einen längeren Aufenthalt vorbereiten, denn falls ich irgendeinen Einfluss auf Sie ausüben kann, dann dahingehend, dass Sie kein Wohlverhalten ihnen gegenüber zeigen. Ich bin hier, damit Sie Wachs in deren Händen sind, Benjamin. Sie dürfen nicht klein beigeben. Jedenfalls jetzt noch nicht. Tun Sie, was Sie müssen. Ich bleibe hier. Vielleicht schicken Sie mir ein paar Bücher und sorgen dafür, dass ich etwas Verträgliches zu essen bekomme - dann geht es mir schon gut. Darf ich Sie mit einer Liste dessen, was ich benötige, behelligen?«

»Sie behelligen mich keineswegs. Es wäre mir die größte Ehre, für Sie zu sorgen.«

»Machen Sie sich keine Gedanken wegen meines Aufenthaltsortes. Ich habe mich in diesem Raum, auch wenn er nicht der nobelste ist, den ich je bewohnt habe, eingerichtet, und mit Ihrer Hilfe bekomme ich Nahrung für Körper und Geist. Essen und trinken hält Leib und Seele zusammen, und für meine körperliche Ertüchtigung werde ich auch sorgen. Es wird alles gut.«

Ich hätte nicht die Worte dafür gefunden, um ihm zu sagen, wie sehr ich es bewunderte, mit welch stoischer Gelassenheit er sich in sein Los fügte, und ich war ihm dankbar dafür, dass er mich um kleine Gefälligkeiten bat, denn das half mir, mit meiner Schuld zu leben.

»Gibt es sonst noch etwas, das ich für Sie tun kann, wenn es in meiner Kraft steht, Ihnen Ihre Gefangenschaft erträglicher zu machen?«

»Nein, nein. Aber Sie können mir alles erzählen. Es birgt kein Risiko. Mir kann sowieso nichts mehr passieren. Eingesperrt, wie ich bin, könnte ich Ihnen trotzdem vielleicht sogar behilflich sein und damit auch meine Lage verbessern.«

Ich zweifelte nicht an der Aufrichtigkeit seiner Worte, aber es bestand immerhin die Gefahr, dass er sich durch das, was er von mir erfuhr, zu irgendeinem unüberlegten Handeln hinreißen ließ, ohne dabei an sein eigenes Wohlergehen zu denken. Daher beschloss ich, gründlich zu erwägen, inwieweit ich ihn einweihen wollte - zu seinem Besten und zu meinem.

Also erzählte ich Mr. Franco zwar nicht alles, aber doch genug - alles, was schon Cobb und Hammond von mir erfahren hatten, und noch ein wenig darüber hinaus. Ich sagte ihm, dass ich Celia Glade in Verdacht hatte, eine französische Spionin zu sein, berichtete ihm von Absalom Pepper und seinen zwei Frauen. Nur damit, was Forester in seinem geheimen Lagerraum verwahrte, hielt ich mich zurück. Selbst hier konnten die Wände die wachsamen Ohren meiner Gegner haben, und ich wusste nicht, zu was Cobb und Hammond noch imstande wären. Wie konnte ich mir sicher sein, dass sie nicht vor inquisitorischen Verhörmethoden zurückschreckten? Besser war es, sagte ich mir, das eine oder andere geheim zu halten, selbst vor meinen Freunden.

Mr. Franco lauschte mit besonderem Interesse meinem Bericht über das Geheimnis, das Ellershaws Stieftochter umgab. »Dies ist der richtige Ort, um etwas darüber herauszufinden«, sagte er. »Wenn sie heimlich geheiratet hat, müsste es hier in der Fleet Street geschehen sein, denn in den Schenken der Umgebung und sogar innerhalb dieser Mauern nehmen suspendierte Geistliche ungesetzliche Eheschließungen vor.«

»Interessant«, kommentierte ich, doch meine Begeisterung hielt sich in Grenzen.

