A.m nächsten Vormittag begab ich mich wieder ins Craven House, wo ich zu meiner Enttäuschung feststellte, dass Mr. Ellershaw bereits drei Gentlemen zu Besuch hatte. Nichtsdestotrotz winkte er mich herein. Seine Gäste waren in feinstem Zwirn ausstaffiert - weite Mäntel mit breiten, reich mit Stickereien verzierten Ärmelaufschlägen, goldener Faden bei dem einen, silberner bei dem zweiten, beide Farben bei dem dritten. Alle drei befühlten Muster von feinster indischer Seide, die sie einander gegenseitig zureichten und ausführlich kommentierten.
Ellershaw stellte mich den drei Männern vor, in denen ich Persönlichkeiten aus der Welt der Schönen und Reichen Londons erkannte. Der eine war der Sohn eines Grafen, der zweite der eines vermögenden Grundbesitzers aus Sussex und der dritte ein junger Herzog. Sie schenkten mir keinerlei Beachtung, auch nicht, als Ellershaw auf die Bilder an den Wänden hinwies und den beachtenswerten Umstand anmerkte, dass ich auf den Drucken zu sehen war und mich gleichzeitig in voller Lebensgröße in seinem Büro aufhielt. Aber das interessierte die Männer überhaupt nicht - sie vertieften sich weiterhin mit der Akribie eines Putzmachers in die Betrachtung der Stoffproben.
»Sehr fein gewirkt«, lobte der junge Herzog. »Ich möchte mich sehr für das Geschenk bedanken, Mr. Ellershaw, doch was versprechen Sie sich davon? Dass wir diesen Stoff tragen, wird nichts am Stand der Dinge ändern.«
»Ich möchte einen Versuch wagen, Sir. Ich möchte, dass Sie drei sich in diesen neuen Stoff gekleidet in der Öffentlichkeit zeigen und es jeden wissen lassen, dass Sie sich darin wohlfühlen. Auf diese Weise hoffe ich eine Nachfrage nach diesem Tuch zu erzeugen, die es uns ermöglicht, noch vor Weihnachten unsere Lagerbestände abzuverkaufen.«
»Ein geschickter Zug«, bemerkte der Herzog. »Die beau monde soll einen Batzen Geld für etwas ausgeben, was sie nur noch einen Monat lang tragen kann. Ja, sehr geschickt, das muss man Ihnen lassen.«
Der Sohn des Grafen lachte. »Ich werde meinem Schneider sagen, dass er sich gleich ans Werk machen soll, und gegen Ende der Woche werde ich diesen Stoff tragen.«
Das Trio beglückwünschte sich gegenseitig und verließ dann unter Beifallsbekundungen den Raum.
Ellershaw trat an seinen Schreibtisch, wo er einen seiner braunen Klumpen aus der Schüssel nahm und ihn zerbiss. »Das, Weaver, ist es, was ich die Heilige Dreifaltigkeit nenne.« Er lachte über seinen eigenen Witz. »Diese eitlen Gecken bräuchten sich nur in das Bärenfell der amerikanischen Ureinwohner gekleidet in der Öffentlichkeit zu zeigen, und innerhalb von drei Tagen gäbe es in London keinen einzigen Gentleman mehr, der nicht in einem Bärenfell herumliefe. Ich habe auch eine Gruppe Ladys an der Hand, die ich mir auf ähnliche Weise zu Nutze mache. Ich muss Ihnen gratulieren, Weaver. Sie sind keine zehn Minuten in meinen Diensten und haben schon das Geheimnis des Handels mit indischen Stoffen kennengelernt - dass man seine Ware verschenken muss, damit ein paar modebewusste Herrschaften, denen ein jeder gerne nacheifert, eine bestimmte Vorliebe auslösen. Über diesen neuen Kleidungsstil wird in den Tageszeitungen und den monatlichen Gazetten berichtet werden, bald wird die Woge auch in die Provinzen überschwappen, und dann wird man sich um unsere Ware reißen. Sie werden uns anflehen, anflehen, sage ich, ihnen unseren Stoff zu verkaufen - zu jedem Preis, den wir nennen.«
»Klingt vortrefflich«, pflichtete ich ihm bei.
