21


Ich hätte eine weitere ruhelose Nacht verbracht, wäre da nicht die Erschöpfung gewesen, die mich niederdrückte. Im Verlauf des Tages war ich von Kummer und Trauer über ohnmächtige Wut zu einer dumpfen Leidenschaftslosigkeit gelangt. Wenn ich morgen aufwachte, würde ich fast ganz wie zuvor mit meinem Leben fortfahren müssen. Ich würde ins Craven House zurückkehren müssen, ich würde mit Cobb reden müssen, ich würde weiter tun, was er verlangte und gleichzeitig gegen ihn arbeiten.

Am nächsten Morgen dann bereitete ich mich vor, all das zu tun. Der Schlaf hatte meiner Traurigkeit neue Nahrung gegeben, aber dann dachte ich an meine Tante, ihre Stärke und ihre eiserne Entschlossenheit, aus dem Schatten meines Onkels hervorzutreten. Sie würde es schon schaffen, das Geschäft zu führen, sagte sie, und sie schien auch mich anleiten, mir den Weg weisen zu wollen, wie mein Onkel Miguel es getan hatte. Ich konnte sie für ihren Mut nur bewundern und versuchen, es ihr gleichzutun.

Ich wusch mich an meiner Wasserschüssel, zog mich an und begab mich zu Cobbs Haus, wo ich kurz nach dem siebten Glockenschlag eintraf. Ich wusste nicht, ob er schon wach war, aber notfalls würde ich bis zu seinem Schlafzimmer vordringen und ihn aus dem Bett holen. Edgar, der mir öffnete, wirkte zwar abweisend, aber auch irgendwie ehrerbietig. Er vermied es, mir in die Augen zu sehen, und ich glaube, er wusste, dass er mir an diesem Tag und bei dieser Gelegenheit keinen Widerstand würde entgegensetzen müssen.

»Mr. Cobb hat Sie erwartet. Er ist im Salon.«

Als ich eintrat, erhob Cobb sich und schüttelte mir die Hand, als wären wir alte Freunde. Ein Unbeteiligter hätte aus seinem Gesichtsausdruck schließen können, dass er es wäre, der einen Angehörigen zu betrauern hatte, und ich nur gekommen war, um mein Beileid auszudrücken.

»Mr. Weaver«, sagte er mit brüchiger Stimme, »erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, wie sehr mich die Nachricht vom Tode Ihres Onkels erschüttert hat. Es ist sehr tragisch, obwohl eine Brustfellentzündung natürlich eine ernste Krankheit ist, gegen die die Ärzte nur wenig ausrichten können.«

Er schien noch etwas hinzufügen zu wollen, sagte dann aber nichts weiter. Ich verstand schon, worum es ihm ging. Er wollte es so hinstellen, als wäre mein Onkel an seiner Krankheit gestorben und nicht als Folge der Sorge, die ihm seine Schulden bereiteten, aber er ahnte natürlich, dass jede Andeutung in diese Richtung meinen Zorn heraufbeschwören würde, und deshalb war er um Worte verlegen.

»Sie wollen sich vor der Verantwortung drücken«, sagte ich ihm auf den Kopf zu.

»Ich wollte nur sagen, dass es nicht allein ...« Schon wusste er wieder nicht weiter.

»Wissen Sie, was ich mir vorgestellt habe, Mr. Cobb? Ich habe mir vorgestellt, dass ich zu Ihnen gehe und Ihnen sage, Sie sollen sich zum Teufel scheren - und dann eben die Folgen auf mich nehmen. Ich habe sogar erwogen, sie zu töten, Sir, was mich wohl von sämtlichen weiteren Verpflichtungen Ihnen gegenüber befreit hätte.«

»Nun, Sie müssen wissen, dass ich Vorkehrungen getroffen habe, falls mir etwas .«

Ich brachte ihn mit hochgehaltener Hand zum Schweigen.

»Aber ich habe mich ja nun anders entschlossen. Ich verlange nur von Ihnen, dass Sie meine Tante von der Bürde befreien, unter der mein Onkel leiden musste. Wenn Sie ihr die Schulden erlassen und ihr die Waren zurückerstatten, die Sie meinem Onkel vorenthalten haben und damit die alte Dame nicht auch noch zwingen, sich in all ihrem Kummer mit den Forderungen raffgieriger Gläubiger auseinandersetzen zu müssen, können wir so fortfahren wie bisher.«

Er schwieg einen Moment lang, dann nickte er. »Das wird nicht möglich sein«, sagte er, »aber ich kann ihr einen Aufschub verschaffen, Sir. Ich kann die Wechsel prolongieren und dafür sorgen, dass die Gläubiger ihr nicht vor - sagen wir mal, nicht vor der Aktionärsversammlung zu Leibe rücken. Wenn wir bis dahin mit Ihrer Arbeit zufrieden sind, werden wir die Lady, und nur sie, von ihren Verpflichtungen befreien. Sind wir aber nicht zufrieden, werden wir auch keine Milde walten lassen.«

Um ehrlich zu sein war das mehr, als ich erwartet hatte, also nickte ich zustimmend.

»Wo Sie gerade hier sind«, sagte Cobb, »gibt es etwas Neues zu berichten? Irgendwelche Fortschritte?«

»Drängen Sie mich nicht, Sir«, sagte ich und verließ auf der Stelle das Haus.

Im Craven House verhielten sich die Männer, mit denen ich zusammenarbeitete, einschließlich Ellershaw, ausgesprochen zuvorkommend mir gegenüber, aber wie es in so großen Unternehmen nun einmal ist, war meine Trauer bald vergessen, und am Ende des Tages ging alles wieder seinen gewohnten Gang. Ich lief mehrmals Aadil über den Weg, der grunzend etwas zu mir sagte, worauf ich wie immer ebenso mürrisch reagierte. Er konnte sich sehr wohl vorstellen, dass ich ihn wegen des Diebstahls meiner Briefe in Verdacht hatte, also gab es auch keinen Grund für mich, den einzigen Vorteil, den ich ihm gegenüber hatte, aus der Hand zu geben. Ich begegnete ihm mit dem gleichen Argwohn wie immer und dachte nicht anders über ihn als vor dem Wagenrennen.

Gegen Ende des Tages erfand ich einen Vorwand, um Mr. Blackburn in seinem Büro aufzusuchen. Ich war neugierig, ob er sich noch daran erinnerte, was er mir alles erzählt hatte und ob er meinte, einen Groll gegen mich hegen zu müssen, weil ich mir dieses Wissen zu Nutze gemacht haben könnte. Zu meiner größten Verwunderung traf ich ihn nicht bei seiner Arbeit an, sondern dabei, wie er seine privaten Dinge zusammenpackte und seinen Schreibtisch aufräumte.

»Was geht hier vor, Mr. Blackburn?«, fragte ich.