»Da Sie nun gerade hier sind, sollten Sie vielleicht gleich mit Ihren Nachforschungen beginnen.«

»Das werde ich lieber sein lassen. Es reicht mir schon, dass ich in der East India Company Augen und Ohren aufsperren muss. Ich habe nicht das Verlangen, jemandes Leben auf den Kopf zu stellen und Mrs. Ellershaw oder ihrer Tochter Ungemach zu bereiten.«

»Im Geschäftsleben ist es oft der Pfad auf Umwegen, der am ehesten zum Ziel führt. Da wir nun einmal davon sprechen -

hatten Sie nicht gesagt, dass dieser Forester offenbar etwas vor

Ihnen verbirgt?«

»Ja, aber da er zärtliche Gefühle für Mrs. Ellershaw hegt, könnte es damit zu tun haben, dass er sie vor etwas beschützen will.«

»Ich sehe nicht, was es schaden soll, die Angelegenheit doch ein wenig näher zu betrachten. Sie könnten sich ja auch irren. Ich möchte Sie als Ihr väterlicher Freund nicht beeinflussen, aber ich hoffe doch, dass Sie jede sich bietende Möglichkeit nutzen, mehr über diejenigen zu erfahren, die unser Schicksal in Händen halten.«

Da hatte er natürlich recht. Es mochte nichts dabei herauskommen, wenn ich in der Angelegenheit ein paar Stunden opferte, aber dann konnte ich die Sache getrost gleich wieder vergessen.

»Vielleicht kann ich Ihnen sogar Zeit ersparen. Ich habe heute früh einen Priester namens Mortimer Pike kennengelernt, der in der Nähe des Old Bailey wohnt und sich damit brüstet, sozusagen der König der heimlichen Eheschließungen in der Fleet Street zu sein. Er will mehr davon vorgenommen haben als sonst jemand. Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber es scheint ein blühendes Gewerbe zu sein, und außerdem kennt dieser Pike auch all die anderen Priester.«

Ich bedankte mich bei ihm für diese Information, blieb noch eine halbe Stunde und machte mich dann auf die Suche nach besagtem Diener des Herrn.

Es ist immer eine der Besonderheiten Londons gewesen, dass es darin einzelne Winkel gibt, in denen die üblichen Gesetze, die unser Leben bestimmen, nicht gelten - beinahe so, als käme man plötzlich in eine Gegend, in der ein Gegenstand, den man fallen ließ, nicht auf dem Boden landete, sondern in die Höhe schwebte. Das dichte Gewirr von Gassen zwischen der Fleet Street und dem Strafgerichtshof war so eine Gegend. Hier war es undenkbar, dass jemand wegen seiner Schulden festgenommen wurde, also machten die verzweifeltsten Kreditnehmer der Stadt sich hier heimisch und wagten sich nur an Sonntagen aus ihrem Viertel, denn dann waren keine Gerichtsvollzieher unterwegs. Und zu den traditionellen Besonderheiten dieses Viertels gehörte auch, dass in den Gassen um die Fleet Street illegale Eheschließungen vorgenommen wurden. Hier konnte man ein minderjähriges Mädchen ohne Einwilligung der Eltern und ohne Aufgebot ehelichen.

So schlenderte ich durch die Gassen im Schatten der St. Paul's Cathedral und lauschte den Rufen der verwahrlosten Gassenjungen im Dienste solcher Priester. »Heiraten, heiraten, heiraten, heiraten!«, schrie einer von ihnen, der unter einem Ladenschild stand. Ein anderer zupfte mit seinen schmutzigen Fingern an meiner Hose. »Möchten Sie heiraten, Sir?«

Ich lachte nur. »Wen denn? Es ist keine Dame in meiner Begleitung.«

»Ach, dafür sorgen wir schon. Daran herrscht kein Mangel, Sir.«

Galt eine Heirat als nichts anderes mehr als ein gutes Mahl, das man sich genehmigte, wenn man ein Bedürfnis danach hatte, sich aber dabei doch damit bescheiden musste, was einem angeboten wurde? Ich sagte dem Jungen, ich sei auf der Suche nach Mr. Pikes und seinem Hochzeitshaus. Er erstrahlte über beide Backen.