»So läuft das Geschäft in der heutigen Welt. Sie sind ja selber noch ein ziemlich junger Mann, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf. Als Sie geboren wurden, haben die Männer noch ihr eigenes Bier gebraut und die Frauen noch ihr eigenes Brot gebacken und die Kleider für ihre Familien genäht. Aber Bedarf weckte Nachfrage. Heutzutage kauft man all diese Dinge, und nur der letzte Hinterwäldler käme noch auf die Idee, selber zu backen oder zu brauen. Dank meiner Rührigkeit ist es nun nicht mehr Bedarf, sondern Habgier, die den Handel in Schwung bringt. In meiner Jugendzeit hat so mancher noch gemordet, um genügend Silber für den Unterhalt seiner Familie zu ergattern. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt von so etwas gehört habe, aber es vergeht keine Woche, in der man nicht über einen hinterhältigen Raub liest, nur weil jemand Geld für ein neues Kleid oder ein Schmuckstück oder einen modischen Hut oder eine modische Haube für die Lady braucht.«
Ich beglückwünschte ihn zu der Rolle, die er darin gespielt hatte, einen solchen Fortschritt in die Wege zu leiten.
»Ja, der größte Fortschritt, den die Welt je gesehen hat, ist das Gedeihen von Industrie und Reichtum. Und dieses Wachstum kennt keine Grenzen, denn auch für das, was wir Engländer vollbringen können, gibt es keine Grenze. Und das trifft wohl auch auf Sie zu.«
Voller guter Worte füreinander nahmen wir Platz. Um nicht in den Verdacht der Selbstverliebtheit zu geraten, vermied ich es, allzu oft einen Blick auf die Bilder an den Wänden zu werfen, die mich und meine Taten priesen. Trotzdem ist es ein sonderbares Gefühl, sich auf diese Weise glorifiziert zu sehen, und wenn ich mich auch geschmeichelt fühlte, war es mir doch gleichzeitig in zunehmendem Maße unangenehm.
»So, Weaver, Sie haben sich also entschieden, zu unserer Bruderschaft hier im Craven House zu stoßen, der Ehrenwerten Gesellschaft zu dienen, als die wir uns betrachten«, sagte Ellershaw und kaute wieder zufrieden auf einem dieser merkwürdigen Klumpen herum. »Genau das Richtige für Sie. Eine einmalige Gelegenheit, die man sich nicht entgehen lassen sollte. Für uns beide, glaube ich. Wissen Sie, ich sitze dem Unterkomitee vor, das für den Warenbestand verantwortlich ist, und ich schätze, ich werde die Zustimmung der Versammlung der Anteilseigner erhalten, wenn ich diese darüber in Kenntnis setze, dass ich Sie mit an Bord geholt habe. So, nun wollen wir uns einmal alles ansehen.«
Er führte mich den Flur hinunter und in eine kleine, fensterlose Kammer, in der ein junger Mann über einen Stapel Papiere gebeugt an seinem Schreibtisch saß und etwas in einem dicken Hauptbuch notierte. Er war höchstens Anfang zwanzig, wirkte aber sehr beflissen und runzelte in seinem Eifer die Stirn. Mir fiel gleich sein zierlicher Körperbau mit den herunterhängenden Schultern und den eigentümlich dünnen Handgelenken auf. Er hatte dunkle Ränder unter seinen blutunterlaufenen Augen.
»Als Erstes muss ich Sie mit Mr. Blackburn bekanntmachen«, sagte Ellershaw, »damit er später nicht Erklärungen von mir verlangt. Nein, ich möchte Sie nicht im Ungewissen belassen, Mr. Blackburn.«
Der junge Mann betrachtete mich eingehend. Sein Gesicht war finsterer, als es zunächst den Anschein gehabt hatte; er hatte fast raubtierähnliche Züge, ein Eindruck, der durch seine heftig gekrümmte Habichtsnase noch verstärkt wurde. Ich fragte mich, welche Anstrengung seine Tätigkeit ihm abverlangte, denn er wirkte so abgezehrt wie ein Mann von doppelt so viel Jahren. »Ungewissheit führt zu drei Dingen«, sagte er und hielt die Finger in die Höhe. »Erstens Ineffektivität. Zweitens Unordnung. Und drittens geschmälerten Profit.« Bei jedem Punkt drückte er die Fingerkuppen seiner rechten Hand mit dem Daumen und dem Zeigefinger seiner linken. »Ich schätze Ungewissheit nicht.«
»Das weiß ich, also bemühe ich mich stets darum, dass Sie über alles im Bilde sind. Dies ist Mr. Weaver. Er wird für mich arbeiten und die Aufsicht über das Wachpersonal auf dem Gelände übernehmen.«
Blackburn errötete ein wenig. Zuerst dachte ich, es wäre ihm aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen peinlich, merkte aber rasch, dass es ein Anzeichen von Zorn war. »Für Sie arbeiten?«, fragte er. »Jetzt? Wie können Sie jetzt jemanden neu einstellen? Die Anteilseignerversammlung hat keinen solchen Posten genehmigt, und ohne ihr Einverständnis kann keine neue Kostenstelle geschaffen werden. Das begreife ich nicht, Sir. Es ist ein höchst ungewöhnlicher Vorgang, und ich weiß nicht, wie ich ihn in den Lohnlisten verbuchen soll.«
»Ungewöhnlich, das stimmt«, gab Ellershaw ihm mit besänftigender Stimme recht. »Und weil die Anteilseigner noch nicht darüber entschieden haben, wird Mr. Weaver bis auf Weiteres seine Bezahlung von mir erhalten.«
»Seine Bezahlung von Ihnen erhalten?«, entrüstete sich Blackburn. »Es gibt bei der East India Company keine Angestellten, die von anderen Angestellten bezahlt werden. So etwas habe ich ja noch nie gehört. Ist das eine neue Art der Lohnbuchhaltung? Soll ich ein eigenes Buch für ihn anlegen, Sir? Eigens für ihn? Sollen wir bei jeder Schrulle eines höheren Angestellten die gesamte Buchführung auf den Kopf stellen?«
»Ich hatte vorgehabt«, setzte sich Ellershaw zu Wehr, »Mr. Weaver in den Büchern gänzlich unerwähnt zu lassen.« Mir fiel auf, mit welch ruhiger Stimme Ellershaw sprach, da Black-burn doch offensichtlich sein Untergebener war und er sich dennoch von ihm ins Gebet nehmen lassen musste.
