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M ein Onkel und Mr. Franco wohnten beide am Duke's Place im Pfarrbezirk von St. James. Auch ich hatte einige Jahre lang in dieser Gegend gelebt, allerdings in einer weit weniger vornehmen Gasse namens Grey Hound Alley. Die meisten Häuser hier wurden von Juden bewohnt, solchen wie den Mitgliedern meiner Familie, den Portugiesischsprachigen, obwohl sie aus aller Herren Länder stammten, und denen, die wir die Aschkenasim hießen. Sie selber nannten sich anders, aber ich wusste nicht, wie. Die Aschkenasim stammten aus osteuropäischen Ländern wie Polen oder Russen und strömten in immer größeren Scharen nach England, was unter uns Sephardim einige Unruhe auslöste, denn es gab zwar Arme unter uns, aber niemand war derart arm wie diese Juden, die uns mit ihrem Altkleiderhandel und ihrer Hausiererei bei den Nichtjuden in Misskredit brachten.

Fast alle, die mit mir im Haus wohnten, waren portugiesische Juden, und ich konnte mich der besten Räume im Gebäude rühmen. Die Miete war niedrig, so dass ich mir ohne Weiteres drei geräumige Zimmer leisten konnte, die dank mehrerer zu öffnender Fenster während der Sommermonate schön luftig waren, während in den Wintermonaten ein angemessen großer Kamin behagliche Wärme verströmte. Ich hatte sogar das Gefühl, dass meiner Vermieterin besonders an meinem Wohlergehen gelegen war, denn einen Mann von meinem Rufe im Haus zu haben, sagte sie sich wahrscheinlich, schreckte bestimmt Einbrecher und anderes Gesindel ab.

Ja, auch ich hätte gerne daran geglaubt, doch als ich an diesem Abend mit der Öllampe in der Hand meine dunkle Wohnung betrat, fuhr ich jäh zusammen, als ich eine Gestalt gewahrte, die, die Hände im Schoß gefaltet, geduldig wartend in einem meiner Sessel saß. Zuerst wollte ich die Lampe fallen lassen und nach einer Waffe greifen, aber dann sah ich gerade noch im Augenwinkel, dass die Person keine bedrohliche Bewegung machte, also offenbar nichts Böses im Schilde führte. Daher nahm ich mir die Zeit, noch ein paar Kerzen anzuzünden, ohne jedoch meinen Besucher dabei ganz und gar aus den Augen zu lassen, obwohl ich den Eindruck zu erwecken suchte, seine Gegenwart wäre für mich von untergeordneter Bedeutung.

Sobald alles genügend erhellt war, drehte ich mich um und sah in das mir nicht gänzlich unvertraute Lächeln eines ziemlich großen Mannes. Es war Mr. Westerly, der mich vor einigen Wochen aufgesucht hatte, um mich zu fragen, ob ich versuchen wolle, für ihn in das Geschäftsgebäude der East In-dia Company einzubrechen. Nun saß er, die plumpen Hände im Schoß, da, als gefiele es ihm nirgendwo auf der Welt so gut wie in meinem Wohnzimmer und in meinem Sessel. Seine Wangen waren vor Zufriedenheit rosig angelaufen, und seine übertrieben gekräuselte Perücke war ihm bis knapp über die Augen gerutscht, was den Eindruck erweckte, als schliefe er.

»Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, dass ich Ihren Nachttopf benutzt habe«, sagte er. »Keine Angst, ich habe ihn bei Weitem nicht gefüllt, aber es gibt ja manche Menschen, die es nicht mögen, wenn ein anderer seine Pisse mit der ihren mischt.«

»Von allem, was ich Ihnen vorzuwerfen habe, einem Mann, der ohne Befugnis in meine Räume eingedrungen ist, wäre dies wohl noch meine geringste Sorge«, sagte ich. »Also, was wollen Sie hier?«

»Sie hätten von vorneherein auf meinen Vorschlag eingehen sollen, finde ich. Nun sehen Sie sich doch bloß mal an, Wea-ver. Das alles hat Sie wohl ganz schön mitgenommen, oder?«

»Gegen Mr. Cobb vermag ich vielleicht im Moment nicht viel auszurichten«, sagte ich und sah ihn dabei unverwandt an, um ihn mit meinem Blick zu verunsichern. »Aber bei Ihnen ist das etwas anderes. Vielleicht kann ich einiges über Mr. Cobb in Erfahrung bringen, indem ich Sie mir einmal tüchtig vorknöpfe.«

»Das wäre eine Möglichkeit«, pflichtete er mir bei, »die Sie vielleicht nicht außer Acht lassen sollten. Ich bin nicht besonders mutig und gebe unter Androhung körperlicher Züchtigung leicht klein bei. Ich kann allein schon den Gedanken an Schmerzen nicht ertragen. Und doch sind Ihnen im Umgang mit mir ebenso die Hände gebunden wie im Umgang mit meinem Kompagnon. Wenn Sie mir etwas zu Leide tun, Sir, dann werden Ihre Freunde das auszubaden haben.«

»Vielleicht findet man Ihre Leiche nie. Cobb wird nie sicher sein können, dass ich derjenige gewesen bin, der Sie überredet hat, auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden.«

»Keine Angst, meine Geschäftspartner wissen ganz genau, wo ich mich im Augenblick aufhalte. Sie können erzählen, was Sie wollen. Niemand wird Ihnen glauben. Wenn Ihnen an Ihrem Onkel etwas gelegen ist, Sir, dann beten Sie, dass mir auf meinem Heimweg nichts zustößt.«

»Wenn Ihnen an Ihrem eigenen Wohlergehen etwas gelegen ist, dann beten Sie lieber, dass ich nicht alle Umsicht fahren lasse und dafür sorge, dass Ihnen schon innerhalb dieser vier Wände etwas zustößt.«

Er nickte. »Sie haben recht. Es ist nicht die Art eines Gentlemans, Sie auf diese Weise zu bedrohen. Ich bin gekommen, um Ihnen eine Nachricht zu überbringen, nichts weiter. Ich weiß sehr wohl um Ihre prekäre Situation, Mr. Weaver, aber Sie müssen uns nicht für Ihre Feinde halten. Auch uns tut es weh, müssen Sie wissen, Sie auf diese Weise zu behandeln. Aber wir brauchen Sie nun einmal, und Sie wollten uns nicht helfen. Dies ist nun das Ergebnis.«

»Ich habe keine Zeit, mir weiter dieses Gerede anzuhören. Überbringen Sie Ihre Botschaft, aber denken Sie das nächste Mal bitte daran, dass ich des Lesens mächtig bin. Wenn es noch etwas mitzuteilen gibt, dann sollte es schriftlich geschehen und nicht durch einen Boten.«

»Diese Mitteilung duldete keinen Aufschub. Ich bin gekommen, um Sie noch einmal an Mr. Cobbs Rat zu erinnern, sich nicht in seine Geschäfte einzumischen. Es ist ihm zur Kenntnis gelangt, dass Ihr Onkel und Ihr Bekannter unangebrachte Fragen gestellt haben. Und da Sie und Mr. Gordon sich heute Abend bei Ihrem Onkel getroffen haben und Sie danach zu Mr. Franco gegangen sind, kommt es mir so vor, als steckten Sie Ihre Nase in Dinge, vor denen man Sie gewarnt hat.«

Ich sagte nichts dazu. Wie hatten sie das herausgefunden? Die Antwort lag klar auf der Hand. Ich wurde beschattet. Nicht von Westerly; ein solcher Koloss von einem Mann konnte sich auf der Straße kaum unsichtbar machen, aber von anderen. Wer war dieser Jerome Cobb, dass er so viele Leute in seinen Diensten hatte?