»Für den arbeite ich. Kommt mit mir.«

Ich war gleichzeitig amüsiert und entsetzt angesichts solcher Praktiken, aber so steht es in unserem Königreich nun einmal um die Ehe. Man sagt, ein volles Drittel aller Ehen würden heimlich geschlossen, und wenn das wirklich der Fall war, musste man sich doch fragen, ob die den Eintritt in den ehelichen Stand betreffenden Vorschriften nicht möglicherweise geändert werden sollten, wenn so viele Menschen sich nicht an sie zu halten gedachten. Gewiss, viele dieser Ehen waren solcher Natur, dass kein Gesetz sie je würde erlauben können -zwischen Geschwistern oder anderen nahen Blutsverwandten, zwischen Kindern oder, noch schlimmer, zwischen einem Kind und einem Erwachsenen etwa oder auch Eheschließungen bereits Verheirateter. Aber der Großteil dieser heimlichen Ehen verband zwei junge Menschen, die einfach keine Lust hatten, die langwierige Prozedur, die das Kirchenrecht von ihnen verlangte, über sich ergehen zu lassen.

Angesichts eines solchen Bedarfs war es kaum verwunderlich, dass derartige Eheschließungen zu einer beliebten Erwerbsquelle mittelloser Priester geworden waren - und auch für jeden anderen von Geldnöten geplagten Mann, der sich einigermaßen überzeugend als Priester auszugeben wusste.

Ich weiß nicht, zu welcher Gattung Mortimer Pike gehörte, aber auf jeden Fall betrieb er ein gut gehendes Geschäft im Queen's Fan, einer Kaschemme, die so nahe beim Fleet River lag, dass die Aas- und Kotgerüche aus dem Wasser das ganze Haus durchzogen. Dies war kein Gebäude, in das man eintrat, um die feierlichste Entscheidung seines Lebens in die Tat um-zusetzen. Es war vielmehr eine baufällige, überfüllte und verräucherte Holzbaracke mit niedrigem Dach, in der alles, was man anfasste, sich klebrig anfühlte. Der Uhr an der Wand nach war es erst kurz vor neun, denn da per Gesetz Ehen nur zwischen acht Uhr früh und zwölf Uhr mittags geschlossen werden durften, galt hier immer und ewig eine vormittägliche Uhrzeit.

Ein paar der Damen stärkten sich an der Bar für den Schritt vor den Traualtar, während der Priester in einem etwas weiter hinten gelegenen, notdürftig hergerichteten Alkoven gerade eine Zeremonie durchführte. Es war zu merken, dass er es dabei eilig hatte, und obwohl ich kein Experte bin, hatte ich doch das Gefühl, dass er seinen Text nicht beherrschte. Woran das lag, wurde mir klar, als ich an seiner schleppenden Stimme hörte, dass er getrunken hatte, und sah, dass er auch gar keine Bibel in der Hand hielt, sondern eine Dramensammlung von John Dryden, und die auch noch über Kopf.

Aber dann lenkte mich auch schon etwas von dieser kleinen Unpässlichkeit ab: Die Braut trug ein exquisites blaues Kleid mit goldenem Mieder und eine Goldkette um den geschmeidigen Hals, war also offensichtlich eine Dame von Vermögen, während ihr zukünftiger Gemahl in schlichte, ungefärbte Wolle gekleidet war, überall Narben im Gesicht hatte und ganz allgemein den Eindruck eines Raufboldes erweckte. Nun, Sinn einer heimlichen Eheschließung ist es ja oft, diejenigen zusammenzuführen, die aufgrund ihres unterschiedlichen Standes sonst nie zueinanderkämen, aber das schien mir hier nicht der Fall zu sein. Mir fiel nämlich auf, dass die elegant gekleidete, aber nicht gerade vor Freude strahlende Braut nicht aus eigener Kraft stehen konnte, sondern von zwei Burschen vom Schlage ihres Bräutigams gestützt werden musste. Die beiden lachten miteinander und amüsierten sich damit, den Kopf der Braut hochzuhalten, denn dazu war sie infolge der Verabreichung von zu viel Alkohol oder sonst einem Gebräu selber nicht mehr in der Lage.