Blackburn schüttelte den Kopf und hielt zwei Finger in die Höhe. »Zwei Dinge, Sir. Zunächst bleibt niemand in den Büchern unerwähnt.« Er tippte auf die in schweres, schwarzes Leder eingebundenen Wälzer im Folioformat. »Jeder taucht in den Büchern auf. Sowie wir erst einmal damit anfangen, Ausnahmen zu machen und die Vorschriften nach unserem Gutdünken zu beugen, sind diese Bücher für die Katz, und meine Arbeit ist nichts mehr wert.«
»Mr. Blackburn, Sie können sich entweder die Zeit nehmen, Mr. Weavers ausgefallene Position als die meines persönlichen Angestellten in Ihre Annalen mit aufzunehmen oder sich mit der Tatsache abfinden, dass er sich außerhalb Ihrer Zuständigkeit befindet. In diesem Falle können Sie ihn guten Gewissens ignorieren, wie Sie es mit meinem Lakaien oder meinem Koch täten. Wie wollen Sie sich entscheiden?«
Der Angestellte schien sich seiner Sache nicht mehr ganz so sicher zu sein. »Ihr Diener, sagen Sie? Ihr Koch?«
»Genau. Er hilft mir, meine Arbeit effizienter zu erledigen, und daher ist es meine Entscheidung gewesen, ihn einzustellen, und es ist auch mein Wunsch, ihn von meinem eigenen Geld zu bezahlen. Sie brauchen ihn überhaupt nicht in die Bücher zu nehmen.«
Blackburn gab Ellershaw mit einem kurzen Kopfnicken zu verstehen, dass er einverstanden war.
»Sehr gut, Blackburn, sehr gut«, sagte Ellershaw. »Aber eine Sache noch. Es wäre mir angenehm, wenn Sie mit niemandem über die Angelegenheit sprechen würden. Wenn jemand Sie fragt, sagen Sie einfach, alles hätte seine Ordnung. Ich denke, die Meisten werden sich mit dieser Antwort zufriedengeben, weil sie keine Lust verspüren, sich mit Zahlen und Kolumnen auseinanderzusetzen, von denen sie keine Ahnung haben. Können Sie es also für sich behalten?«
»Selbstverständlich«, sagte Blackburn. »Auch ich habe kein Interesse daran, diese Unregelmäßigkeit in die Welt hinauszu-posaunen.« An mich gewandt fügte er hinzu: »Sie stören die Ordnung hier, Mr. Weaver, und Unordnung kann ich nicht ausstehen. Ich schätze es, wenn alles seinen regulären Gang geht und Rechnungen am Ende aufgehen. Ich hoffe sehr, dass Sie hier keine Unordnung hereintragen.«
»Das hatte ich ursprünglich vor«, sagte ich, »aber wenn Sie mich so nett bitten, will ich davon Abstand nehmen.«
Als wir das Büro von Mr. Blackburn verließen, wären wir auf dem Gang beinahe mit einem hochgewachsenen Gentleman zusammengestoßen, der auf uns gewartet zu haben schien.
»Ah, Forester, das trifft sich gut«, sagte Ellershaw und legte ihm die Hand auf den Arm. »Darf ich Sie mit Mr. Weaver bekanntmachen? Er wird mich bei meiner Arbeit unterstützen.«
Der Blick aus Foresters blassblauen Augen streifte über Eller-shaws Hand an seinem Arm, bevor er ihn auf mich richtete. Es hätte kaum deutlicher zu Tage treten können, dass Ellershaw ihm ziemlich gleichgültig war, aber das leicht dümmliche Grinsen meines neuen Arbeitgebers verriet mir, dass er von dieser Animosität noch nichts bemerkt hatte.