»Ich habe mich mit meinem Onkel und einem Freund getroffen. Na und? Wir haben auch schon vor diesen Ereignissen häufig zusammengesessen.«

»Mag sein, aber Sie haben sich über diese Ereignisse unterhalten, nicht wahr?«

»Nein«, log ich.

Westerly schüttelte den Kopf. »Das kann ich Ihnen nicht glauben. Und es wäre in Ihrer Situation mehr als klug, nicht nur nichts zu tun, was Sie nicht tun sollen, sondern gar nicht erst den Anschein dessen zu erwecken.«

»Ich werde meinen Freunden und Verwandten nicht aus dem Wege gehen«, sagte ich.

»Nein, das sollen Sie auch nicht. Aber wir erwarten, dass Sie ihnen sagen, sie sollen mit ihren Schnüffeleien aufhören.« Westerly wuchtete seine Masse aus meinem Sessel und stützte sich auf seinen Gehstock. »Wir sind uns im Klaren, was für ein neugieriger Mensch Sie sind, und dass die Verlockung, mehr über Mr. Cobb herauszufinden, groß gewesen sein muss, also wollen wir dieses Mal von einer Bestrafung absehen. Aber Sie wissen nun hoffentlich, dass wir unsere Augen und Ohren überall haben. Hören Sie damit auf, sich aus dem Netz freizappeln zu wollen. Akzeptieren Sie unser großzügiges Angebot und tun Sie, wie Ihnen geheißen. Je eher Sie uns ans Ziel bringen, desto früher sind Sie ein freier Mann.«

Mr. Westerly wünschte mir eine gute Nacht und empfahl sich.

Zwei Tage darauf bekam ich Besuch von Edgar, der mir wortlos einen Brief übergab und danach wieder von dannen zog. Seine Blessuren waren einigermaßen verheilt, aber er machte immer noch einen ziemlich mitgenommenen Eindruck und war auch nicht geneigt, ein paar freundliche Worte mit mir zu wechseln.

Nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, riss ich den Brief auf und fand darin die Instruktionen, die Cobb angekündigt hatte. Ich sollte nun mit Mr. Ambrose Ellershaw von der East India Company, dem Mann, dem ich seine Unterlagen gestohlen hatte, Verbindung aufnehmen und ihm erklären, dass ich im Verlaufe meiner Ermittlungen in einer anderen Sache zufällig seinen Bericht sichergestellt und erkannt hätte, dass die Papiere von größter Wichtigkeit für ihren Eigentümer sein könnten, so dass ich ihm diesen gerne umgehend zurückerstatten würde.

Es war mir höchst zuwider, auf jeden von Cobbs Pfiffen hin sofort zu springen, aber ich zog es doch vor, in dieser Angelegenheit etwas zu unternehmen, anstatt untätig zu Hause zu sitzen. Vielleicht sähe ich bald ein wenig klarer, was man eigentlich von mir wollte und wieso Cobb so erpicht darauf war, dass ausgerechnet ich für ihn die Kastanien aus dem Feuer holen sollte.

Ich setzte mich in ein Kaffeehaus, in dem man mich kannte und schrieb ganz nach Cobbs Wunsch einen Brief, in dem ich Ellershaw anwies, mir seine Antwort in bewusste Lokalität zu schicken. Den Nachmittag, sagte ich mir, würde ich halt damit verbringen, die Zeitung zu lesen und meine Gedanken zu ordnen, aber dafür blieb mir kaum eine Stunde. Der gleiche Junge, den ich mit meinem Brief losgeschickt hatte, kam postwendend mit der Antwort zurück.

Lieber Mr. Weaver,

ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie glücklich ich bin zu erfahren, dass Sie die bewussten Dokumente in Ihrem Besitz haben.

Bitte suchen Sie mich, so rasch Ihnen dies möglich ist, im Craven House auf, was, wie ich hoffe, noch heute sein wird. Ich versichere Ihnen, dass Ihre Mühe und Ihre Eile entsprechend belohnt werden, denn ich weiß, was ich meinen Freunden schuldig bin.

Amb. Ellershaw

Ich trank meinen Kaffee aus und machte mich unverzüglich auf den Weg in die Leadenhall Street. Hier betrat ich noch einmal das Gelände der East India Company und das Craven House - diesmal allerdings auf direktem, weniger riskantem Wege.

Ein junger Türhüter, ein stattlicher Bursche, der seinem Akzent nach erst jüngst vom Lande in die Stadt gekommen war und sich glücklich schätzen konnte, hier eine so leichte Arbeit gefunden zu haben, ließ mich ohne Weiteres eintreten. Bei Tageslicht betrachtet kam einem das Hauptquartier der East India Company wie ein ganz gewöhnliches, hässliches altes Gebäude vor. Wie wir heute wissen, würde es schon bald aus allen Nähten platzen und vollkommen umgebaut werden, doch zur Zeit unserer Geschichte bot es noch genügend Platz und verriet nach außen hin kaum etwas von seinem Sinn und Zweck - abgesehen von einer Wandmalerei, die ein großes Schiff zeigte, das von zwei kleineren flankiert wurde, und dem hohen Tor in der Mauer, das Unbefugten den Zutritt verwehrte.

Im Haus herrschte eine Betriebsamkeit wie in einem Bienenstock. Angestellte liefen mit an die Brust gepressten Stapeln von Papieren hin und her, Büroboten rannten vom Haus zu den Lagerschuppen, um Bestände zu überprüfen oder Mitteilungen zu überbringen, Dienstboten brachten Mahlzeiten für die hungrigen Direktoren, die in den Büros im oberen Stockwerk unermüdlich schufteten.

Obwohl ich genau wusste, wo ich Ellershaws Büro finden würde, erkundigte ich mich danach, damit ich als Besucher glaubwürdig wirkte und stieg dann die Treppe hinauf. Als ich an die geschlossene Tür klopfte, forderte eine mürrische Stimme mich auf einzutreten.

Das war also das Zimmer, das ich im Schutze der Dunkelheit durchwühlt hatte. Im hellen Tageslicht sah ich nun, dass der Schreibtisch und die Bücherregale aus Eichenholz und mit allerhand Schnitzereien verziert waren. Von seinem Fenster aus hatte er nicht nur einen Blick auf die Lagerhäuser, sondern auch auf den Fluss in der Ferne und die Schiffe, die von weither wertvolle Güter brachten. Und während ich im Dunkeln nur vage ausmachen konnte, dass an den Wänden Bilder hingen, erkannte ich im Licht der Nachmittagssonne nun auch, was sie darstellten.

Jetzt begriff ich langsam, warum Cobb so darauf bestanden hatte, dass ich, und nur ich allein, Ellershaw seine vermissten Unterlagen zurückerstattete. Zwar hatte ich nach wie vor keine Ahnung, in welche Machenschaften Cobb mich verwickeln wollte, aber die Bilder in Ellershaws Büro sprachen Bände.

Nicht alle, muss ich hinzufügen - eine ganze Reihe davon zeigten Landschaftsszenen aus Indien -, aber die meisten hatten ein bestimmtes Thema. Ich erblickte über ein Dutzend Holzschnitte und Zeichnungen, die keinen Geringeren als Benjamin Weaver und seine Taten würdigten.

Sie spiegelten meine gesamte Laufbahn wider. Ellershaw besaß einen Druck, der mich in meinen frühen Tagen als Preisboxer zeigte, als ich gerade anfing, mir einen Namen zu machen, und einen, der mich in meinem letzten Kampf gegen den Italiener Gabrianelli darstellte. Ich entdeckte sogar eine ziemlich groteske Illustration, die mich ohne einen Fetzen Kleidung am Leibe bei meiner Flucht aus dem Gefängnis von Newgate zeigte, wo ich wegen einer unglückseligen Verstrickung in die Parlamentswahlen des bewussten Jahres gelandet war.