Dass bei einer Hochzeit zu tief ins Glas geschaut wird, kommt vor, wenn auch nicht unbedingt seitens des Geistlichen, und ich hätte mich auch gar nicht weiter eingemischt, wenn einer der Trauzeugen nicht auf die Frage des Priesters an die Braut, ob sie die Frau des Mannes neben ihr werden wolle, deren Kopf genommen und mit ihm ein Nicken nachgeahmt hätte, als wäre sie eine Puppe, was unter den Männern große Heiterkeit auslöste.

»Das reicht mir«, erklärte der Priester und wandte sich dann dem Bräutigam zu.

Dieser Priester konnte vielleicht damit leben, ich aber nicht. Ohne lange zu überlegen, zog ich meinen Dolch, trat dazwischen und hielt dem Bräutigam die Klinge an die Kehle.

»Sag ein Wort«, flüsterte ich, »und es wird dein letztes sein.«

»Wer zum Teufel bist du?«, wollte er wissen und hatte damit streng genommen sein eigenes Todesurteil unterschrieben, aber mir war es ja nur um den Abbruch der Zeremonie gegangen.

»Ich bin ein Fremder, der zufällig hinzugekommen ist, wie hier eine verschleppte Frau zur Ehe gezwungen werden soll«, sagte ich. Die Leichtigkeit, mit der man heimlich eine Ehe eingehen konnte, brachte leider solche Unrechtmäßigkeiten mit sich. Junge Frauen mit Aussicht auf eine erstrebenswerte Mitgift wurden entführt und auf die eine oder andere Weise gefügig gemacht. Wenn sie dann wieder zu sich kamen, mussten sie feststellen, dass sie inzwischen verheiratet und ihre Körper geschändet waren und der frisch angetraute Ehegatte seinen Anteil am gemeinsamen Vermögen forderte.

»Eine erzwungene Ehe!«, versuchte der Priester sich zu entrüsten. »Sir, Sie wollen mir doch nicht etwa unterstellen ...«

»Geben Sie uns einen Augenblick Zeit, damit wir diesem Spitzel beibringen, sich um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern«, sagte einer der Trauzeugen, und schon hatten die beiden die Braut unsanft zu Boden plumpsen lassen wie einen

Sack Mehl und wandten sich mir zu. Ihr hämisches Grinsen zeigte, dass sie mehr als bereit waren, es auf eine handgreifliche Auseinandersetzung mit mir ankommen zu lassen. Ich ließ von dem Ehemann in spe ab und holte mit meinem Dolch aus. Es ist stets ein Grundsatz von mir gewesen, dass ein ausgestochenes Auge die erfolgversprechendste Möglichkeit war, einen Angreifer zur Aufgabe zu zwingen, doch hier musste ich dieses Prinzip gleich auf zwei Gegner anwenden. Sowie ich dem ersten den entsprechenden Hieb verpasst hatte, schrie der auch schon auf und ging in die Knie, während sein Gefährte schleunigst das Weite suchte.

Um nicht der übertriebenen Grausamkeit bezichtigt zu werden, darf ich darauf hinweisen, dass ich nur zu solchen Mitteln greife, wenn ich mein Leben in Gefahr wähne - was hier nicht unbedingt der Fall war -, oder wenn ich es mit Schurken zu tun habe, die meiner Meinung nach mehr verdient haben als nur eine tüchtige Tracht Prügel. Jeder, der mir vorwirft, ich wäre doch wohl zu weit gegangen, sollte sich vor Augen führen, dass hier jemand eine junge Lady ihrer Familie fortnehmen, sie mit Alkohol willenlos machen und sie zwingen wollte, ein ihr unbekanntes Scheusal zu ehelichen, das sie alsdann vergewaltigen und von ihren Eltern die Herausgabe ihrer Mitgift verlangen würde. Wenn das nicht den Verlust eines Auges rechtfertigt, dann weiß ich nicht, was sonst.