Forester nickte. »Das ist gut, denn die Lagerbestände bedürfen einer genaueren Kontrolle.«
»Natürlich, natürlich. Denken Sie sich also nichts dabei, wenn Sie Mr. Weaver hier auf dem Gelände sehen. Er ist ein guter Freund von mir. Alles ist so, wie es sein sollte.«
Aus irgendeinem Grund veranlassten diese Worte Forester, mich scharf anzusehen. »Ein guter Freund?«
»Gewiss, gewiss. Kein Grund zur Sorge«, sagte Ellershaw, und dann, an mich gewandt: »Mr. Forester ist erst jüngst als Assistent ins Direktorium gekommen. Für ihn ist alles noch neu. Aber sein Vater, ahem, Hugh Forester, der war ein bedeutender Mann in den Diensten der Ehrenwerten Gesellschaft. Er hat sowohl in Indien als auch in London großartige Arbeit geleistet. Sein Sohn wird einiges zu tun haben, um in seine Fußstapfen zu treten, fürchte ich.« Bei diesen Worten zwin-kerte er mir zu - ohne sich auch nur die geringste Mühe zu geben, dies vor Forester zu verbergen.
Forester ging seiner Wege, aber Ellershaw blieb stehen. Er hatte immer noch das dämliche Grinsen eines jungen Galans im Gesicht, der gerade charmante Nettigkeiten mit der Dame seines Herzens ausgetauscht hat. »Ich mag diesen jungen Mann«, sagte er schließlich zu mir. »Sehr sogar. Ich glaube, mit meiner Hilfe wird er es weit bringen.«
Es überraschte mich, dass er so große Stücke auf Forester hielt. Forester hatte sich, höflich ausgedrückt, Ellershaw gegenüber indifferent gezeigt. Wie konnte Ellershaw die Verachtung entgehen, mit der dieser junge Mann ihn betrachtete?
Weil mir nichts Tiefgründigeres einfiel, bemerkte ich, dass Ellershaw die Charaktere der Männer, mit denen er zusammenarbeitete, bestimmt sehr gut kenne.
»Ja, das kann man wohl sagen. Ich pflege gerne Kontakte zu meinen Kollegen, und zwar sowohl bei der Arbeit als auch privat. Übrigens habe ich heute in vier Tagen Gäste zu mir eingeladen. Ich würde mich freuen, wenn Sie so gut wären, sich uns anzuschließen.«
Ich hätte nicht verblüffter sein können. Ich war Ellershaws Untergebener, hatte gerade erst für ihn zu arbeiten begonnen, und schon lud er mich zu sich nach Hause ein. Ich argwöhnte, dass er diese unerwartete Einladung nur ausgesprochen hatte, weil er mich seinen Freunden vorführen wollte - wie etwas, was seine Gäste bestaunen sollten. Und doch konnte ich der Einladung schlecht aus dem Wege gehen, denn das hätte gegen Cobbs Anweisungen verstoßen. Außerdem hatte ich Blut geleckt. Ellershaw war das typische Beispiel für einen wenig liebenswerten Mann und trotz seiner hohen Stellung irgendwie faszinierend in seiner Unbedarftheit. Er wollte mich vorführen, und das Gleiche hätte ich gerne mit ihm gemacht.
»Zu viel der Ehre«, sagte ich.
»Unsinn. Sie werden kommen.«
Ich verbeugte mich und sagte, dass es mich sehr freue, und indem ich das tat, setzte ich eine der wichtigsten Wendungen in dieser Geschichte in Gang.
Als Nächstes führte Ellershaw mich die Treppe hinunter und zu der Hintertür, durch die ich bei meinem ersten Besuch im Craven House eingedrungen war. Bei Tageslicht betrachtet kam einem das Gelände der East India Company fast wie eine eigene kleine Stadt oder wie einer ihrer Außenposten in Indien vor. Drei oder vier große Gebäude - umgebaute Wohnhäuser, wie ich erfahren sollte - ragten in die Höhe. Von außen sah man ihnen die Veränderung, die seit ihrer Übernahme durch die East India Company mit ihnen einhergegangen war, kaum an, aber in ihrem Inneren hatten sie jegliche Wohnlichkeit verloren. So waren die Fenster in der unteren Etage zugemauert - einerseits eine Sicherheitsmaßnahme, andererseits eine Möglichkeit, der Glassteuer zu entgehen. In diesen Häusern wohnte niemand mehr, und doch wimmelte es in ihnen wie in einem Haufen exotischer Riesenameisen. Träger mit oder ohne Karren, die Waren von den Docks unten am Fluss holten oder brachten, gingen ein und aus. Die Luft war erfüllt von Ächzen, Rufen und geschrienen Befehlen, dem Quietschen von Rädern, dem Knarzen der hölzernen Wagen. Aus den Schornsteinen stieg Rauch empor, und von irgendwo nicht zu weit her hörte ich auch das metallische Hämmern eines Schmiedes bei der Arbeit, der vermutlich eine bis zum Bruch geschundene Achse wieder herrichtete.