»Was soll hier schon vorgehen?«, sagte er mit dünner Stimme. »Man hat mich entlassen. Nach all den Jahren treuer Dienste hat man sich entschlossen, auf mich zu verzichten.«

»Aber weswegen denn?«

»Man behauptet, die Bezahlung, die ich bisher erhalten habe, entspräche nicht dem Dienst, den ich dem Unternehmen leiste. Und deswegen müsse ich gehen, weil man niemanden hier haben wolle, der meine, mehr wert zu sein, als er verdiene, und man auch nicht beabsichtige, jemandem mehr zu bezahlen, als er wert sei. Somit ist heute mein letzter Arbeitstag.«

»Das tut mir sehr leid für Sie. Ich weiß ja, wie Sie Ihre Arbeit geliebt haben.«

Er stellte sich vor mich hin, vermied es aber, mich anzusehen und sprach weiter mit gesenkter Stimme. »Sie haben doch nichts von unserem Gespräch durchsickern lassen? Sie haben doch keinem gesagt, dass wir miteinander gesprochen haben?«

»Das habe ich nicht. Ich würde Sie doch nie so hintergehen.«

»Es spielt auch keine Rolle. Man hat uns bestimmt beobachtet. Wahrscheinlich hat man uns zusammen im Wirthaus gesehen und mich deswegen entlassen.«

»Es tut mir wirklich leid, Sie in solche Schwierigkeiten gebracht zu haben.«

»Mir auch. Ich hätte mich nicht mit Ihnen sehen lassen dürfen.« In seiner Stimme schwang keinerlei Groll mit. Er schien nicht bei mir, sondern bei sich selber die Schuld zu suchen -so, als wäre er übermütig auf ein Pferd gesprungen und hätte sich dabei verletzt.

»Es tut mir in der Seele weh, Ihnen das angetan zu haben«, sagte ich. Das stimmte wirklich, obwohl ich nicht hinzufügte, dass er sich glücklich schätzen konnte, nur seine Arbeit und nicht sein Leben verloren zu haben, wie es jenem anderen Unglücklichen ergangen war, den ich um Informationen angezapft hatte.

Er schüttelte den Kopf.

»Ja, es ist schade. Wirklich schade, dass sich das Unternehmen ohne mich in den Ruin wirtschaften wird. Wo sollen sie einen anderen Mann von meinem Fähigkeiten herbekommen, Sir? Wo?«

Darauf wusste ich ebenso wenig eine Antwort wie Mr. Black-burn, der bereits erste Tränen des Kummers zu vergießen begann.

»Zögern Sie nicht, mich darauf anzusprechen, wenn ich Ihnen in irgendeiner Weise behilflich sein kann, Sir.«

»Mir kann niemand mehr helfen«, klagte er. »Ich bin ein Buchhalter ohne Anstellung. Ich bin wie ein Geist, Sir. Ein lebender Geist, der ohne Sinn und Freude auf Erden wandelt.«

Auch darauf wusste ich nichts zu erwidern, also überließ ich ihn sich selber, während ich versuchen wollte, meine Schuldgefühle zu Wut gären zu lassen. Ich war nicht schuld, sagte ich mir, sondern Cobb. Cobb würde dafür büßen müssen.

Als ich an diesem Abend nach Hause kam, stellte ich fest, dass Devout Hale meine Nachricht erwidert hatte. Das traf sich gut, denn in meinem Bestreben, Cobb alles heimzuzahlen, konnte ich mir keinen besseren Verbündeten vorstellen als ihn, also wollte ich ihn aufsuchen. Hale hatte mir ausrichten lassen, ich könne ihn an diesem Abend in einem der Kaffeehäuser in Spi-talfields antreffen, also begab ich mich nach einem kurzen Besuch bei meiner Tante dorthin.

Hale legte mir den Arm um die Schulter und führte mich in eine verschwiegene Nische. »Na, was gibt es denn so Dringendes?«, wollte er sogleich wissen. Er sah kränker aus als bei unserem letzten Zusammentreffen - als hätte sich seine Tuberkulose durch meine Probleme im Craven House ebenfalls verschlimmert. Er faltete die geröteten Hände und sah mich aus blutunterlaufenen, tief liegenden Augen an. »Du hast überall nach mir gefragt und siehst sehr verstört aus. Gibt es etwas Neues vom König?«

»In dieser Hinsicht habe ich noch keine Fortschritte machen können«, sagte ich. »Es tut mir leid, Devout, aber ich hatte dir ja gesagt, dass ich über so weit reichende Beziehungen nun auch nicht verfüge, und der Ärger mit der East India Company hat mich ganz schön in Trab gehalten.«

»So geht's uns allen. Ich wollte dich auch nur an dein Versprechen erinnern. Nun sage mir, was ich für dich tun kann.«

»Ich muss dich nach jemandem fragen. Hast du je den Namen Absalom Pepper gehört?«

»Selbstverständlich.« Er fuhr sich mit der Hand durchs dünner werdende Haar, und eine erschreckende Menge davon blieb an seinen Fingern haften. »Er war einer meiner Männer. Er hat am Webstuhl gearbeitet.«

Diese Information musste ich erst einmal kurz verdauen. »Und hat er, soweit du dich erinnerst, irgendwas mit der East India Company zu schaffen gehabt?«

»Er? Wohl kaum. Dafür war er nicht geschaffen, musst du wissen. Er war ein zierlicher Knabe, blass und dünn, mehr wie ein Mädchen als wie ein Mann. Und so hübsch wie ein Mädchen war er auch. Nun, gewisse Frauen mögen Männer von weiblicher Anmut, aber ich habe da immer ein bisschen meine Vorbehalte, wenn du verstehst, was ich meine. Aber um nun auf deine Frage zurückzukommen - irgendwelchen Händeln mit dem Craven House wäre er nicht gewachsen gewesen. Wenn wir anderen loszogen, um den Saustall auseinanderzunehmen, haben uns seine guten Wünsche begleitet, aber mehr auch nicht. Aber am Webstuhl, da hat er ganze Arbeit geleistet, und Köpfchen hat er auch gehabt. Er war wohl der geistreichste von uns allen, aber man kann ja nie wissen. Er war ziemlich verschlossen, und in seiner freien Zeit hat er immer dies oder jenes in sein kleines Buch eingetragen. Die meisten von uns können ja weder lesen noch schreiben, wie du weißt, also haben sie ihn nur angesehen, als wäre er der Leibhaftige höchstpersönlich, und er ist ihnen zuweilen auch mit teuflischem Hochmut begegnet.«

»Was hat er sich denn immer so aufgeschrieben?«

Hale schüttelte den Kopf. »Er hat's mir nie verraten, und mir ist es ehrlich gesagt auch nie wichtig genug gewesen, als dass ich ihn gefragt hätte. Er war weder mein Freund noch ich der seine. Wir waren nicht miteinander verfeindet, das darfst du nicht denken, aber wir waren eben auch nicht miteinander befreundet. Er hat seine Arbeit getan und seinen Platz mehr als gut ausgefüllt, aber mit seinen Eigenheiten konnte ich nie viel anfangen. Als Kollege war er in Ordnung, aber als Kameraden hätte ich ihn nicht bezeichnet.«