Der Schuft wälzte sich erbärmlich wimmernd am Boden, also war der Bräutigam an der Reihe. »Er war nur dein Helfershelfer, also will ich es bei einem Auge bewenden lassen«, knurrte ich. »Du jedoch bist der Hauptschuldige, also wirst du beide verlieren. Aber meine Ehre gebietet es, dass du mir erst bedrohlich gegenübertrittst, bevor ich dich guten Gewissens deines Augenlichts berauben kann.«

Sein ungewaschenes Gesicht war kreidebleich geworden, und ich merkte, dass er es nicht darauf ankommen lassen wollte. Er wich vor mir zurück und trippelte um mich herum.

Dann raffte er seinen Freund vom Boden und entfernte sich, so schnell er konnte.

Ich, der Priester und die verbliebenen Heiratswilligen verfolgten schweigend den Abgang der beiden. Als sie fort waren, wandte sich der Priester dem Jungen zu. »Es ist nur recht und billig, wenn wir vorherige Bezahlung erbitten«, sagte er, und dann, an die Umstehenden gewandt: »Wer ist als Nächstes dran?«

Ich hatte mich inzwischen der bewusstlosen Braut angenommen und stützte sie mit einer Hand unter ihrer Achselhöhle -nicht gerade die Manier eines Gentlemans, aber besser ging es im Augenblick nicht. Ich konnte mich glücklich schätzen, dass sie von zierlicher Statur war.

»Ich bin der Nächste«, sagte ich zu dem Priester. »Jetzt kriegen Sie's mit mir zu tun.«

»Ach, Ihr möchtet die Dame selber heiraten?«

»Nein, ich möchte, dass Sie für Ihr Tun bezahlen. Wie können Sie solch ein Verbrechen zulassen?«

»Es geht mich nichts an, warum die Betreffenden die Ehe einzugehen wünschen, Sir. Ich biete lediglich meine Dienste an. Es ist ein Geschäft, versteht Ihr, und bei einem Geschäft stellt sich die Frage nach falsch oder richtig nicht. Die Menschen sind für ihr eigenes Leben verantwortlich. Wenn die Dame nicht heiraten will, dann muss sie das eben sagen.«

»Sie schien mir nicht in der Lage, sich zu etwas zu äußern.«

»Dann war es ihre eigene Verantwortung, nicht in einen solch elenden Zustand zu geraten.«

Ich seufzte. »Sie wird mir langsam zu schwer. Haben Sie ein Hinterzimmer, wo ich sie hinsetzen kann und wir ein Wörtchen miteinander reden können?«

»Ich habe hier Ehen zu schließen.«

»Erst bin ich an der Reihe, sonst werden Sie nie wieder eine Ehe schließen. Das kann ich Ihnen schriftlich geben.«

Er wusste nicht recht, was ich mit ihm vorhatte, und auch mir war das noch schleierhaft, aber er war Zeuge geworden, wie ich vor wenigen Minuten einem Mann eine Klinge ins Auge gestoßen hatte, also ahnte er, dass ich nichts Erfreuliches im Sinne hatte, und zeigte sich sogleich entgegenkommender.

»Dann folgt mir.« Mortimer Pike maß ungefähr fünf Fuß und war etwa fünfzig Jahre alt. Er sah nicht schlecht aus und verstrahlte auch einen gewissen Charme, aber sein Gesicht war von Falten durchzogen und verwittert, und seine hellgrünen Augen waren stumpf vom Suff, der sich auch in seinen Bewegungen niederschlug.

Ich schleppte meine Last hinter ihm her, aber in seiner privaten Kammer konnte ich die Dame endlich auf einem Stuhl absetzen, wo sie wie eine riesige Fadenpuppe in sich zusammensackte. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass sie nicht vom Stuhl kippen würde, wandte ich mich dem Trunkenbold von einem Priester zu.