Und dann waren da natürlich die Wachposten. Man konnte sie von den Arbeitern unterscheiden, weil sie nichts in den Händen hielten und es auch nicht eilig hatten, irgendwohin zu kommen. Sie schlenderten nur auf dem Gelände umher und sahen gleichzeitig argwöhnisch und gelangweilt aus. Ab und zu hielten sie einen Wagen an, um dessen Inhalt zu überprüfen. Ich beobachtete, wie einer der Wächter von einem Kut-scher ein Ladepapier verlangte, aber daran, wie er es dann hielt, konnte man deutlich sehen, dass er gar nicht lesen konnte.
Ellershaw ging mit mir zu dem größten der Gebäude. Es befand sich in der Mitte des Geländes, genau dem Tor gegenüber. Die Wagen fuhren alle um den Schuppen herum zu dessen Rückseite, wo ich eine Rampe zum Be- und Entladen vermutete. Die Vorderfront ließ den Betrachter sich in der Illusion wiegen, es handele sich um ein Wohngebäude, aber diese Illusion wurde sofort zerstört, sowie man das Haus betrat. Es war innen entkernt worden; nur die Stützmauern waren erhalten geblieben, damit das obere Stockwerk nicht auf das untere stürzte. Hier gab es jede Menge Kisten und Kästen und Fässer - so ähnlich wie in dem Lagerhaus meines Onkels, wo es auch so lebhaft wie hier zugegangen war, bevor mit Mr. Cobb das Unheil über uns hereinbrach.
»Bewegt mal eure Ärsche«, rief hinter uns ein Mann und zwängte sich mit einer Ladung Kartons, die er drei oder vier Köpfe höher als der Hut auf seinem Haupt gestapelt trug, zwischen Mr. Ellershaw und mir hindurch. Falls ihm aufgefallen war, wen er so pöbelhaft angesprochen hatte, zeigte er jedenfalls keine Neigung, sich zu entschuldigen.
»Du da«, rief Ellershaw einem beleibten Burschen mit dicken Wülsten über den Augen zu, der sich an die Mauer lehnte und faul dem Treiben zusah. »Wie ist dein Name, du träge Missgeburt?«
Der Mann blickte auf, als bereite es ihm schon Schmerzen, auch nur den Kopf zu heben. Er war noch nicht richtig alt, aber auch nicht mehr der Jüngste, und er blickte drein wie jemand, der sein Leben lang im Dienste einer Sache gearbeitet hatte, an der ihm überhaupt nichts lag. »Carmichael, Sir.«
»Sehr schön, Carmichael. Und du überwachst hier alles?«
»Das tue ich, Sir. Stets zu Ihren Diensten.« Er machte eine zögerliche Verbeugung. Ihm war nicht entgangen, dass er mit jemandem sprach, der hier etwas zu sagen hatte. »Ich bin ganz zu Ihren Diensten und hier der Wächter, wie Eure Lordschaft schon selber festgestellt haben.«
»Ja, ja, ist schon gut. Nun ruf deine Kameraden zusammen. Ich habe ihnen etwas zu sagen.«
»Meine Kameraden? Verzeiht, Eure Lordschaft, aber ich verstehe nicht, was Eure Lordschaft meinen.«
»Was ich meine«, sagte Ellershaw, »ist, dass du deine Kameraden, die übrigen Wachmänner, zusammenrufen sollst. Geh und hole sie. Ich will, dass sie alle zusammenkommen.«
»Was Eure Lordschaft meinen, habe ich schon verstanden, aber wie Eure Lordschaft das meinen, bin ich mir nicht sicher. Wie soll ich denn meine Kameraden zusammenrufen?«
»Woher zum Teufel soll ich das denn wissen? Wie machst du das denn sonst?«
»Verzeiht, Eure Lordschaft, aber das tue ich nicht. Niemand tut das. Ich wüsste auch nicht, wie.«
»Mr. Carmichael«, ergriff ich das Wort, »wollen Sie damit sagen, dass Sie keine Möglichkeit haben, die verschiedenen auf dem Gelände verteilten Wachmänner zusammenzutrommeln?«
»Es ist, wie Eure Lordschaft das sagen«, lautete die Antwort.
»Wie werden denn dann Befehle und Informationen weitergegeben?«, bohrte ich nach.