»Hast du nach seinem Tod seiner Witwe irgendwelche Rentenzahlungen angeboten?«

»Eine Rente? Hah! Das ist ein kolossal guter Witz. Wenn jemand stirbt, sammeln die Kollegen manchmal etwas, aber meistens nur, wenn sein Tod mit der Arbeit zu tun hatte - bei einem Unfall oder so. Oder wenn es sich zumindest um jemanden handelt, den die Jungs mochten. Aber Pepper? Ich habe gehört, er hätte sich eines Abends betrunken und wäre im Fluss ersoffen. Könnte auch jemand nachgeholfen haben -so, wie er immer alle von oben herab behandelte. Könnte sein, dass er es mit seinen Sticheleien bei einem derben Burschen etwas zu weit getrieben und der es ihm ein wenig zu heftig heimgezahlt hat.«

»Also ist es ausgeschlossen, dass durch dich oder eure Standesvereinigung seiner Witwe eine Apanage ausbezahlt wird?«

»Eine Apanage? Das wird ja immer besser. Du weißt ganz genau, dass wir gerade eben unseren Bäcker bezahlen können. Wie gesagt - wir kümmern uns durchaus um unsere Leute. Als letztes Jahr Jeremiah Carter am Wundbrand gestorben ist, nachdem er bei einem Unfall sämtliche Finger verloren hat, haben wir über zwei Pfund für seine Witwe gesammelt, aber Jer-miah ist immer sehr beliebt gewesen, und seine Frau blieb mit drei Kleinen sitzen.«

Ich zog keinen Vergleich zwischen der genannten Summe und dem kleinen Vermögen, das die East India Company für Peppers Witwe aufbrachte.

»So, nun bin ich dir gefällig gewesen, Weaver. Jetzt ist die Reihe an dir. Worum geht es hier?«

Es wäre nicht gelogen gewesen, ihm zu sagen, dass ich es nicht wüsste. »Es ist noch zu früh, das zu sagen.« Ich erwog meine Worte behutsam, war immer noch unentschieden, wie viel ich andeuten durfte. Das Damoklesschwert, das über mir und meinen Freunden hing, machte mich unwillig, überhaupt irgendwelche Informationen weiterzugeben, aber ich wusste auch, dass ich Hale vertrauen konnte und er mir gefällig gewesen war, und, was schließlich den Ausschlag gab, dass vielleicht noch mehr zu Tage käme, wenn ich mein unvollständiges Wissen mit ihm teilte. Ich verpflichtete ihn daher, Schweigen zu bewahren und erzählte ihm, was er meiner Meinung nach erfahren durfte.

»Worum es hier genau geht, weiß ich auch nicht«, sagte ich. »Ich weiß nur, dass die East India Company sich bereiterklärt hat, Peppers Witwe eine beträchtliche jährliche Summe auszu-bezahlen, und zwar unter der Vorgabe, dass das Geld von irgendeiner erfundenen Gilde der Seidenweber stammt.«

»Eine beträchtliche Summe, sagst du?«, entfuhr es Hale. »Aber das arme Mädchen lebt in erbärmlichsten Verhältnissen.«

»Ich fürchte, da befindest du dich im Irrtum. Ich bin in Twi-ckenham gewesen und habe mit eigenen Augen gesehen, dass die Dame für die Witwe eines Seidenwebers ausgesprochen gut lebt - jede Witwe in ihrer Lage könnte sich glücklich schätzen.«

»Weaver, ich hätte dich nie für einen solchen Dummkopf gehalten. Seine Witwe wohnt doch gar nicht in Twickenham. Sie wird nie auch nur davon träumen, in Twickenham zu leben. Sie hockt in einem heruntergekommenen Haus in der Nähe des Little Tower Hill, und ich kann dir versprechen, dass sie nichts dergleichen wie eine Apanage bezieht. Was ihr bleibt, ist der Gin, und sie kann von Glück reden, wenn sie genug davon hat.«

Das ging noch eine Weile so hin und her, bis wir übereinkamen, dass es sich um zwei verschiedene Frauen handelte und Mr. Absalom Pepper sich des unter einfachen Männern nur allzu verbreiteten Vergehens schuldig gemacht haben könnte, mit zwei Frauen gleichzeitig verheiratet gewesen zu sein. Aus diesem und noch vielen anderen Gründen begann ich mich nun außerordentlich für seine Person zu interessieren.

Während der Droschkenfahrt zu Peppers zweiter Witwe ließ Hale seinen Gedanken freien Lauf. »Irgendwas stimmt hier nicht«, sagte er mit grollender Stimme. Er hörte sich an wie ein Hund, der irgendwo in der Ferne die gerade eben noch vernehmbaren Schritte eines Fremden wahrnimmt. »Nie hat es auf der Welt eine herzlosere oder pfennigfuchserischere Bande von Dieben gegeben als die East India Company. Ihnen geht es nur um ihren eigenen Profit, und wenn sie dieser angeblichen

Witwe Peppers etwas bezahlen, dann nur, um ihr Schweigen über irgendeine Scheußlichkeit zu erkaufen. Glaube mir, sie haben Pepper auf dem Gewissen. Wie viel bekommt sie denn von denen?«

Gegen mein besseres Wissen nannte ich ihm die Summe.

»Jesus Christus«, ereiferte er sich. »Das ist Blutgeld. Um etwas anderes kann es sich gar nicht handeln. Es ist Wahnwitz, ihr so eine Summe auszuzahlen, und es ist noch wahnwitziger, dass sie auch noch glaubt, das Geld käme von uns. Das ergibt doch keinen Sinn, Weaver.«

Da hatte er natürlich recht. Zu diesem Schluss waren Elias und ich auch schon gelangt. Allein die Höhe der Summe musste Aufsehen erwecken, und das trug nicht gerade dazu bei, etwas unter den Teppich zu kehren.