»Ich will einen Blick in Ihre Heiratsdokumente werfen.«

Er sah mich einen Moment lang an. »Mein hauptsächliches Anliegen, Sir, besteht darin, den Menschen zu ihrem ersehnten Eheglück zu verhelfen und nicht, Dokumente hervorzukramen. Solange draußen Paare auf meine Dienste warten, ist es undenkbar, Euch dienlich zu sein.«

»Muss ich etwa deutlicher werden und es nicht nur bei Drohungen belassen? Zeigen Sie mir Ihre Bücher, und dann werde ich Sie nicht länger bei Ihrer Arbeit stören.«

»Es ist wohl kaum eine Arbeit, das Glück herbeizuführen«, sagte er. »Nein, es ist ein Segen. Der größte, dem ein Mensch teilhaftig werden kann.«

»Auch Erkenntnis ist ein Segen, und ich möchte mit der Heiratsurkunde einer Miss Bridget Alton gesegnet werden. Diese hoffe ich in Ihren Unterlagen zu finden.«

»Ja, die Unterlagen«, wiederholte er und nahm sein Register vom Tisch. Obwohl es sich um einen dicken, schweren Folianten handelte, drückte er ihn sich an die Brust wie ein gelieb-tes Kind. »Ihr werdet doch begreifen, dass die Aufzeichnungen über Eheschließungen ein heiliges und privates Dokument darstellen. Ich fürchte, es widerspricht dem Gesetz Gottes und der Menschen, dieses Buch jemandem zu zeigen. Und nun entschuldigt mich bitte.«

»Ich bin es, der sich hier entschuldigt.« Ich hielt ihn beim Arm fest. »Es ist ja wohl Sinn und Zweck eines solchen Buches, demjenigen, der in einer bestimmten Angelegenheit Nachforschungen anstellt, Aufklärung zu verschaffen.«

»Ja, das ist die vorherrschende Auffassung«, wand er sich. »Aber da befindet Ihr Euch im Irrtum, wie Ihr soeben erfahren habt.«

»Sie lassen mich jetzt in dieses Buch schauen, oder ich gehe mit der Dame zum Magistrat, und dort werde ich dafür sorgen, dass Ihnen dafür, was sich heute hier zugetragen hat, der Galgen droht.«

»Nun, für zwei Schilling wäre ich vielleicht bereit, Euch das Buch zu zeigen und meinen Hals zu retten.«

Ich konnte nicht umhin, seine Dreistigkeit auf eine gewisse Weise zu bewundern, also ging ich auf sein Angebot ein.

Der leise Schlummer der Dame entwickelte sich zu einem ausgewachsenen Schnarchen, was ich als gutes Zeichen dafür wertete, dass sie auf dem Wege der Besserung war. Schließlich konnte ich sie nicht nach Hause bringen, solange ich nicht erfuhr, wer sie war und wo sie wohnte, also behielt ich sie bei mir, während ich mich an die Arbeit machte.

Nachdem er eingewilligt hatte, mir seine Bücher zu zeigen, führte Pike mich zu einem Regal, in dem er noch mehrere solcher Folianten aufbewahrte. »Seit sechs Jahren führe ich Männer und Frauen zu ihrem Glück, Sir. Es ist mir eine Ehre gewesen, den Armen und Bedürftigen und Verzweifelten zu helfen, seit ich törichterweise in eine Schafzucht investiert habe. Würdet Ihr mir glauben, dass mein eigener Schwager mir gegenüber zu erwähnen versäumt hat, dass er alles andere im Sinn hatte, als für mein Geld Schafe zu kaufen? Das Geld rann ihm durch die Finger, und ich konnte meine Schulden nicht mehr bezahlen. Und, um ehrlich vor Gott zu sein, habe ich auch noch Geld nachgeschoben, nachdem das Kind bereits in den Brunnen gefallen war. Wegen ein paar hundert Pfund drohte mir bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag der Schuldturm. Würden da nicht die meisten verzweifeln?«

»Könnte sein«, sagte ich.