»Einer sagt's dem anderen. So, wie das immer schon gemacht worden ist.«
»Das gibt ja ein schwaches Bild ab«, sagte ich mit ernster Miene zu Ellershaw und schlüpfte damit voll und ganz in die Rolle, die ich nach Cobbs Willen spielen sollte. »Ein äußerst schwaches Bild. Der Mangel an Organisation ist ja katastrophal. Jetzt grast du das ganze Gelände ab und rufst alle Wachmänner, die du findest, hierher zusammen«, sagte ich zu Car-michael.
Dieser machte eine so tiefe Verbeugung, dass er mit seinem fetten Bauch fast vornüberfiel und schlurfte hinaus. Während wir warteten, lobte mich Mr. Ellershaw dafür, wie ich mit dem Burschen umgesprungen war und bat mich dann darum, ihn mit ein paar Geschichten aus meiner Zeit im Ring zu erfreuen. Das tat ich gern, und nach ungefähr einer Viertelstunde war eine genügende Anzahl von Männern zusammengekommen, so dass Ellershaw seine Ankündigung machen konnte.
Ich zählte die Köpfe. An die zwei Dutzend. »Wie viele Wachleute arbeiten gleichzeitig? Wie viele fehlen?«, fragte ich ihn.
»Ich habe keine Ahnung.«
Also stellte ich die Frage der versammelten Mannschaft, aber sie wussten es ebenso wenig wie Mr. Ellershaw, der nun das Wort ergriff.
»Wachmänner«, rief er, »ihr habt eurem Namen nicht gerade Ehre gemacht, denn mir ist etwas Wichtiges abhandengekommen, und das kann ich nicht dulden. Ich habe mich daher entschlossen, euch unter die Aufsicht eines Mannes zu stellen, der euer Kommen und Gehen und eure Pflichten organisiert. Mit der Faulenzerei auf Kosten der East India Company ist ab heute Schluss, das kann ich euch versprechen. Als euren Aufseher habe ich den berühmten Faustkämpfer Benjamin Weaver eingestellt, der keinerlei Schurkenstreiche durchgehen lassen wird. Er wird nun zu euch sprechen.«
Ein Raunen ging durch die Reihen, und mein erster Gedanke war, dass sie gar nicht wussten, was ein Aufseher war, doch ich merkte schnell, dass ich mich getäuscht hatte.
»Verzeiht, Eure Lordschaft«, sagte Carmichael, der zaghaft einen Schritt vorgetreten war. »Aber Ihr wisst vielleicht nicht, dass wir schon einen Aufseher haben.«
Ellershaw sah die Männer verständnislos an, bis, wie als Antwort auf eine Frage, die er nicht zu stellen gewagt hatte, ein weiterer Mann vortrat, und was für einer. Er maß über sechs Fuß, hatte einen gewaltigen Bizeps und ein sehr entschlossenes Auftreten. Er war dunkelhäutig, fast so dunkelhäutig wie ein Afrikaner, aber gekleidet wie ein englischer Arbeiter bei schlech-tem Wetter - raue Wollsachen, ein schwerer Übermantel und ein Tuch um den Hals. Sein Gesicht jedoch war das Beeindruckendste an ihm. Er hatte eine gewaltige, flache Nase, kleine, stechende Augen und einen breiten, höhnisch verzogenen Mund, was aber alles nicht von seinen mannigfachen Narben ablenken konnte. Er sah aus, als wäre er aufs Gesicht gepeitscht worden. Die Wangen, die Haut um die Augen herum, selbst die Oberlippe - alles war voller tiefer Krater und Spalten unbekannter Herkunft. Auf der Straße hätte ich mich gefragt, was für ein Landsmann er wohl sei, aber hier, an diesem Ort, gab es keinen Zweifel. Der Mann stammte aus Indien.
»Was dies?«, verlangte er zu wissen, indem er stolz vortrat. »Oberaufseher für Warenlager? Ich Oberaufseher von Warenlager.«
»Und wer zum Teufel bist du?«, fragte ihn Ellershaw. »Wie der Teufel siehst du mir nämlich aus.«
»Ich Aadil. Ich Oberaufseher von Warenlager.«
»Das ist Aadil«, meldete sich Carmichael zu Wort. »Er ist der Oberaufseher des Warenlagers, den wir schon haben. Wofür brauchen wir denn noch einen?«
»Oberaufseher des Warenlagers?«, kläffte Ellershaw. »So etwas gibt es hier nicht.«
»Ich Oberaufseher von Warenlager«, betonte Aadil noch einmal und schlug sich mit der Pranke auf seine kräftige Brust.