Kurz gesagt - Mr. Ellershaw war ein Kenner des Lebens von Benjamin Weaver. Im Verlaufe meiner Tätigkeit als Privatermittler war ich dem einen oder anderen begegnet, der mich noch aus meiner Zeit im Ring kannte, und ich darf mit Stolz behaupten, dass mehr als einer davon sich noch ehrfurchtsvoll an meine Kämpfe erinnerte und meiner Person mit Respekt gegenübertrat. Aber mir war noch nie ein Mann über den Weg gelaufen, der Bilder von mir auf die Weise sammelte wie andere Knochen oder Versteinerungen oder sonstige Kuriositäten aus fernen Ländern.

Ellershaw blickte mit einem Ausdruck freudiger Überraschung von seiner Arbeit auf. »Aha, Sie sind also Benjamin Weaver. Ich bin Ambrose Ellershaw und stets zu Ihren Diensten. Nehmen Sie doch Platz.« Er sprach mit einer merkwürdigen Mischung aus Schroffheit und Herzlichkeit. Als er merkte, dass mein Blick über seine Bildergalerie wanderte, errötete er sichtlich. »Wie Sie sehen, bin ich mit Ihrer Karriere, Ihrem Verschwinden und Wiederauftauchen vertraut. Ich weiß eine Menge über Benjamin Weaver.«

Ich setzte mich ihm gegenüber und schenkte ihm ein zaghaftes Lächeln. Diese Scharade, in der ich nun zurückbringen sollte, was ich selber gestohlen hatte, und seine Begeisterung, mich zu sehen, machten mich verlegen. »Ich freue mich, dass Sie mir so viel Interesse zollen - und bin gleichzeitig auch ein wenig überrascht.«

»Oh, ich habe Sie in vielen Kämpfen gesehen, sogar bei Ihrem letzten, gegen Gabrianelli - das war der Kampf, in dem Sie sich das Bein gebrochen haben, wie Sie sich ja sicherlich erinnern.«

»Gewiss«, bestätigte ich ein wenig dümmlich, denn wie konnte er glauben, mir wäre entfallen, dass ich mir im Ring das Bein gebrochen habe?

»Ja, ich werde den Anblick dieses Beinbruchs nie vergessen. Ich freue mich, dass Sie gekommen sind. Darf ich einmal sehen?«

»Das Bein?«, fragte ich voller Verwunderung.

»Nein, Sie Holzkopf«, sagte er barsch. »Den Bericht. Geben Sie ihn mir.«

Ich ließ mir mein Erstaunen über seinen plötzlichen Stimmungswandel nicht anmerken und reichte ihm die Unterlagen.

Er öffnete die Mappe und überprüfte den Inhalt mit sichtlicher Befriedigung auf dessen Vollständigkeit. Dann nahm er aus einer mit einem orientalischen Muster verzierten Tonschale einen harten, bräunlichen Klumpen und begann, bedächtig darauf herumzukauen, als handele es sich um etwas ausgesprochen Scheußliches und gleichzeitig unwiderstehlich Wohlschmeckendes. »Sehr gut«, murmelte er zwischendurch. »Alles an Ort und Stelle, was ich ein Glück nenne. Es wäre eine Heidenarbeit gewesen, das alles neu zusammenzustellen. Als ich das Fehlen der Mappe entdeckte, dachte ich, dies böte eine Gelegenheit, Weaver bei der Arbeit in seinem neuen Metier zu erleben, aber ich war mir gleichzeitig auch nicht ganz sicher, ob ich sie nicht doch in meinem Landhaus zurückgelassen hatte. Ich hatte deswegen schon nach meinem dortigen Bediensteten geschickt, damit er sich auf die Suche mache und erwartete jeden Augenblick Nachricht von ihm, als ich stattdessen Ihren Brief erhielt. Was für ein Glück. Wo haben Sie diese Sachen gefunden?«

Ich hatte mir bereits eine Ausrede zurechtgelegt und konnte seine Frage überzeugend beantworten. »Ich stand kurz vor der Ergreifung eines berüchtigten Hehlers, als ich auf eine Anzahl persönlicher Dinge stieß. Als ich diese Dokumente durchsah, wusste ich sofort, dass sie von Bedeutung sein mussten, und ahnte, wie glücklich sich ihr Eigentümer schätzen würde, sie zurückzuerhalten.«

»In der Tat, das bin ich«, sagte er und fuhr fort, seinen braunen Klumpen mit den Zähnen zu bearbeiten. »Sehr umsichtig von Ihnen, sich damit sofort bei mir zu melden. Wissen Sie, das ist das große Geschenk, das diese Insel dem Rest der Welt machen kann. Unsere Freiheit. Kein Waffenlager oder keine Waffe in den Arsenalen der Welt ist so mächtig, dass damit ein freier, moralischer Mensch korrumpiert werden könnte.«

»So hatte ich das noch gar nicht gesehen«, sagte ich.

»Gewiss nicht. Nun, was kann ich Ihnen zum Dank für Ihre Bemühungen anbieten?«

Ich tat so, als erwöge ich die Antwort sorgfältig. »Diese Papiere stellen für sich allein genommen keinen Wert dar, und für gewöhnlich berechne ich eine Guinee für die Rückerstattung solcher Gegenstände, aber da Sie mich nicht mit der Suche nach Ihren Unterlagen beauftragt haben und ich sie im Rahmen dessen, was zu tun ich ohnehin beauftragt war, gefunden habe, kann ich mit gutem Gewissen keinen Lohn dafür fordern. Meine einzige Bitte wäre, dass die East India Company, wenn diese in Zukunft an den Diensten eines Mannes mit mei-nen Fähigkeiten Bedarf haben sollte, nicht zögert, auf mich zurückzugreifen.«

Ellershaw schien, während er diesen sonderbaren Klumpen, der inzwischen seine Zähne mit einer braunen Schicht bedeckt hatte, weiter zermahlte, mein Anerbieten zu erwägen. Dann zog er sorgenvoll die Stirn in Falten. »Oh nein, das reicht mir nicht. Das reicht mir ganz und gar nicht. Wir können die Angelegenheit nicht einfach so auf sich beruhen lassen.«

Ich erwartete, dass er noch etwas hinzufügen würde, aber unser Gespräch wurde jäh unterbrochen, als er mit einem Male anfing, sich in seinem Sessel zu winden, als hätte ein plötzlicher, quälender Schmerz ihn gepackt. Er hielt sich am Rand seines Schreibtisches fest, kniff die Augen zusammen und biss sich auf die Unterlippe. Nach ein paar Sekunden schien der Anfall nachzulassen.

»Diese verdammte Krankheit. Ich muss meine Medizin nehmen.« Er zog an der Quaste einer Schnur, die neben ihm von der Decke hing, und in der Ferne hörte ich eine Glocke läuten. »Welche Art Anstellung schwebt Ihnen denn vor?«, fragte er mich.