»Die Dame, mit der ich gesprochen habe, hat uns erzählt, Pepper hätte sich immer Notizen über irgendwelche Dinge gemacht. Du hast nicht zufällig etwas davon aufbewahrt?«

»Mich beschäftigen andere Dinge als das Gekritzel eines Seidenwebers.«

»Und du hast ihm dabei auch nie über die Schulter schauen können?«

»Ich hab's versucht, aber es hat mir nichts genützt, weil ich nie zu lesen gelernt habe.«

Als er sah, wie ich erst ganz große Augen bekam und dann verschämt den Blick senkte, fügte er rasch hinzu: »Es stimmt schon, dass ich nicht lesen kann, aber ich kann Buchstaben erkennen, und Peppers Aufzeichnungen bestanden nicht nur daraus.«

»Nicht nur aus Wörtern?«

»Nun, es gab schon welche, aber auch Zeichnungen. Bilder von Dingen.«

»Was für Dinge?«

»Schwer zu sagen. Ich habe ja nur mal kurz einen Blick riskiert. Wenn Pepper merkte, dass ich mich für seine Aufzeich-nungen interessierte, hat er sie schnell weggepackt und mich wütend angestiert. Ich habe versucht, es mit einem Scherz abzutun, und ihm gesagt, ich könne sein Zeugs ebenso wenig lesen wie die Zeitung, aber das hat seine Stimmung nicht gebessert. Er meinte, ich wolle ihm etwas wegnehmen, und ich habe gesagt, ich hätte kein Interesse daran, ihm sein Geschreibsel zu stehlen, und schon gar keine Ahnung, was ich damit anfangen könnte.«

»Aber was war denn nun auf den Zeichnungen zu sehen?«, fragte ich noch einmal.

»Nun, es sah so aus, als würde er Zeichnungen von uns machen.«

»Von den Seidenwebern?«

»Nicht eigentlich von den Männern, sondern von dem Raum und den Werkzeugen, also den Webstühlen. Wie gesagt, mehr als ein flüchtiger Blick darauf war es nie. Doch das erklärt immer noch nicht, warum ihm jemand ein Bild von ein paar Seidenwebern mit ihrem Arbeitszeug stehlen sollte. Wer kann denn mit so etwas Belanglosem was anfangen?«

Mir fiel dabei ein Unternehmen ein, dem der unbeugsame Wille der Seidenweber Schaden zugefügt hatte. Die East India Company.

Hale sagte dem Kutscher, wo er anhalten solle. Ich sprang als Erster vom Wagen und streckte meinem kranken Freund die Hand entgegen, aber er schüttelte den Kopf. »Ich habe dich hergebracht, Weaver, aber weiter geht's nicht. Ich habe die arme Jane Pepper schon als Mädchen gekannt, und ich bringe es nicht übers Herz, zu sehen, was aus ihr geworden ist. Ihr Vater, Friede seiner Seele, war ein Freund von mir, und es schneidet mir ins Fleisch, wenn ich daran denke, dass er sein ganzes Leben lang gespart hat, um zwanzig Pfund als Mitgift für sein kleines Mädchen zusammenzukratzen. Schon damals habe ich gedacht, dass er das Geld Pepper in den Rachen wirft, wenn er sie ihn heiraten lässt, und heute weiß ich es genau.«

Noch einmal schüttelte er den Kopf. »Es gibt Dinge, die ich mir lieber nicht ansehen möchte.«

Ich konnte seinen Widerwillen nur zu gut verstehen. Mir hat es auch nie behagt, mich nach Einbruch der Dunkelheit noch in St. Giles aufzuhalten, und hatte Hale nicht eine Warnung in seinen Worten mitschwingen lassen? Umso unbehaglicher war mir zu Mute. Nichtsdestotrotz folgte ich seiner Wegbeschreibung und stand bald vor dem Haus, zu dem er mich geschickt hatte. Auf mein Klopfen öffnete mir eine sehr alte Frau in einem zerlumpten Kleid. Als ich ihr sagte, ich wünsche Mrs. Jane Pepper zu sprechen, seufzte sie kummervoll und bedeutete mir, die Treppe hinaufzugehen.

Mrs. Pepper empfing mich so dürftig bekleidet an ihrer Tür, dass ihre Verwahrlosung seit dem Tod ihres Gatten einfach nicht zu übersehen war. Sie trug ihr Haar offen und hatte ihr Kleid nicht zugeknöpft, so dass ihr üppiger Busen darunter hervorschaute. Und sie roch nach Gin. Ich sah auch die tiefen Falten um ihre Augen, sah die hervorstehenden Wangenknochen, über denen sich die Haut straffte, und ich ahnte, dass hier nicht mehr ein Mensch bloß vom Trunk besessen war, sondern der Trunk längst von dem Menschen Besitz ergriffen hatte. Und doch kam unter ihren abgezehrten Zügen noch ein Rest der Schönheit zum Vorschein, die sie einmal gewesen war. Absalom Pepper schien einen Kennerblick gehabt zu haben, was Frauen betraf.

»Hallo, mein Lieber«, begrüßte sie mich. »Komm doch herein.«

Ich nahm ihre Einladung an und setzte mich, ohne dazu aufgefordert worden zu sein, auf den einzigen Stuhl im Zimmer. »Was darf ich heute Abend denn für dich tun, mein Liebster?«

Ich griff in meine Börse, zog einen Schilling hervor und gab ihn ihr. »Mir nur ein paar Fragen beantworten. Das ist für Ihre Zeit.«

Sie schnappte nach der Münze, wie ich Affen nach gezuckerten Pflaumen hatte schnappen sehen. »Meine Zeit«, sagte sie mit fester Stimme, »ist drei Schillinge wert.«

Ich konnte nur schwer glauben, dass ihr jemals jemand für eine ihrer Gefälligkeiten so viel bezahlt hatte, vor allem nicht für das Wenige, was ich von ihr verlangte, aber mir war nicht danach, mit dem armen Ding zu zanken, und ich legte den Rest dazu.

»Ich möchte Sie nach Ihrem verstorbenen Ehemann fragen.«

»Oh, mein Absalom«, schwärmte sie sogleich. »Hat es je einen lieberen Mann gegeben?«

Mir fiel sofort auf, wie sehr beide Mrs. Pepper gleichermaßen von ihrem Gatten angetan waren. Ich wusste nicht, wie der Verstorbene die Damen so für sich eingenommen hatte, aber ich hätte gerne ein wenig über sein Geheimnis erfahren.

»Er ist Ihnen also ein guter Ehemann gewesen?«

»Er war ein guter Mann, Sir. Der Beste. Aber es stimmt leider, dass ein so guter Mann nicht immer die Muße findet, auch ein guter Ehemann zu sein.«

Vor allem nicht, wenn er voll und ganz damit beschäftigt ist, noch einer weiteren Frau ein guter Ehemann zu sein, dachte ich, obwohl mir nicht im Traume eingefallen wäre, es laut auszusprechen. »Was können Sie mir über ihn erzählen?«

»Oh, er war gut zu mir, Sir. So gut ist er zu mir gewesen. Wenn er bei mir war, hätte ich nie geglaubt, dass es noch andere Frauen auf der Welt gäbe, denn er war in Gedanken immer nur bei mir, hat nur für mich Augen gehabt, wenn wir zusammen spazieren gingen. Wir konnten in St. James auf die feinsten Leute der Stadt treffen, und er schien niemanden davon auch nur wahrzunehmen. Und er ...« Hier hielt sie inne und warf mir einen kritischen Blick zu. »Warum wollen Sie das wissen? Wer sind Sie?«

»Ich muss mich entschuldigen, Madam. Mein Name ist Ben-jamin Weaver, und ich bin beauftragt worden, die Angelegenheiten Ihres Gatten daraufhin zu untersuchen, ob ihm vor seinem Tod möglicherweise jemand Geld geschuldet hat.«

Dies war ein grausamer Trick, und ich wusste es, aber es gab so wenig, was ich tun konnte, um dieser armen Mrs. Pepper zu helfen, und so viel, was ich noch tun musste, um denjenigen zu helfen, die von meinen Bemühungen abhingen. Und außerdem war es vielleicht weniger eine Grausamkeit denn ein Gefallen, den ich ihr tat, indem ich ihr ein wenig Hoffnung machte.