»Wie kommt es, dass ich nie etwas davon gehört habe?«, verlangte Ellershaw zu wissen. Eine berechtigte Frage, vor allem, da er doch dem Unterkomitee für die Warenbestände vorsaß. Da niemand eine Antwort parat hatte, ging Ellershaw davon aus, dass die Runde an ihn gegangen war. »Da haben wir es also«, sagte er. »Du bist schuld.« Er pochte dem Inder mit dem Finger auf die Brust. »Du hast deine Arbeit schlecht gemacht, und daher degradiere ich dich, Bursche. Du bist wieder ein einfacher Wachmann. Weaver hier ist der neue Oberaufseher.«
Aadil sah uns beide wütend an, sagte aber nichts. Er schien seinen Gesichtsverlust mit der stoischen Gelassenheit des Orientalen hinunterzuschlucken. Zumindest hoffte ich, dass es so war, denn dem Burschen mochte man nicht im Dunkeln begegnen, und ich hatte keine Lust, einen rachsüchtigen Barbaren unter meinen Untergebenen zu wissen.
»Da das nun erledigt wäre«, sagte Ellershaw zu mir, »ist es vielleicht das Beste, wenn Sie ein paar Worte an Ihre Männer richten.«
Ich wandte mich der Versammlung zu, hatte aber keine Ahnung, was ich zu den Wachposten sagen sollte. Mir war nicht bewusst gewesen, dass ich eine Rede ans Volk hätte vorbereiten müssen, also blieb mir nichts anderes übrig, als das Beste aus der Situation zu machen. »Männer«, hob ich an, »es sind in der Vergangenheit Fehler vorgekommen. So viel ist klar. Aber man hat euch eine schwierige Aufgabe zugeteilt, und der Mangel an Organisation hat sie euch auch alles andere als leichter gemacht, doch das wird sich nun ändern. Ich bin nicht hier, um euch zu piesacken, sondern um euch eure Pflichten verständlicher zu machen. Ich hoffe, euch in Kürze mehr dazu sagen zu können, doch bis dahin vertraue ich darauf, dass ihr eurer Arbeit so gut wie möglich nachgeht.« Weil ich nicht wusste, was ich noch sagen sollte, trat ich einen Schritt zurück.
Mr. Ellershaw schien auch nichts Besseres einzufallen, und wir standen eine Weile verlegen da. Dann beugte sich einer der Männer nach links und flüsterte etwas in Carmichaels Ohr, worauf dieser viel zu laut und schrill zu kichern anfing.
Ellershaw lief auf der Stelle puterrot an und zeigte mit seinem Gehstock auf den lachenden Mann. »Du da«, polterte er. »Tritt vor.«
»Verzeiht, Eure Lordschaft«, stammelte Carmichael nervös. Ihm schien bewusst, dass er über die Stränge geschlagen hatte. »Ich habe es nicht böse gemeint, Sir.«
»Was du meinst, kann ich nicht beurteilen«, sagte Ellershaw. »Dein Benehmen ist es, das mich stört. Um zu demonstrieren, dass unter Mr. Weavers Anleitung mehr Ordnung einkehren wird als unter der dieses dunkelhäutigen Burschen, ordne ich ein paar kräftige Schläge für diesen Mann an. Das ist nur gerecht, und es wird Mr. Weaver eine gute Gelegenheit geben, seine Fähigkeiten als Faustkämpfer wieder einmal unter Beweis zu stellen.«
Ich sah ihn an und hoffte in seinem Gesicht ein untrügliches Anzeichen dafür zu finden, dass er bloß gescherzt hatte. Das Blut pochte in meinen Schläfen. Wie konnte ich Ellershaw zufriedenstellen - und damit Cobb, meinen wahren Herrn und Meister -, wenn ich vor dieser grausamen Bestrafung zurückschreckte? »Das ist doch wohl etwas übertrieben«, wagte ich einzuwenden.
»Unsinn«, sagte Ellershaw. »Ich habe schon in Indien Männer unter meinem Kommando gehabt. Ich weiß etwas darüber, wie man Disziplin bewahrt.« Er wählte zwei Männer aus der Gruppe aus, die Carmichael festhalten sollten, dessen Augen feucht vor Angst geworden waren. »Versohlen Sie diesem Kerl das Gesäß«, wies er mich an. »Und keine Zurückhaltung. Hier ist ein kräftiges Stück Holz. Das wird ihn Mores lehren.«
Ich nahm die Planke entgegen, machte aber keine Anstalten, sie zu benutzen, sondern starrte nur vor mich hin.