»Recht habt Ihr. Die meisten würden es. Aber nicht ich. Nein, aus der Hölle der Verzweiflung heraus habe ich begonnen, dem Herrn zu dienen. Und auf welche Weise kann dem Herrn besser gedient werden als durch das heiligste der Sakramente, die Ehe? Hat uns nicht der Herr gepredigt, fruchtbar zu sein und uns zu vermehren? Ich selber bin seit vielen Jahren mit einer lieben Frau gesegnet. Seid Ihr verheiratet, Sir?«

Um nicht am Ende noch von ihm bedrängt zu werden, diesem Mangel endlich abzuhelfen und die schlafende Dame zu heiraten, griff ich zu einer Notlüge und behauptete, es zu sein.

»Sehr gut, Sir, sehr gut. Ich kann es an Eurem Gesicht sehen. Es gibt keinen glücklicheren Zustand als den der Ehe. Es ist das Schiff des Glücks, das jeder Mann durch die Wogen steuern muss, findet Ihr nicht auch?«

Ich sagte nichts dazu.

Da ich ihm die Antwort schuldig geblieben war, wies er noch einmal auf seine Bücher. »Dies sind die gesammelten Aufzeichnungen von sechs Jahren, Sir. Bis zu hundert Eheschließungen jede Woche. Da sind einige Namen zusammengekommen. Nun, wann soll bewusste Ehe denn geschlossen worden sein?«

»Vor nicht länger als sechs Monaten.«

»Das macht es einfach, sehr viel einfacher. Dann finden wir es in dem Buch, das ich in Händen halte.«

Als er allerdings keine Anstalten machte, es mir zu geben, griff ich in meine Börse und holte die vereinbarte Summe hervor. Schon lag das freigekaufte Buch vor mir.

»Vielleicht erinnern Sie sich sogar an die Frau, die ich suche«, sagte ich. »Ich habe gehört, sie soll von bemerkenswerter Schönheit sein. Eine hochgewachsene, sehr, sehr blasse Gestalt von weißer Haut und hellem Haar und dennoch erstaunlich dunklen Augen. Ist Ihnen eine solche Frau mal begegnet?«

»Das könnte sein.« Er schien zu überlegen. »Leider ist mein

Gedächtnis nicht mehr das, was es einmal war. Schlimm, wenn die Konzentration eines Mannes ständig dadurch zerstreut wird, dass er nicht weiß, wovon er seine nächste Mahlzeit bezahlen soll.«

Ich gab ihm noch eine Münze. »Hilft das Ihrem Gedächtnis auf die Sprünge?«

»Oh, gewiss, das tut es. Ich kann jetzt mit Bestimmtheit sagen, dass ich das Mädchen, nach dem Ihr sucht, noch nie gesehen habe.«

Da das Mädchen aus gutem Hause stammte, konnte ich einigermaßen sicher davon ausgehen, dass Bridget Alton über eine gepflegte Handschrift verfügte, doch das erlaubte mir nicht, jedes unentzifferbare Gekritzel in dem Buch zu überfliegen, ohne es wenigstens einen Moment lang näher in Augenschein zu nehmen. Daher kostete es mich über zwei Stunden, mich durch die Namen der vergangenen sechs Monate hindurchzuarbeiten, und doch stand ich am Ende mit leeren Händen da. Kein Hinweis auf die Gesuchte. Natürlich war es möglich, dass sie einen falschen Namen angegeben hatte, aber das war ein Trick, zu dem meist Männer griffen, die etwas zu verbergen hatten. Eine Frau, sagte ich mir, selbst, wenn sie jung und von Liebe verblendet war, wäre längst nicht so geneigt, sich auf diese Weise zu verstellen, um sich damit scheinbar für die Ehe zu legitimieren.