»Geld? Von wem? Wie viel?«

Ich machte eine Geste der Ratlosigkeit, als wolle ich damit andeuten, dass Machtlosen wie ihr und mir die Gedanken und Wege der Mächtigen stets verschlossen bleiben würden. »Ich kann Ihnen leider nicht sagen, wie viel es ist, und auch nicht genau, von wem. Ich stehe in Diensten einer Gruppe Männer, die ihr Geld in Projekten anlegen, und man hat mich ersucht, Nachforschungen betreffs Mr. Peppers Angelegenheiten anzustellen. Darüber hinaus weiß ich nicht mehr.«

»Nun ja«, sagte sie nachdenklich, »es hat ihn immer noch etwas anderes umgetrieben als die Seidenweberei. Er hatte immer Geld in den Taschen, was man von den übrigen Seidenwebern nicht behaupten konnte. Und ich sollte mich ja hüten, Hale oder den anderen gegenüber ein Wort darüber zu verlieren, denn die durften nichts davon wissen. Das hätte sie nur neidisch auf Absalom gemacht, schon weil er so klug und auch so schön war.«

»Und was war es, was ihn außer der Arbeit am Webstuhl noch so umtrieb?«

Sie schüttelte den Kopf. »Das hat er mir nie gesagt. Er meinte, ich solle mich nicht mit so trockenen Dingen belasten. Aber er hat geschworen, dass wir eines nicht so fernen Tages reich sein würden. Und dann sein tragischer Tod im Fluss. Es war grausam von ihm, mich so ohne einen Penny einsam und allein zurückzulassen.«

Sie senkte kummervoll den Kopf und entblößte damit noch mehr von ihrem kaum verhüllten Busen. Mir entging keineswegs, was sie damit beabsichtigte, aber ich war fest entschlossen, so zu tun, als hätte ich es nicht bemerkt. Sie war eine schöne Frau, der das Leben übel mitgespielt hatte, und ich durfte mich nicht so erniedrigen, dass ich ihr Elend zu meinem Vorteil ausnutzte. Versucht war ich, aber ich hätte es nie über mich gebracht.

»Das ist jetzt sehr wichtig«, betonte ich. »Hat Mr. Pepper Ihnen irgendwas über seine Pläne gesagt? Hat er Namen erwähnt, Orte, irgendetwas, was mir helfen könnte herauszufinden, woran er gearbeitet hat?«

»Nein, nie.« Sie saß einen Moment lang still da, dann sah sie mich durchdringend an. »Wollen Sie etwa seine Ideen stehlen, das, was er in seinen Büchern aufgeschrieben hat?«

Ich belächelte ihre Frage, als sei sie die abwegigste Vorstellung auf der Welt. »Mir ist nicht daran gelegen, etwas zu stehlen, Madam. Und ich verspreche Ihnen bei meiner Ehre, dass ich dafür sorgen werden, dass Sie Ihren Anteil bekommen, falls Ihr Gatte auf etwas Wichtiges gestoßen ist. Es ist nicht meine Aufgabe, Ihnen etwas wegzunehmen, nur, etwas in Erfahrung zu bringen, und, wenn es möglich ist, Ihrer Familie etwas zurückzuerstatten, was ihr entgangen sein könnte.«

Meine Worte schienen ihre Zweifel zu zerstreuen, und zwar so gründlich, dass sie sogar aufstand und mir mit einer freundlichen Geste, die ich von einer Frau, zu der die Welt alles andere als freundlich gewesen war, nie erwartet hätte, die Hand auf die Schulter legte. Sie sah mich auf eine Weise an, die keinen Zweifel daran zuließ, dass sie von mir geküsst werden wollte. Ich gebe zu, geschmeichelt gewesen zu sein, was einzig und allein ihrem Charme zuzuschreiben war, denn warum, werden sich meine geneigten Leser fragen, sollte ich mich geschmeichelt fühlen, wenn eine Hure, der ich bereits Geld gegeben und der gegenüber ich eine vage Andeutung eines mög-licherweise auf sie wartenden Vermögens gemacht hatte, mir ihre Bereitschaft bekundet? Dennoch begann meine ursprüngliche Entschlossenheit abzubröckeln, und ich kann nicht mit Sicherheit sagen, was hätte geschehen können, wenn nicht etwas ganz und gar Unerwartetes eingetreten wäre.

Die Witwe Pepper wollte mit den Fingern mein Gesicht berühren, aber ich gab ihr mit einem Handzeichen zu verstehen, dass sie damit aufhören solle und führte dann meinerseits den Finger an die Lippen, um ihr zu bedeuten, ganz still zu sein. So leise wie möglich schlich ich mich zu ihrer Kammertür. Leider hatte Mrs. Pepper sie hinter mir verschlossen, so dass dem Überraschungsmoment wertvolle Sekunden verloren gingen, aber das ließ sich nun nicht mehr ändern. Also drehte ich schnell den Schlüssel im Schloss herum und riss die Tür auf.

Wie ich befürchtet hatte, war demjenigen, der draußen gelauscht hatte, die Bewegung hinter der Tür früher aufgefallen, als mir lieb war, aber ich sah immerhin noch, wie ein Mann die Treppe mehr hinunterstürzte als lief, und machte mich sogleich an die Verfolgung. Der Lauscher schien flinker zu sein als ich, denn ich brauchte die Stufen hinunter länger als er, und als ich unten ankam, war er bereits zur Tür hinaus und auf der Straße.

Aber ich war ihm hart auf den Fersen, und als ich aus dem Haus kam, sah ich ihn den Tower Hill Pass auf East Smithfield zurennen. Er war ein guter Läufer, aber ohne die hinderlichen Treppenstufen hoffte ich zumindest mit seinem Tempo mithalten zu können, und auf meine Ausdauer konnte ich mich verlassen. Wer einmal im Ring gekämpft hat, weiß seine Kräfte zu mobilisieren, auch wenn er nicht mehr ganz so in Form ist wie früher. Selbst wenn es mir nicht gelang, ihn einzuholen, sagte ich mir, würde ich ihn verfolgen, bis seine Kräfte nachließen.