»Ich bin in der glücklichen Lage, an keinem Mangel der Nachfrage nach meinen Talenten zu leiden, Sir. Ich bin nicht hergekommen, um Sie um eine sofortige Anstellung zu bitten - nur dass Sie in Zukunft an mich denken, wenn sich Bedarf einstellen sollte.«

»Nein, das reicht mir nicht. Ich bin zu glücklich, Sie endlich kennengelernt zu haben, als dass ich Sie mit einer so unsicheren Zusage wieder fortgehen lassen könnte. Ich weiß, dass Sie ein Mann von Stolz sind - ein Kämpfer mit der Faust. Sie wollen es mir gegenüber nicht zugeben, aber es kann doch nicht leicht sein, sich von einem Auftrag zum nächsten durchzuschlagen.«

»Es ist mir nie schwergefallen.«

»Doch, natürlich ist es das.« Er lächelte nachsichtig. »Sehen

Sie sich doch nur einmal an, Sir. Mit Ihrem sauberen Wams und so geben Sie eine gepflegte Erscheinung ab, doch jedermann kann Sie ohne große Mühe als Juden erkennen. Das muss doch eine schreckliche Bürde für Sie sein.«

»Eine erträgliche Bürde bisher.«

»Und so schrecklich diese Bürde doch sein mag, genießen Sie doch immerhin die Freizügigkeit eines Engländers, fast so, als wären Sie selber einer. Ist das nicht großartig? Freiheit ist, müssen Sie wissen, das Recht, den gewohnten Gang der Dinge in Frage zu stellen. Nehmen Sie doch zum Beispiel die ständige Veränderung des Marktes, wobei es wohl kaum eine Rolle spielt, ob es sich um den Markt für indisches Tuch oder für gestohlene Uhren handelt.«

»Ihre Einstellung zu diesem Thema ehrt Sie, Sir.« Ich schielte sehnsüchtig nach der Tür.

»Aber für einen Juden muss das doch eine ganz andere Sache sein. Freiheit verträgt sich nicht damit, eine Bürde mit sich herumzutragen. Wir müssen frei sein trotz unserer Bürde. Der Umstand, dass Sie Jude sind, hindert Sie doch gewiss daran, mit gewissen Gentlemen Umgang zu pflegen, wobei ich Ihnen versichern kann, dass ich mich nicht zu dieser Sorte zähle. Mir ist es gleich, sage ich Ihnen. Mir ist es gleich, ob Sie wie ein Jude aussehen oder als wenig mehr als ein Bittsteller zu mir gekommen sind, der mir mein gestohlenes Gut zurückbringt. Für mich hat das keine Bedeutung, und soll ich Ihnen auch verraten, warum?«

Ich hoffte, dass er es mir ersparen würde.

»Weil ich Sie im Ring habe kämpfen sehen, Sir. Ich weiß, von welchem Schlage Sie sind, auch wenn der Rest der Welt auf Sie spucken mag.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob Sie ...«

Aber er ließ mich nicht ausreden. »Für die Welt, Sir, sind Sie nichts als ein niederer Schnüffler, nicht wert, ihnen die Kamine zu kehren, während ich etwas viel Besseres in Ihnen sehe. Mir fällt gerade ein, was ich für Sie tun könnte. Möchten Sie es hören?«

Ich musste mich jedoch noch in Geduld fassen, denn es klopfte leise an der Tür, und ehe Ellershaw den Besucher hereinbitten konnte, wurde die Tür auch schon geöffnet und ein Dienstmädchen mit einem Tablett in Händen betrat den Raum. Auf diesem Tablett trug sie einen Topf mit einem dampfenden Gebräu, das nach Pilzen und Zitrone roch. Voller Abscheu erwartete ich, dass mir gleich davon angeboten würde, aber es war eigentlich nicht der sonderliche Tee, dem mein Augenmerk galt, sondern das Mädchen, denn bei dieser gebückten, demütigen Gestalt, die es offenbar gewohnt war, von den höheren Angestellten der East India Company brüsk herumkommandiert zu werden, handelte es sich um keine andere als jene Miss Celia Glade, die kecke junge Frau, die mir in ebendiesem Büro persönlich die Dokumente übergeben hatte.

Mit einem Knicks vor ihm stellte sie den Topf auf Mr. Eller-shaws Schreibtisch. Mir warf sie keinen einzigen Blick zu, aber ich wusste genau, dass sie mich erkannt hatte.

Nun, bei Tageslicht, ging mir auf, dass ich ihre Anmut noch unterschätzt hatte. Sie war groß und bemerkenswert gut gebaut, und trotz ihres weichen, runden Gesichts verfügte sie über markante Wangenknochen. Sie hatte eine hohe Stirn und rote Lippen, und ihre Augen waren so schwarz wie eine unergründliche Tiefe, womit sie von der zarten Blässe ihres Gesichts abstachen, aber gleichzeitig zu der Schwärze ihres Haares passten. Nur mit größter Mühe hielt ich mich davon ab, sie anzustarren - sei es nun aus Verwirrung oder Verzückung.

»Vielleicht darf Celia Ihnen etwas zu trinken bringen«, sagte Ellershaw und spuckte den Rest seines Klumpens in einen Eimer auf dem Boden. »Wünschen Sie Tee, Sir? Wir haben Tee, wie Sie sich wohl unschwer vorstellen können. Wir haben Tees, die Sie noch nie gekostet, von denen Sie noch nie gehört haben, Tees, die kaum ein Weißer außerhalb unserer Ge-sellschaft kennt. Wir haben Tees, die wir nur für unseren eigenen Gebrauch importieren, viel zu gut, um auch nur daran zu denken, sie zu verkaufen und damit ans gemeine Publikum zu vergeuden. So einen Tee würden Sie doch bestimmt gerne mal probieren?«

»Nun, ganz abgeneigt wäre ich nicht«, sagte ich, aber ich wünschte mir nur, das Mädchen würde den Raum verlassen und mir damit Zeit zum Nachdenken geben. Ich hatte sie für eine Art weibliche Angestellte gehalten, aber nun erwies sie sich doch nur als eine Dienstmagd. Aber wieso hatte sie dann so genau gewusst, wo Ellershaw seine Dokumente aufbewahrte und war sogleich bereit gewesen, sie mir zu überreichen?

Ellershaw jedoch ließ sich nicht beirren. »Natürlich möchten Sie Tee. Celia, bring dem Mann einen Topf von dem Grünen Tee, dem aus Japan. Ich wette, er wird sein Wohlgefallen finden. Mr. Weaver ist als Boxer berühmt, musst du wissen, aber nun ist er ein famoser Diebesjäger.«

Miss Glade wurde rot und machte ganz große Augen. »Er jagt nach Diebesgut? Das ist ein schlimmes Tun. Schlimm ist das.« Sie bediente sich nicht mehr der geschliffenen Ausdrucksweise einer Frau von Bildung - wie bei unserer ersten Begegnung. Sollte ich mich so in ihr getäuscht haben? Aber ich verwarf den Gedanken gleich wieder. Das Mädchen war etwas anderes, als sie zu sein vorgab, und sie wusste, dass es sich auch bei mir so verhielt.

»Nein, du dummes Ding. Doch kein Diebesgut. Er jagt Diebe. Er verfolgt sie, bis er sie gestellt hat, um sie dann ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Habe ich es richtig dargestellt, Sir?«

Ich nickte und wandte mich kühn der jungen Dame zu. »Allerdings ist das nur ein Aspekt meiner Tätigkeit. Ich decke auch betrügerische Machenschaften aller Art auf.«

Miss Glade sah mich ausdruckslos an, was wohl die Reaktion war, die Ellershaw von ihr erwartete. »Das ist bestimmt sehr gut, Mr. Ward«, stammelte sie unterwürfig, ließ aber nicht die

Gelegenheit aus, mich bei dem falschen Namen anzusprechen, den ich ihr bei meinem nächtlichen Raubzug genannt hatte.

»Weaver, Dummchen«, verbesserte Ellershaw sie, »und nun bring ihm seinen Grünen Tee.«

Sie knickste und verließ den Raum.

Das Herz schlug mir bis zum Hals - ich war noch einmal davongekommen. Aber vor was? Ich wusste es nicht zu sagen. Aber damit konnte ich mich jetzt nicht beschäftigen. Zunächst musste ich erfahren, was Ellershaw mit mir vorhatte. Leider hatte ich keine Ahnung, ob Ellershaw nicht etwa auf Anweisung Cobbs handelte. Wenn ich nun drauf und dran war, einen Fehler zu begehen? Aber das brauchte mich nicht zu kümmern, denn da Cobb mich nicht vor einem solchen möglichen Fehler gewarnt hatte, konnte er mich dafür auch nicht zur Verantwortung ziehen.