Falls Ellershaw mein Zögern auffiel, ließ er es sich nicht anmerken. Stattdessen wandte er sich Carmichael zu. »Du hast Glück, mein Junge. Du wirst gleich von einem der gefeiertsten Boxkämpfer dieses Königreiches verprügelt werden. Das kannst du später deinen Enkelkindern erzählen. Also los, Mr. Weaver.«
»Ich halte es für eine übertriebene Grausamkeit«, sagte ich. »Ich verspüre nicht den Wunsch, diesen Mann zu schlagen.«
»Aber ich möchte, dass Sie es tun«, drängte Ellershaw. »Wenn Sie Ihren Posten behalten wollen, sollten Sie auf mich hören.«
Wenn ein Mann in eine Rolle schlüpft und sich als etwas ausgibt, was er nicht ist, muss er sich nicht wundern, wenn er mit solchen Situationen konfrontiert wird, allerdings nicht unbedingt mit derart scheußlichen Konsequenzen für einen anderen Menschen. Wenn ich so handeln würde, wie ich es für richtig hielt, müsste ich Ellershaws Befehl verweigern und damit riskieren, Cobb gegen mich aufzubringen. Wenn ich mich weigerte, den Unglücklichen zu schlagen, würde ich damit meinen Onkel und meine Freunde in Gefahr bringen; andererseits konnte ich nicht mit gutem Gewissen mit einem schweren Stück Holz auf einen Menschen einprügeln, nur, um Ellershaws Bedürfnis zu befriedigen, einen zerschundenen Hintern zu sehen.
Ich rang mit mir, um zu einer Lösung zu gelangen, fand aber nur zu einer Rechtfertigung vor mir selber. Ich hatte hier zwar eine Rolle auszufüllen, doch konnte ich dazu nicht aus meiner Haut schlüpfen, und ich glaube, behaupten zu können, dass alle, die mich kennen, nicht daran zweifeln würden, wie ungern ich jemanden schlug, der mir nichts getan hatte. Mr. Ellershaw hatte Benjamin Weaver eingestellt, und man konnte mir nicht vorwerfen, wenn ich auch wie Benjamin Weaver handelte, denn sonst würde ich mich ja selbst verleugnen. Diese Erklärung würde Cobb einsehen müssen und auch, dass Ellershaw mit seinem Befehl zu weit gegangen war. Ich hoffte, damit meinen Freunden den Kopf aus der Schlinge ziehen zu können.
Ich gab Ellershaw das Holzbrett zurück. »Ich halte eine Prügelstrafe für unangebracht«, sagte ich. »Ich werde es nicht tun.«
»Damit riskieren Sie Ihre Stellung bei uns.«
Ich schüttelte nur den Kopf. »Dieses Risiko bin ich bereit, einzugehen.«
Ellershaw sah mich finster an. Einen Augenblick lang dachte ich, er wolle Carmichael selber schlagen, aber stattdessen warf er die Planke auf den Boden und fuhr mit der Hand durch die Luft. »Lasst den Kerl los«, befahl er den Wachmännern, die Carmichael festhielten.
Die Männer stimmten ein Jubelgeschrei an, aus dem auch mein Name herauszuhören war. Ellershaw blickte mürrisch von mir zu den Männern. »Warten Sie bitte draußen vor dem Haus auf mich«, sagte er. »Dort werde ich hoffentlich eine Erklärung für Ihre Weigerung bekommen.«
Ich verbeugte mich und zog mich dann unter den Lobpreisungen der Männer zurück.
Sie schienen mich für meinen Akt der Courage ins Herz geschlossen zu haben. Nur Aadil, der Inder, hielt sich zurück und sah mich weiterhin bedrohlich an. Ich meinerseits befürchtete, von Ellershaw auf der Stelle entlassen zu werden und dass ich dann all dies Cobb erklären müsste. Aber darin hatte ich mich getäuscht, denn mein Vorgesetzter folgte mir mit einem breiten Grinsen und gab mir sogar einen Klaps auf die Schulter.
»Wunderbar gemacht«, sagte er. »Die Männer haben Sie jetzt fest auf Ihrer Seite, und Sie werden alles tun, was Sie von ihnen verlangen.«
Ich war einen Augenblick lang sprachlos. »Ich verstehe nicht - haben Sie gewollt, dass ich den Mann nicht schlage? Ich wünschte, Sie würden mich mehr in Ihre Gedankengänge einweihen, denn ich hatte es so empfunden, dass ich Sie vor allen Leuten bloßgestellt habe.«
»Ja, das haben Sie natürlich. Und ich hatte keineswegs vor, den Knaben ungeschoren davonkommen zu lassen, aber was unter dem Strich dabei herausgekommen ist, ist vorzüglich, und ich werde nichts daraus machen. Nun denn, begeben wir uns zurück in mein Büro. Es gibt etwas sehr Wichtiges zu besprechen.«
»Und um was handelt es sich dabei?«
Er hörte aus meiner Stimme heraus, wie unwohl mir zu Mute war, und lachte. »Ach, Sie müssen das mit der Bewachung des Lagers nicht zu ernst nehmen. Nein, ich möchte mit Ihnen über den wahren Grund sprechen, aus dem ich Sie eingestellt habe.«