Es erwies sich, dass die Geschicklichkeit, die er auf der Treppe gezeigt hatte, dem Dunkel der Straßen nicht standhielt - er rutschte in einer matschigen Pfütze aus und fiel hin, aber so schnell, wie er am Boden gelandet war, war er mit der Be-händigkeit eines italienischen Artisten auch schon wieder auf den Beinen und verschwand blitzschnell in einer der finsteren Gassen, für die St. Giles zu Recht so berüchtigt ist. Die Gassen stellen ein lichtloses Labyrinth dar, und wer sich darin nicht auskennt, kann sicher sein, sich über kurz oder lang zu verirren. Aber dazu kam es bei mir gar nicht erst, denn ich verlor meinen Mann aus den Augen. Als ich um die erste Ecke herumkam, hörte ich nur noch das sich entfernende Geräusch seiner Stiefel, konnte aber nicht mehr ausmachen, woher es kam.

Ich musste die Verfolgung aufgeben. Es ärgert einen immer, wenn man versagt, aber ich tröstete mich damit, dass ich unter Umständen gar nicht viel gegen ihn ausgerichtet hätte. Als er vor mir in die Pfütze fiel, konnte ich mir binnen des Bruchteils einer Sekunde ein Bild von ihm machen. Er war nicht nur atemberaubend flink, sondern auch größer und mit hoher Wahrscheinlichkeit stärker als ich. Eine weitere Verfolgung hätte wohl für mich übel geendet - denn ich glaubte, ihn erkannt zu haben, obwohl ich gezögert hätte, seine Identität vor Gericht zu beschwören. Bei dem Mann, der vor Mrs. Peppers Tür gehockt hatte, um mich - oder vielleicht auch sie - auszuspionieren, konnte es sich, dessen war ich mir fast sicher, nur um den Inder Aadil handeln. Er verfolgte mich also immer noch und behielt mich im Auge, und ich wusste nicht, wie lange ich noch den Anschein aufrechterhalten könnte, dass ich nichts davon ahnte.

Nach Edgars mahnenden Worten war ich keineswegs erpicht darauf, dem Craven House noch einen weiteren Tag fernzubleiben, aber ich glaubte, nun kurz vor einer Erkenntnis zu stehen und wollte die Spur weiterverfolgen. Daher ließ ich Mr. Ellershaw am nächsten Morgen noch eine weitere Nachricht zukommen, in der ich ihm mitteilte, meine Tante bräuchte meine Hilfe und ich würde später zur Arbeit erscheinen. Wenn er weitere Fragen hätte, solle er sich unmittelbar an meinen Arzt wenden. Sodann schrieb ich Elias, um ihn über die Lügen ins Bild zu setzen, zu denen ich gegriffen hatte und es ihm zu überlassen, alles zu richten. Danach nahm ich die Kutsche nach Twickenham, um Mr. Peppers erster Witwe noch einen weiteren Besuch abzustatten.

Sie empfing mich zwar, doch weniger zuvorkommend als beim ersten Mal. Nun begann sie vielleicht doch um die Fortdauer ihrer Apanagenzahlung zu fürchten.

»Auch diesmal habe ich nicht den Wunsch, Ihnen Ungemach zu bereiten, Madam«, begann ich unsere Unterredung. »aber es sind noch Fragen offen. Die Gentlemen von der Seahawk-Versicherung lassen Ihnen ausrichten, dass mit Ihrer Pension allergrößter Wahrscheinlichkeit nach alles seine Ordnung hat. Wir können Sie nicht zwingen, unsere Fragen zu beantworten, aber ich denke, Ihr Ruhegehalt ist noch besser abgesichert, wenn Sie uns entgegenkommen.«

Diese Worte lösten genau die Bestürzung aus, die ich damit beabsichtigt hatte, denn sie erklärte sogleich, sie wolle alles in ihrer Macht Stehende tun, um mir weiterzuhelfen.

»Sie sind sehr freundlich. Ihnen ist sicher bewusst, dass eine Summe von einhundertzwanzig Pfund per Jahr eine ungewöhnlich hohe Pension für einen Mann von dem Einkommen Ihres verstorbenen Gatten darstellt. Haben Sie eine Vorstellung, warum Sie von der Gilde der Seidenweber so großzügig bedacht worden sind?«

»Aber das haben Sie mich doch alles schon gefragt. Ich schätze es nicht, wenn Sie so in meiner dankbaren Erinnerung an meinen Mann herumstochern.«

»In der Tat, das habe ich Sie bereits gefragt«, gab ich zu, »doch ich muss es leider noch einmal tun, da ich bisher keine befriedigende Antwort erhalten habe. Und was das Andenken an Ihren Mann betrifft, werden Sie gewiss gestatten, dass ich darauf hinweise, dass wir dieses Andenken viel besser ehren können, wenn wir herausbekommen, wie sehr sein kluger Kopf uns hätte nützlich sein können.«

Es war mein eigener kluger Kopf, zu dem ich mich nun beglückwünschen konnte, denn meine Worte verfehlten keineswegs ihre Wirkung auf die liebende Witwe. Sie erschien mir zwar immer noch skeptisch, aber ich merkte, dass sie keine Gelegenheit verpassen wollte, ihren heiligen Mr. Pepper zu lobpreisen.

»Ich weiß nicht viel davon, nur, dass er immer mit seinen Büchern beschäftigt war. Er las viel, machte sich alle möglichen Notizen und fertigte Skizzen an.«

Ich fand es sehr ungewöhnlich, dass ein Seidenweber Bücher - und dann gleich noch mehrere - besaß, denn Bücher kosten eine Menge Geld, wovon ein Seidenweber nur wenig zu besitzen pflegt. Allerdings hatte ich bereits genug über Mr. Pepper erfahren, um zu wissen, dass er in beinahe jeder Hinsicht eine Ausnahme darstellte. Und es war ihm dabei bestimmt nicht nur um die Anhäufung von Wissen gegangen. Vielmehr dürfte er gehofft haben, mit seiner Lektüre die Investition an Zeit und Geld auf irgendeine Weise wieder hereinholen zu können. »Wie hat er sich diese Bücher denn leisten können?«, fragte ich.

»Wir haben ihretwegen auf nichts verzichten müssen«, versicherte sie mir. »Es war ihm sehr wichtig, vieles in Erfahrung zu bringen, aber er hätte es nie zugelassen, dass meine Wünsche oder Bedürfnisse deswegen in den Hintergrund hätten treten müssen.«

»Und wissen Sie, was das für Skizzen waren?«

»Darüber hat er mit mir nie gesprochen. Er sagte, er wolle seine Frau nicht mit den Ergüssen seines Geistes behelligen.«

»Also hat Ihr Gatte Ihnen gegenüber nie seine Interessen erwähnt?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Sie sagten, er hätte sich Notizen gemacht. Darf ich die einmal sehen?«

Wiederum ein Kopfschütteln. »Als der Mann von der Gilde hier war, sagte er, diese Unterlagen wären von größtem Wert für seine Zunft und erbot sich, mir alles für weitere zehn Pfund abzukaufen. Für mich waren die Sachen ohnehin nicht von Nutzen, und ich hätte in jedem Fall versucht, sie zu verkaufen. Ich weiß nicht, ob zehn Pfund ein angemessener Preis gewesen sind, aber ich sagte mir, dass die Gilde meines Mannes sehr großzügig mit mir verführe und es unhöflich wäre, Ihnen diesen Wunsch abzuschlagen.«

»Also hat man alles mitgenommen?«

»Das habe ich doch eben gesagt.« Ihre Stimme klang leicht gereizt.