Ellershaw nippte an dem dampfenden Getränk, das das Mädchen ihm gebracht hatte. »Dies ist ein schauderhaftes Gebräu, Sir. Ausgesprochen schauderhaft. Aber ich muss es wegen meines Gebrechens zu mir nehmen, also wird keine Klage über meine Lippen dringen, obwohl es schmeckt, als hätte der Teufel höchstpersönlich es angerührt.« Er hielt mir die Kanne hin. »Versuchen Sie es, wenn Sie den Mut dazu haben.«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich verzichte lieber.«

»Verdammt, probieren Sie es doch mal.« Der Ton seiner Stimme passte nicht recht zu der Barschheit seiner Worte, aber mir wollte das trotzdem ganz und gar nicht gefallen, und ich hätte mich nicht so von ihm behandeln lassen, wenn ich die Freizügigkeit besäße, die er vorhin so betont hatte.

»Sir, ich habe nicht den Wunsch, es zu probieren.«

»Ha! Der große Weaver fürchtet sich vor einer Mischung medizinischer Heilkräuter. Was ist nur aus den Mutigen dieser Welt geworden? Wie ich sehe, ist dieser Trunk der David Ihres Goliaths. Er hat Ihnen ganz schön die Manneskraft genommen. Wo bleibt das Mädchen nur mit dem Tee?«

»Sie ist doch gerade erst zur Tür hinaus«, wandte ich ein.

»Ach, Sie schlagen sich schon auf die Seite der Damen, was? Sie sind ein hinterhältiger Kerl, Mr. Weaver. Ein sehr hinterhältiger Kerl, so hinterhältig, wie man es den Juden nachsagt. Wenn man die Vorhaut abschneidet, ist es, als würde man den Tiger aus seinem Käfig befreien, höre ich. Aber mir gefällt ein Mann, der es mit den Damen hält, und diese Celia ist wohl auch ein Leckerbissen ganz nach dem Geschmack der Männer, oder finden Sie nicht? Doch nun wollen wir diese Albernheiten lassen, denn Sie werden es im Craven House nicht weit bringen, wenn Sie an nichts anderes denken, als daran, einem Dienstmädchen unter die Röcke zu kriechen. Haben wir uns verstanden?«

»Absolut«, pflichtete ich ihm bei.

»Gut. Dann wenden wir unsere Aufmerksamkeit nun wichtigeren Dingen zu. Der Gedanke ist mir jüngst erst gekommen, so dass ich ihn noch nicht eingehender habe erwägen können, aber sagen Sie mir, Mr. Weaver, ob Sie je erwogen haben, für ein bedeutendes Handelshaus zu arbeiten, anstatt sich wie bisher von Tag zu Tag als unabhängiger Ermittler durchzuschlagen und sich stets fragen zu müssen, wo die nächste Mahlzeit herkommt?«

»Auf diesen Gedanken bin ich bis jetzt noch nicht gekommen.«

»Es ist mir gerade erst eingefallen, aber ich frage mich doch, wie diese Papiere haben verloren gehen können. Wie Sie vielleicht wissen, hat es neulich eines Abends einen Aufstand elender Seidenweber gegeben, und meine Wachposten waren allesamt damit beschäftigt, diesen Haderlumpen Verwünschungen entgegenzuschreien. In dem ganzen Durcheinander könnte einer der Schurken hier eingedrungen sein und sie genommen haben.«

Mit dieser Mutmaßung war er mir eine Spur zu nahe an der Wahrheit. »Aber was hätte man damit anfangen wollen? Ist sonst noch etwas weggekommen?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich finde es auch wenig plausibel, aber ich kann mir keine andere Erklärung denken. Selbst wenn ich mich irre, ändert das wenig an der Tatsache, dass unter unseren Wächtern Dutzende von zwielichtigen Burschen sind, wir aber niemanden haben, der das Wachpersonal im Auge behält. Der Spitzbube, der einen Arbeiter beim Verlassen des Geländes darauf untersucht, ob dieser auch nichts hat mitgehen lassen, wird am nächsten Tag von ebendem überprüft, der ihn am Vorabend unter die Lupe genommen hat. Der wunde Punkt unseres Unternehmens liegt also, um es kurz zu sagen, in den Machenschaften und den Unzulänglichkeiten ebenderjenigen, die dazu abgestellt sind, es zu bewachen. Also habe ich soeben gerade den Einfall gehabt, dass Sie der richtige Mann für den Postens eines Oberaufsehers sein könnten, der diesen Burschen auf die Finger schaut und dafür sorgt, dass sie nicht auf dumme Gedanken kommen.«

Mir fiel kaum etwas ein, was ich weniger gerne täte, aber ich wusste auch, dass man von mir erwartete, dass ich Eller-shaws Wünschen entgegenkam. »Ein früherer Offizier der Armee«, wandte ich ein, »wäre für diesen Posten aber doch bestimmt besser geeignet. Es stimmt schon, dass ich Erfahrungen damit habe, Diebe zu ergreifen, aber mir fehlt jede Erfahrung im Umgang mit Untergebenen.«

»Das ist kaum von Bedeutung«, verwarf er meinen Einwand. »Was sagen Sie zu vierzig Pfund im Jahr für Ihre Dienste? Wie finden Sie das, Sir? Ich kann Ihnen sagen, dass dies fast die Summe ist, die wir unseren Angestellten zahlen. Vielleicht sogar ein wenig zu großzügig, aber ich weiß es besser, als mich mit einem Juden auf Feilschereien einzulassen, was ich übrigens als Kompliment an Sie und Ihresgleichen zu verstehen bitte.«

»Es ist ein sehr verlockendes Angebot, und die Regelmäßigkeit der Arbeit und der Bezahlung käme mir auch sehr entgegen«, sagte ich. Ich wollte keine Entscheidung treffen, ohne vorher mit Cobb darüber gesprochen zu haben. »Doch ich muss darüber nachdenken.«

»Ja, Sie wollen natürlich nichts überstürzen, aber ich hoffe auf positiven Bescheid von Ihnen. Doch nun habe ich mich lange genug mit Ihnen aufgehalten. Ich habe viel zu tun.«

»Das Mädchen bringt noch den Tee«, erinnerte ich ihn.

»Was? Ist das hier etwa ein Gasthaus, in dem Sie dies und jenes nach Ihrem Gutdünken bestellen können? Sir, wenn Sie hier arbeiten wollen, müssen Sie als Allererstes begreifen, dass hier Geschäfte getätigt werden.«

Ich entschuldigte mich für meinen Einwand, aber Ellershaw hatte nur einen feindseligen Blick für mich übrig, also sah ich zu, dass ich hinauskam. Ich wand mich zwischen eiligen Bediensteten, Trägern, Dienstboten mit Tabletts sowie sich wichtig gebenden und in der Regel, wenn auch nicht ausnahmslos, plumpen Männern, die in ein Gespräch miteinander vertieft waren, hindurch, die sich allesamt mit solcher Entschlossenheit bewegten, als handele es sich um ein Regierungsgebäude und nicht um ein Handelshaus. Es missfiel mir und beruhigte mich gleichzeitig, dass ich Miss Glade nicht noch einmal zu Gesicht bekam, denn ich wurde aus der Dame nicht recht schlau. Sollte ich jedoch regelmäßig in diesem Haus verkehren, würde es irgendwann zu einem Gespräch mit ihr kommen müssen - das war mir klar.