Als ich das Buch zuschlug, kam Reverend Pike aus dem Schatten hervor, in dem er gelauert hatte. Er schüttelte kummervoll den Kopf. »Ich sehe, Ihr habt kein Glück gehabt. Trau-rig, traurig. Ich hoffe aber, Ihr greift auf mich zurück, wenn Ihr wieder einmal Einblick in Dokumente über Eheschließungen benötigt.«

»Gewiss«, sagte ich, obwohl es mir sonderbar erschien, eingeladen zu werden, ihn in dieser Sache gerne wieder zu beehren - als befände ich mich in einem Geschäft, in dem Schnupftabak oder Strümpfe feilgeboten würden. Ich warf einen Blick auf die schlafende Frau. Es war wohl an der Zeit, sie zu wecken und sich zu erkundigen, wo sie hingehörte. Doch Pike kam mir mit einem Räuspern zuvor.

»Wenn Ihr erlaubt.« Er öffnete eine Hintertür, und ich sah, dass in der Kaschemme eine ganze Reihe Priester auf mich warteten - eine Schar in schäbige, schwarze Talare gekleidete Männer mit vergilbten Halskrausen, die vor langer, unvorstellbar langer Zeit bestimmt einmal makellos weiß gewesen waren. Jeder von ihnen hatte ein Buch von verschiedener Größe und verschiedenem Umfang dabei, das er auf seine Weise hielt -mal an die Brust gedrückt, mal unter den Arm geklemmt, mal mir wie eine Opfergabe entgegengestreckt.

»Was soll das werden?«, fragte ich.

»Hoho.« Pike lachte herzhaft. »Habt Ihr geglaubt, es würde sich nicht herumsprechen wie ein Lauffeuer, dass ich einen Gentleman bei mir habe, der bereit ist, für die Einsicht in ein Heiratsregister zwei Schilling zu bezahlen?«

Hätte ich nicht vorgehabt, mir alles von Cobb zurückerstatten zu lassen, wäre ich vielleicht vorsichtiger mit meinem Geld umgegangen und hätte mich nicht auf die geschäftstüchtigen Bedingungen von Reverend Pike eingelassen - einen weiteren Schilling für die Benutzung seiner Räume, einen für mehr Kerzenlicht, um damit die Seiten zu beleuchten, als meine Augen müde wurden. Aber ich muss zugeben, noch nie so von vorne bis hinten bedient worden zu sein. Beim ersten Anzeichen, dass meine Lippen trocken wurden, erbot er sich, nach Bier zu schicken, und, als ein grummelndes Geräusch aus meinem Ma-gen drang, nach Brot und Käse - alles natürlich zu vollkommen überzogenen Preisen.

Am Ende schuftete ich über zwei weitere Stunden, bis sich der Staub unter meinen Nägeln, in meiner Nase und an meiner Zungenspitze sammelte. Ich konnte diese Bücher nicht mehr sehen, aber ich wollte sie allesamt durchforsten, doch erst, als der siebte oder achte Priester, ein kleinwüchsiger Mann mit einem Buckel und einem schiefen Lächeln, mir seinen schmalen Quartband präsentierte und mir bei dessen Durchsicht über die Schulter schaute, war mir das Glück hold. Ich konnte es kaum fassen. Da stand er klar und deutlich, der Name des Mädchens: Bridget Alton.

Darüber war der Name des glücklichen Ehemannes verzeichnet, der allerdings schwerer zu entziffern war. Ich musste ganz genau hinschauen, ehe ich ihn lesen konnte, und dann war mir auch sogleich klar, dass es sich um einen Falschnamen handeln musste: Achitophel Nutmeg. Man brauchte kein Hellseher zu sein, um sogleich hinter die wahre Identität des Bräutigams zu kommen, denn die beiden Vornamen Abschalom und Ahitofel stammten aus der Bibel, von Drydens Gedicht mit diesem Titel ganz zu schweigen, und die beiden Nachnamen bezeichneten verbreitete Gewürze - Pfeffer und Muskat.

Wieder einmal war ich auf einen Beweis für den beachtlichen Trickreichtum von Absalom Pepper gestoßen, jenem Mann, von dem Cobb behauptete, die East India Company habe ihn auf dem Gewissen. Nun sah es so aus, als wäre er auch mit Ellershaws Stieftochter verheiratet gewesen.

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