Ich hielt es für angebracht, ein wenig von dem Thema abzulenken - wenn auch nur geringfügig. »Sagen Sie mir eines, Mrs. Pepper. Ich habe zwar verstanden, dass sich Ihr Gatte nie über seine Studien mit Ihnen unterhalten hat, aber es ist doch ungewöhnlich, wenn in einem ehelichen Zusammenleben nicht doch etwas durchsickert - so wie der Geruch von Suppe auch die angrenzenden Räume erfüllt.«

Sie nickte. Ich wartete auf eine Antwort, aber sie ging auf meine gezielte Frage nicht ein. Stattdessen verbreitete sie sich darüber, dass sie es nicht schätze, wenn Gerüche aus der Küche sich im ganzen Haus verbreiteten.

»Ist es nicht möglich«, hakte ich noch einmal nach, »dass Sie zufällig mitgehört haben, wie Mr. Pepper Freunden oder Gästen gegenüber etwas über seine Studien geäußert hat. Ich kann gar nicht genug betonen, wie wichtig es für uns ist, an seinen Erkenntnissen teilzuhaben. Damit hätten sich«, fügte ich augenzwinkernd hinzu, »höchstwahrscheinlich sämtliche Fragen die Pension betreffend erledigt.«

»Warum müssen immer Fragen gestellt werden?« Ihr Stimme klang einige Oktaven höher als sonst.

»Es ist mein ehrlichstes Bestreben, diese Fragen als erledigt zu betrachten und die mit Ihnen getroffene Vereinbarung so, wie sie ist, bestehen zu lassen. Wollen Sie mir dabei nicht helfen?«

Es war mehr als deutlich, dass sie das wollte. »Er hat nie viel mit mir über seine Forschungen, wie er sie nannte, gesprochen, aber er hatte einen ganz besonderen Freund, mit dem er diese Dinge zu diskutieren pflegte. Ich habe diesen Gentleman nie kennengelernt, denn Mr.Pepper hat ihn nie zu uns nach Hause eingeladen, aber er sprach stets in den höchsten Tönen von ihm als jemandem, der seine Forschungen zu schätzen wüsste und ihn dabei unterstützen könnte. Er hat sich regelmäßig mit ihm getroffen, und dann haben die beiden lange über ihren Büchern zusammengesessen, um daraus zu erfahren, was sie zu erfahren hofften.«

»Aber den Namen dieses Gentlemen kennen Sie doch?«

»Nein, nicht den vollständigen Namen. Mein Mann hat von ihm immer als Mr. Teaser gesprochen.«

Ich musste mich sehr zusammennehmen, um ein grimmiges Lächeln zu unterdrücken. Mr. Teaser hörte sich so sehr nach einem Namen aus einer Komödie an, dass ich schnell argwöhnte, es handele sich bei ihm nicht um einen Mann, sondern um eine Frau, und dass Mr. Pepper bei seinen Zusammenkünften mit diesem ganz besonderen Freund wenig mit geistigen Studien im Sinn hatte. Trotzdem musste ich zunächst darauf eingehen.

»Was können Sie mir noch über diesen Mr. Teaser sagen?«

»Nur sehr wenig, fürchte ich. Er hat auch nicht sehr oft über ihn gesprochen, und wenn, dann mit einer sonderbaren Mischung aus Zufriedenheit und so etwas wie Geringschätzigkeit. Er pries Mr. Teasers Scharfsinn, amüsierte sich aber gleichzeitig über ihn, weil er so schlicht wäre wie ein Kind und dass er, mein verstorbener Ehemann, mit dem armen Kerl machen könne, was er wolle.«

»Und Sie wissen wohl nicht zufällig, wo diese Treffen stattgefunden haben?«

»Ah, da kann ich Ihnen helfen. Einmal habe ich zufällig gehört, wie Mr. Pepper sich mit einem Freund über ein bevorstehendes Treffen unterhielt. Er sprach dabei davon, dass es in einem Haus in der Field Lane stattfinden sollte, das neben einem Haus lag, dessen Name irgendwas mit Trauben war. Ich weiß nicht, ob es sich dabei um ein privates oder ein Wirtshaus handelte, aber ich erinnere mich noch genau an seine Wegbeschreibung.«

»Sind Sie je selber dort hingegangen?«

»Nein. Warum sollte ich?«

Vielleicht aus Neugier, dachte ich. Würde sie sich noch so deutlich den Ort dieser Zusammenkünfte erinnern, wenn diese ganz ohne Bedeutung für sie gewesen wären? Aber ich hütete meine Zunge, denn ich hatte nichts zu gewinnen, wenn ich durchblicken ließ, dass ich tiefer in ihr Herz schaute, als sie es zulassen wollte. Es wäre meinen Zwecken nicht dienlich, wenn sie merkte, dass ich ahnte, dass sie auf irgendeine sonderbare Weise eifersüchtig auf diesen Mr. Teaser gewesen war.

Weitere Fragen brachten nur zum Vorschein, dass Mrs. Pep-per mir sonst nichts zu sagen wusste, also bedankte ich mich dafür, dass sie mir ihre Zeit geopfert hatte.

»Und was ist denn nun mit meiner Apanage?«, wollte sie wissen. »Ist sie gesichert?«

Da ich annahm, dass Mrs. Pepper mir möglicherweise doch noch eine Quelle nützlicher Informationen sein könnte und ich diese nicht zum Versiegen bringen wollte, beschränkte ich mich auf die vage Andeutung, ich wolle alles in meiner Macht Stehende tun. Dann verabschiedete ich mich mit einer Verbeugung.

Sichtlich verzagt biss sie sich auf die Lippe. »Wenn ich Ihnen nun etwas zeige, was Ihnen als Beweis für meine Bereit-willigkeit, mit Ihnen zusammenzuarbeiten, dient«, schlug sie vor, »werden Sie mir dann helfen?«

»Selbstverständlich«, sagte ich - scheinheilig, wie ich zugeben muss, aber ich versuchte, nicht darüber nachzudenken. Ich wusste nicht, zu welchem Zwecke die East India Company dieser Dame eine Pension zahlte, aber wenn ich dahinterkam, würde diese Quelle wohl wirklich versiegen. Kurz gesagt - ich unternahm alle Anstrengungen, diese Frau dazu zu bewegen, sich ihr eigenes Grab zu schaufeln.