Sowie ich dem Craven House den Rücken gekehrt hatte, blieb mir keine andere Wahl, als mich zu Mr. Cobb zu begeben und ihm Bericht zu erstatten, was mir widerfahren war. Ich hasste den Gedanken, denn mir missfiel nichts so sehr, wie zu meinem Herrn und Meister gerannt zu kommen und ihm zu erzählen, wie ich ihm gedient hatte, und mir von ihm sagen zu lassen, was ich denn als Nächstes für ihn tun konnte. Jedoch gemahnte ich mich wiederum an das eine: Je eher ich dahinterkam, was Cobb von mir wollte, desto eher hatte ich ihn vom Hals.

Allerdings verspürte ich nicht die geringste Lust, mich wieder mit seinem malträtierten und mir alles andere als wohlgesonnenen Diener abzugeben, also setzte ich mich in ein Schanklokal und schickte einen Jungen mit der Nachricht zu Cobb, dass er mich dort treffen solle. Ich fand es keineswegs zu viel verlangt, dass er sich zur Abwechslung einmal zu mir bemühen sollte, da er mich doch ansonsten als seine Marionette behandelte. Und in Wahrheit genoss ich es, ihn ein wenig herumzukommandieren, denn es war für mich wie das Zuckerbrot nach der Peitsche, und noch dazu ein Zuckerbrot, das mir half, die bittere Pille meiner Knechtschaft zu schlucken.

Als ich gerade vom meinem dritten Ale saß, ging die Tür der Taverne auf, und herein kam ausgerechnet Edgar der Diener, das zerschundene Gesicht vor Wut verzerrt. Er kam auf mich zu wie ein gereizter Kampfstier und baute sich drohend vor mir auf. Zunächst sagte er nichts, sondern hob die Hand und öffnete über meinem Tisch die Faust. Sogleich kamen ungefähr zwei Dutzend winzige Papierfetzen auf mich heruntergeregnet. Ich brauchte nicht lange zu raten: Das war die Nachricht, die ich Cobb hatte zukommen lassen.

»Sind Sie so ein Idiot, dass Sie uns Botschaften überbringen lassen?«, verlangte er zu wissen.

Ich nahm einen der Papierfetzen und tat so, als nähme ich ihn näher in Augenschein. »Sieht fast so aus«, sagte ich.

»Tun Sie das nie wieder. Wenn Sie etwas zu sagen haben, sollen Sie zu uns kommen und nicht einen Bengel aus einer Kaschemme schicken. Habe ich mich verständlich ausgedrückt?«

»Ich fürchte nicht«, sagte ich.

»Stellen Sie sich nicht dumm«, schnaubte er wütend. »Und stehlen Sie Mr. Cobb gefälligst nicht seine Zeit.«

»Was stört ihn daran, wenn ich einen Jungen schicke?«

»Es stört ihn, weil er es nicht gestattet hat. Nun stehen Sie auf und folgen Sie mir.«

»Ich trinke erst meinen Krug aus«, versetzte ich.

»Eben nicht.« Mit einer Armbewegung fegte er meinen Krug vom Tisch. Er flog gegen die Wand, wobei ein paar der anderen Gäste, die über ihre eigenen Getränke gebeugt dasaßen, mit Bier bespritzt wurden. Sie starrten mich und Edgar an. Alle starrten uns an - die Gäste, der Wirt, die allgegenwärtige Hure.

Ich sprang von meinem Schemel hoch, packte Edgar beim Kragen und drückte ihn auf die Tischplatte. Dann hob ich die Faust, damit er wusste, was ihm blühte.

»Ha!«, sagte er. »Sie werden mich nicht mehr schlagen. Mr. Cobb lässt es nicht zu. Die Tage, in denen Sie mich misshandeln konnten, sind gezählt. Oder wollen Sie, dass Ihre Freunde leiden müssen? Jetzt lassen Sie mich los, Sie dreckiger Lump, oder Sie sollen mich kennenlernen.«

Ich überlegte, ob ich ihm sagen sollte, dass sein Mr. Cobb mir erlaubt hatte, seinen Diener so oft zu verprügeln, wie ich wollte - ein Teil seiner Arbeitsbedingungen, die sein gütiger Herr sich vielleicht noch nicht zu erwähnen bequemt haben mochte. Aber ich unterließ es, denn ich wollte mich nicht wie ein Kind anhören, das darauf verweist, dass seine Eltern es ihm aber erlaubt hätten. Das Quäntchen Macht, das mir noch blieb, wollte ich fein hüten. Also ließ ich mir etwas anderes einfallen.

»Wir stehen vor einem Problem«, flüsterte ich leise und mit einer Ruhe, die mir eigentlich fern war. »Diese Leute hier kennen mich und sie wissen, dass ich es einem Stiefellecker wie dir nie erlauben würde, so mit mir umzuspringen. Daher bleibt mir nichts übrig, als dich zu schlagen, denn sonst könnten sie argwöhnisch werden und sich fragen, warum ich mir das gefallen lasse. Verstehst du mich?«

»Einen Moment«, hob er an.

»Verstehst du nicht, dass es für alle Welt so aussehen muss, als wäre ich der Gleiche wie immer? Weil sonst Mr. Cobbs geheimer Plan in Gefahr gerät?«

»Ja«, stieß er hervor.

»Was muss ich also tun?«

Edgar schluckte. »Mich schlagen«, keuchte er.

Ich zögerte noch, denn einen Mann zu schlagen, der sich mir scheinbar widerstandslos auslieferte, bewies vielleicht nicht das, was ich damit erreichen wollte. Aber dann tat ich es doch - und sei es nur, um sicherzugehen. Ich versetzte Edgar zwei oder drei Hiebe an den Kopf, bis er zu benommen war, um sich auf den Beinen zu halten. Zum Schluss warf ich dem Wirt einen Silberling für seine Unannehmlichkeiten zu und machte mich auf den Weg.

Wenn es Cobb als sonderbar aufstieß, dass ich ohne seinen Diener im Schlepptau eintraf, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Er erwähnte auch nicht die Nachricht und den Jungen, so dass ich mich fragte, ob Edgar ihn vielleicht abgefangen hatte und mir zeigen wollte, dass auch er etwas zu sagen hätte. Aber wahrscheinlich wollte Cobb es nicht auf eine Auseinandersetzung mit mir ankommen lassen. So hatte er es bisher jedenfalls immer gehalten.

Sein Neffe hingegen schien ein Mann zu sein, der sich an nichts so sehr ergötzen konnte wie an einem Missklang. Auch er war wieder zugegen und starrte mich so gehässig an, als hätte ich Schmutz von der Straße in sein Haus geschleppt. Aber er enthielt sich jeder Äußerung und jeder Geste, als ich das Zimmer betrat und schien mit der Leidenschaftslosigkeit eines Reptils meine Unterredung mit Cobb zu verfolgen.

Ich trat Hammond nicht minder kühl entgegen, wandte mich Cobb zu und berichtete ihm alles, was sich bei Ellershaw zugetragen hatte. Er hätte nicht zufriedener sein können. »Alles läuft genau so, wie ich es mir erhofft hatte. Weaver, Sie leisten mir hervorragende Dienste, und ich verspreche Ihnen, dass Sie dafür belohnt werden.«

»Darf ich dann davon ausgehen, dass es Ihrem Wunsch entspricht, wenn ich diese Stellung im Craven House annehme?«

»Aber ja doch. Diese Gelegenheit dürfen wir uns nicht entgehen lassen. Sie müssen alles tun, was Ellershaw von Ihnen verlangt. Widersprechen Sie ihm nie. Trotzdem ist es sehr vorausschauend von Ihnen gewesen, sich Bedenkzeit auszubitten. Lassen Sie ihn ruhig ein bisschen zappeln. Aber in einem oder zwei Tagen müssen Sie wieder zu ihm gehen und sein Angebot annehmen.«

»Warum?«

»Das ist im Moment nicht so wichtig«, ließ Hammond sich vernehmen. »Sie werden es erfahren, wenn wir es für richtig halten. Im Augenblick besteht Ihre Aufgabe nur darin, dafür zu sorgen, dass Ellershaw Sie mag und Ihnen vertraut.«

»Vielleicht sollten wir doch ein wenig näher darauf eingehen«, sagte Cobb. »Es wäre doch zu und zu schade, wenn Mr. Weaver eine günstige Gelegenheit verpasst, weil wir ihm den Grund für seine Anwesenheit im Craven House nicht genannt haben.«

»Und ich fände es zu schade, wenn unser Plan vereitelt wird, nur weil wir zu früh darüber gesprochen haben«, widersprach ihm Hammond.

Cobb schüttelte den Kopf. »Es ist weit riskanter, einem so wichtigen Mittelsmann keine Weisungen mitzugeben.«

Hammond zuckte darauf nur mit den Achseln - eher verächtlich als nachdenklich. »Gut, dann soll er es meinetwegen hören.«

Cobb wandte sich wieder mir zu. »Ihnen werden im Craven House zahlreiche Aufgaben zufallen, aber die wichtigste davon ist, dass Sie die Hintergründe des Todes eines Mannes namens Absalom Pepper aufdecken.«

Aus irgendwelchen Gründen stimmte mich diese Eröffnung froh. Endlich befand ich mich wieder auf vertrautem Terrain.

»Sehr gut«, sagte ich. »Also, was können Sie mir über ihn sagen?«

»Nichts«, fauchte Hammond. »Das ist ja das Problem. Wir wissen so gut wie nichts über ihn, nur, dass die East India Company ihn hat umbringen lassen. Es ist Ihre Aufgabe herauszufinden, warum die East India Company ihn als eine solche Bedrohung empfunden hat, und, wenn möglich, die Namen derer, die das Verbrechen ausgeführt haben.«

»Wenn Sie gar nicht wissen, wer er ist, warum ist es Ihnen dann so wichtig ...«

»Das«, schnitt mir Hammond das Wort ab, »soll nicht Ihre Sorge sein, sondern unsere. Sie tun, was man Ihnen sagt, um damit Ihre Freunde davor zu bewahren, im Gefängnis zu verkümmern. Nun, da Sie wissen, was wir von Ihnen verlangen, hören Sie gut zu, damit Sie auch wissen, wie Sie es anzustellen haben. Sie dürfen niemandem in dieser Angelegenheit Fragen stellen - weder im Craven House noch sonst wo. Sie dürfen nicht einmal den Namen Absalom Pepper in den Mund nehmen, außer, jemand erwähnt diesen Namen ganz von sich aus. Sollten Sie diese Regeln verletzen, werde ich es erfahren, und Sie können sich darauf verlassen, dass es nicht ungestraft bleiben wird. Haben Sie das alles verstanden?«

»Ich weiß nicht, wie ich irgendwas über diesen Mann herausfinden soll, wenn es mir nicht erlaubt ist, Erkundigungen anzustellen.«

»Das ist Ihre Sache, und wenn Ihnen an Ihren Freunden etwas liegt, würde ich mir an Ihrer Stelle alle Mühe geben.«

»Und Sie können mir nichts weiter über ihn sagen?«

Hammond seufzte, als würde ich seine Geduld auf eine harte Probe stellen. »Uns ist angedeutet worden, dass die East India Company dafür gesorgt hat, dass Pepper eines späten Abends überfallen wurde, und dabei ist er vermutlich totgeschlagen worden. Oder aber er ist ertrunken, denn man hat ihn danach in die Themse geworfen und seinem Schicksal überlassen. Man hat ihn erst nach mehreren Tagen gefunden, wie es solchen Unglücklichen oft ergeht, und die Fische hatten ihm schon fast die Arme und Beine abgefressen. Nur sein Gesicht blieb einigermaßen unversehrt, so dass er identifiziert werden konnte.«

»Von wem?«

»Verdammt, Weaver, woher soll ich das wissen? Die wenigen Informationen, die ich habe, stammen aus abgefangenen Briefen. Mehr weiß ich nicht.«

»Wo hat man ihn denn gefunden? Es muss doch eine gerichtliche Untersuchung gegeben haben.«

»Sind Sie taub? Ich habe doch gesagt, dass wir nicht mehr wissen. Ich weiß weder, wo er gefunden worden ist, noch, wo er begraben liegt. Ich weiß nur, dass die East India Company ihn hat umbringen lassen und wir in Erfahrung bringen müssen, warum.«

»Ich werde tun, was ich kann.«

»Das rate ich Ihnen«, sagte Hammond. »Und vergessen Sie nicht, was Ihnen auferlegt ist. Wenn wir hören, dass Sie irgendwo den Namen dieses Mannes erwähnt haben, ist es mit unserem Geschäft vorbei, und Sie und Ihre Freunde können fröhlich zusammen im Kerker verrotten. Behalten Sie diese Warnung stets im Sinn. Nun los, tun Sie, was man Ihnen gesagt hat.«

Ich hätte gerne gewusst, wie, aber mir blieb keine andere Wahl, also zog ich mich für den Rest des Nachmittags in meine Wohnung zurück, denn ohne einen Anhaltspunkt waren mir die Hände gebunden. Die ganze Stadt war mir fremd und bedrohlich geworden.

Gegen Abend hielt ich es in der Einsamkeit meiner vier Wände nicht mehr aus und begab mich in ein Gasthaus, das koschere portugiesische Gerichte servierte. Ich hatte zwar gar keinen Hunger, wollte aber dennoch etwas essen, um bei Kräften zu bleiben und besser nachdenken zu können. In dem Gasthaus traf ich mehrere Kameraden an, die mir zuriefen, ich solle mich zu ihnen gesellen, was ich höflich, aber bestimmt ablehnte. Diese Männer kannten mich gut genug, um zu wissen, dass ich kein Kind von Traurigkeit war, es aber von Zeit zu Zeit vorzog, ungestört meinen Gedanken nachzuhängen, so dass niemand sich übertrieben bemühte, mich zum Mittrinken zu bewegen, wofür ich dankbar war.

Ich hatte keine fünf Minuten an meinem Tisch gesessen, als ein Gentleman eintrat, der sogleich im Mittelpunkt des Interesses stand. Der Mann war Engländer, schlicht gekleidet und trug eine etwas affektiert wirkende, kleine Perücke auf dem Kopf und eine Ledermappe eng an sich gedrückt unter dem Arm. Er schien hier alles andere als in seinem Element zu sein, sich in Gegenwart von so vielen Juden sogar zu fürchten. Er wandte sich an den Wirt, der, um meinen Wunsch, in Ruhe gelassen zu werden, wissend, zögernd in meine Richtung zeigte.

Der Engländer trat sogleich an meinen Tisch. »Sie sind Mr. Weaver, Sir?«

Ich nickte.

»Ihre Vermieterin sagte mir, Sir, dass ich Sie hier antreffen könnte.«

Ich nickte wiederum. Ich mutmaßte sofort, dass der Mann gekommen war, um mich für irgendwelche Ermittlungen zu engagieren, und ich wusste, dass ich ihm seinen Wunsch leider würde abschlagen müssen, da ich ja nur für Cobb arbeiten durfte.

Doch es erwies sich rasch, dass mir eine solche Absage erspart bleiben würde. »Mein Name ist Henry Bernis, Sir«, stellte sich der Unbekannte vor. »Darf ich einen Augenblick Ihrer Zeit in Anspruch nehmen?«

Ich nickte, behielt aber meinen mürrischen Gesichtsausdruck bei, denn er sollte ruhig merken, dass mir an Gesellschaft nicht gelegen war.