Sie bat mich zu warten und verschwand für einen Augenblick. Dann kam sie mit einem dünnen, in Kalbsleder gebundenen Quartband zurück, den sie an die Brust gedrückt hielt, so dass mir der geschwungene, andersfarbige Schnörkel auffiel, der sich quer über den Buchdeckel zog.

»Zu den Eigenarten meines Mannes, des verstorbenen Mr. Pepper, gehörte, dass er stets betonte, seine Aufzeichnungen wären sein Vermächtnis. Das hat er mir jedenfalls wiederholt eingeschärft. Er wollte immer seine Gedanken niederschreiben, möglichst noch in dem Moment, in dem sie ihm kamen, damit sie ihm nicht etwa im nächsten Augenblick schon wieder entfielen und er sie dann nicht mehr zusammenbrächte. Er war der Meinung, mehr wichtige Erkenntnisse vergessen zu haben, als einer Armee von Männern in ihrem ganzen Leben je gekommen wären. Also trug er ständig Hefte mit sich herum und machte sich unablässig Notizen.

Viele dieser Bände, glaubte er, enthielten wichtige Geistesblitze, viele andere wiederum nichts von Bedeutung. Als die Leute von der Gilde wegen seiner Aufzeichnungen kamen, sagten sie, sie wollten sie alle haben, aber ich habe doch etwas zurückbehalten. Nur diesen einen Band, und den auch nur, weil er mir gesagt hatte, es wäre ein Heft voller falscher Anfänge, törichter Ideen. Es ist ein Buch, von dem er mir einmal gesagt hat, er würde ihm keine Träne nachweinen, wenn er es verlöre. Ich habe speziell dieses eine Heft wegen der fehler-haften Zeichnung des Einbandleders zurückbehalten. Sieht sie nicht fast aus wie ein P - für Pepper? Auf jeden Fall wollte ich es nicht hergeben.«

Ich streckte ihr die Hand entgegen. Sie zögerte, aber dann überreichte sie mir das Büchlein. Seite um Seite war mit verkrampften, fliehenden Lettern vollgekritzelt - so klein, dass ich es kaum lesen konnte. Die Buchstaben verliefen ineinander, und ich bekam Kopfschmerzen bei dem Versuch, den Text zu entziffern. Zwischen den Zeilen waren, wie Hale es bereits angedeutet hatte, Skizzen eingefügt, die scheinbar das Handwerkszeug und das Material eines Seidenwebers darstellen sollten.

Pepper hatte dem Buch keinen Wert beigemessen, aber ich war mir da nicht so sicher. »Darf ich das mitnehmen? Ich verspreche, es Ihnen zurückzuerstatten.«

Sie wand sich, aber dann gewährte sie mir die Bitte mit einem Kopfnicken.

Da ich glaubte, nun wirklich nichts weiter erreichen zu können, verabschiedete ich mich noch einmal von ihr, wobei ich ihr versicherte, mich mit besonderer Sorgfalt um ihren Fall zu bemühen. Dann begab ich mich zu dem Haltepunkt für die Kutsche. Ich musste länger warten, als mir recht war, und es begann bereits zu dunkeln, als ich in die Stadt zurückkam. Aber ich befand mich wieder auf vertrautem Terrain, und während ich meiner Wohnung am Duke's Place zustrebte, senkten sich schon die ersten Schatten der Nacht über die Straßen.

Ich war den ganzen Tag unterwegs gewesen und erwog, noch etwas zu essen, bevor ich mich zu Bett legte, aber ich war hundemüde, und falls meine Vermieterin kein leichtes Abendmahl für mich bereithielt, würde ich mich mit einem Stück Käse und Brot in meinem Zimmer begnügen, anstatt mir in einem Wirtshaus kaltes Fleisch mit Erbsen servieren zu lassen.

Ich hatte fast das Haus, in dem ich wohnte, erreicht, als ich eine raue Hand auf meiner Schulter spürte. Als ich mich um-drehte, überraschte es mich nicht, den treuen Edgar mit einem spöttischen Grinsen im Gesicht vor mir zu sehen.

»Sind wir Ihnen doch dahintergekommen, Weaver.« Er presste in seiner Erpelmanier die wulstigen Lippen zusammen. »Sie wollten sich wohl unter dem Vorwand, Ihr Onkel wäre gestorben, davonstehlen, aber wir sind nicht so dumm, wie Sie denken. Glauben Sie, Mr. Cobb würde es nicht merken, wenn Sie ein doppeltes Spiel treiben?«

»Von was für einem doppelten Spiel redest du da, du Halunke?« Ich versuchte, entrüstet zu klingen, aber ich fragte mich gleichzeitig, hinter welchen meiner Winkelzüge sie gekommen sein mochten.

Er lachte, aber nicht aus Wohlgefallen, sondern voller Häme. »Es ist eine Sache zu glauben, Sie könnten uns an der Nase herumführen, aber eine andere, so zu tun, als wüssten Sie von nichts, wenn man Ihnen dahinterkommt. Für Sie gibt es nichts mehr zu gewinnen, also können Sie auch gleich alles zugeben, aber schnell, wenn Sie noch größeres Unheil von Ihren Freunden abwenden wollen.«

»Zugeben? Was soll ich zugeben?«

»Mr. Cobb ist großzügig mit Ihnen verfahren, viel zu großzügig, wenn Sie mich fragen. Ihnen ist gesagt worden, dass Sie uns nicht hintergehen dürfen, und dass Ihre Freunde darunter zu leiden hätten, wenn Sie sich weigern, sich uns gegenüber wie ein Gentleman zu verhalten. Aber dann wurde nur allzu deutlich, dass Sie unsere Warnung nicht ernst zu nehmen schienen, solange wir nicht ein Zeichen unserer Entschlossenheit setzen, also hat Mr. Cobb beschlossen, Ihnen zu beweisen, dass er durchaus meint, was er sagt.«

Ohne erst zu überlegen, griff ich den salbungsvoll daherredenden Burschen bei seinem Binder und drehte daran, bis er puterrot anlief - soweit das in der Dunkelheit zu erkennen war. »Was habt ihr angestellt?«, herrschte ich ihn an, aber dann ging mir auf, dass er ja gar nicht antworten konnte, so-lange ich ihn im Würgegriff hielt. Also ließ ich ihn widerwillig los. Er sank sogleich hintenüber.

»Was habt ihr angestellt?«, wiederholte ich meine Frage und versetzte ihm einen Tritt, damit er merkte, dass es auch mir bitterer Ernst war.

»Es geht um Ihren Freund Franco«, sagte er und fuchtelte dabei theatralisch mit den Armen. »Wir haben ihn abholen lassen. Und wenn Sie nicht langsam anfangen, unseren Befehlen Folge zu leisten, wird er nicht der Letzte sein.«

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