Ungefähr eine Minute lang stand Bernis nur da und schien mich zu mustern. Er reckte den Hals, um mich erst von der einen, dann von der anderen Seite zu betrachten. »Würden Sie bitte einmal für mich aufstehen, Sir?«

»Was wollen Sie denn von mir?«

»Nun machen Sie doch schon. Auf die Füße. Dann wollen wir Sie uns mal ansehen.«

Ich weiß auch nicht, warum ich gehorchte, aber ich war irgendwie neugierig, also erhob ich mich. Er bat darum, dass ich mich umdrehe, doch das verweigerte ich ihm. »Ich werde Ihnen hier nichts vortanzen«, sagte ich.

»Himmel, nein. Sie sollen doch nicht tanzen. Nichts dergleichen. Keine Kapriolen und Hüpfereien. Ich wollte mich nur vergewissern, dass Sie gesund sind. Man muss ja schließlich sein Kapital schützen. Darf ich einmal Ihre Zähne sehen?«

»Sie haben mich ja noch gar nicht engagiert«, wies ich ihn zurecht. »Und mir auch nicht gesagt, was Sie von mir wollen. Ich bin Ermittler, Sir, kein Pferd. Und ich werde mich auch nicht als solches hergeben, selbst wenn der König auf mir reiten wollte.«

»Sie engagieren? Um Himmels willen. Wozu sollte ich Sie engagieren? Was soll ich mit einem Ermittler?«

Ich setzte mich wieder. »Das kann ich Ihnen auch nicht sagen, aber Sie fangen an, mir auf die Nerven zu gehen, Mr. Ber-nis, und wenn Sie sich nicht klarer ausdrücken, werden Sie selber bald einen Arzt brauchen, der Ihre Knochen wieder zusammenflickt.«

»Bitte, keine Drohungen«, sagte er. »Ich hasse das. Und bitte keinerlei Art von Gewaltanwendung. Sooft Sie zu Gewalt greifen, riskieren Sie Ihre eigene Sicherheit, und das darf nicht geschehen. Sie müssen sich vor allem Schaden schützen, Sir. Ich bitte Sie darum.«

»Zum Teufel, was wollen Sie denn nun eigentlich?«

»Sie können mich mit Flüchen nicht erschrecken, Sir. Fluchen gefährdet weder Ihre noch meine Sicherheit, und wenn man fürs Fluchen in die Hölle kommt, sei's drum. Was mit Ihnen in Ihrem nächsten Leben geschieht, geht mich nichts an. Mir ist nur an Ihrem Wohlergehen in diesem Leben gelegen. Ich hoffe doch, Sie sind jüngst nicht etwa krank gewesen?«

»Nein, aber ...«

»Irgendwelche früheren Verletzungen, die bis heute nachwirken? Mir ist bekannt, dass Sie sich im Boxring mal ein Bein gebrochen haben, aber das ist Jahre her. Haben Sie seitdem noch andere Brüche erlitten?«

»Nein, und ich glaube auch nicht .«

»Sie planen doch wohl keine Auslandsreise?«

»Nein, und das ist die letzte Frage, die ich beantworte, solange Sie mir nicht sagen, was Sie von mir wollen.«

»Ich möchte mich nur Ihres guten Gesundheitszustandes vergewissern.«

»Wozu?«

»Ach, Sie müssen entschuldigen. Habe ich es nicht erwähnt? Ich arbeite für das Seahawk-Versicherungsbüro. Ich stelle lediglich sicher, dass wir keinen Fehler gemacht haben.«

»Versicherung? Was erzählen Sie mir da?«

»Niemand hat so recht gemerkt, dass es passierte - zu viele Angestellte, die nicht miteinander reden -, aber es sieht so aus, als hätten wir in den letzten Tagen eine Reihe Versicherungspolicen auf Ihren Namen abgeschlossen. Wir wollten uns lediglich vergewissern, dass alles mit rechten Dingen zugeht. Aber ich muss schon sagen, dass Sie sich einer bemerkenswert robusten Gesundheit erfreuen.«

»Was für Policen sind das?«, verlangte ich zu wissen.

Mr. Bernis zog das ganze Gesicht in Falten. »Lebensversicherungen natürlich.«

Ich kannte mich mit Versicherungen ganz gut aus, denn mein Onkel hatte oft welche für seine Schiffsladungen abgeschlossen. Von Lebensversicherungen hatte ich weniger Ahnung, doch einiges darüber gehört. Ich wusste, dass es sich um eine Art Glücksspiel handelte, bei dem man auf die Langlebigkeit einer berühmten Person, etwa des Papstes, eines Generals oder eines Königs setzte. Ich wusste ferner, das man damit sein Kapital schützen konnte. Wenn zum Beispiel ein Kauf-mann einen seiner Angestellten als seinen Agenten ins Ausland schickte und dieser Angestellte ganz besondere Fähigkeiten besaß, konnte man sein Leben versichern, so dass dem Kaufmann, falls sein Geschäftsträger ums Leben käme oder von türkischen Freibeutern entführt werden sollte, sein Verlust ersetzt würde. Aber ich konnte mir kaum vorstellen, warum jemand sich gegen meinen Tod versichern sollte.

»Wer hat die Versicherungen abgeschlossen?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen, Sir. Ehrlich gesagt, ich weiß es selber nicht, und wenn ich es wüsste, dürfte ich es Ihnen nicht verraten. Ich wollte mich nur Ihrer Gesundheit vergewissern, mit der mir alles in Ordnung zu sein scheint. Ich danke Ihnen für Ihre Zeit.«

»Warten Sie einen Moment. Wollen Sie andeuten, dass es jemanden, ja vielleicht sogar mehrere Personen gibt, die Geld in eine Versicherung einbezahlt haben und einen Gewinn zu machen hoffen, wenn mir etwas zustößt?«

»Um Himmels willen, nein. Nichts dergleichen. Niemand würde in der Hoffnung, dass Sie bald sterben, eine Versicherung abschließen. Das wäre ja ungeheuerlich, Sir. In höchstem Maße ungeheuerlich. Nein, unsere Klienten haben eine Versicherung abgeschlossen, die sie im Falle Ihres Todes vor Verlusten bewahrt. Hier handelt es sich nicht um eine Art Wette, Sir, sondern um die Absicherung von Kapital.«

Als ich sein gekünsteltes Lächeln sah, wusste ich, dass er sich verplappert hatte. Ich hatte den Nagel auf den Kopf getroffen.

»Wie viele solcher Policen gibt es?«

Er zuckte mit den Achseln. »Vielleicht fünf oder sechs.«

»Und wer ist der Begünstigte?«

»Wie ich schon sagte, weiß ich es nicht. In jedem Fall ist mir zu verstehen gegeben worden, dass die Inhaber der Policen anonym zu bleiben wünschen. Das respektiere ich, und ich denke, Sie sollten es ebenso halten.«

»Ich gedenke es so zu halten, dass ich Ihrem Büro demnächst mal einen Besuch abstatten werde.«

»Ich finde nicht, dass Sie damit Ihre Zeit vergeuden sollten. Es ist alles vollkommen legal, und Sie werden feststellen, dass es nicht unsere Politik ist, solche Informationen zu offenbaren.«

»Wollen Sie damit sagen, dass irgendwer eine Versicherung auf den Kopf eines anderen abschließen kann und der Betroffene von demjenigen nicht einmal verlangen kann, ihm Rede und Antwort zu stehen? Das ist ja teuflisch.«

»Wie kann es denn teuflisch sein, wenn es doch vollkommen mit den Gesetzen in Einklang steht?«

Seine Frage war so absurd, dass mir keine Antwort darauf einfiel.

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