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Es war noch Vormittag, als ich Cobbs Haus verließ, aber ich taumelte dennoch durch die Straßen, als hätte ich mich nur mit Mühe nach einem Zechgelage in einer Taverne vom Ale losgerissen oder nur widerwillig das Hurenhaus verlassen, in dem ich mich die ganze Nacht verlustiert hatte. Ich musste mich zusammennehmen, denn ich hatte keine Zeit, mir wie Hiob auf die Brust zu klopfen, um mich über zu Unrecht erlittenes Leid zu beschweren. Ich wusste nicht, warum Cobb einen so elaboraten Plan ersonnen haben sollte, nur um mich zu seinem Schuldner zu machen, aber ich war entschlossen, es darauf beruhen zu lassen, bis ich mich aus seinen Fängen befreit hatte. Sowie ich meine Schuld, oder was er als solche bezeichnete, bei ihm abgelöst hatte und er mit einer Klinge an seiner Kehle vor mir auf dem Boden lag, wollte ich mich nur zu gerne nach seinen Beweggründen erkundigen. Denn würde ich ihn danach fragen, solange er mir noch mit dem Schuldturm drohen konnte, würde ich das Gefühl nicht ertragen können, sein demütiger Bittsteller zu sein.

Die Rolle des Bittstellers stand mir auf jeden Fall bevor, und wenn ich es schon nicht über mich bringen konnte, unter Cobbs Fuchtel zu leben, gab es doch, sagte ich mir, wohlwollendere Kreditoren auf der Welt. Ich gönnte mir daher die Ausgabe für eine Kutsche - ein paar Kupfermünzen, die ich weniger besaß, dürften wohl kaum die Bürde meiner enormen Verbindlichkeiten erschweren - und begab mich in jenen stinkenden, fauligen Teil der Metropole, der da Wapping hieß und in dem mein Onkel Miguel sein Lagerhaus unterhielt.

Die Straße war zu vollgestopft mit Karren und Hausierern und Fischverkäuferinnen, als dass ich unmittelbar vor dem Gebäude aus dem Wagen hätte steigen können, also musste ich die letzten paar Minuten zu Fuß zurücklegen, wobei mir der Modergestank der Brühe aus dem Fluss und die nur wenig erbaulicheren Gerüche der Bettler um mich herum in die Nase drangen. Ein Knirps, der trotz der bitteren Kälte nur mit einem zerrissenen Hemd und sonst nichts weiter bekleidet war, versuchte mir Garnelen anzudrehen, die wohl seit mindestens einer Woche ungenießbar waren und deren Pestilenz mir die Tränen in die Augen trieb. Und doch konnte ich nicht umhin, einen mitleidsvollen Blick auf seine blutigen, mit Dreck aus dem Rinnstein verkrusteten Füße zu werfen, in denen sich der Schmutz schon in die Frostbeulen gefressen hatte, und aus einer plötzlichen Anwandlung der Mildtätigkeit heraus warf ich eine Münze auf seinen Teller, denn ich sagte mir, ein jeder, der so verzweifelt war, dass er noch versuchte, derart verdorbenes Zeug zu verkaufen, müsse unmittelbar vor dem Verhungern stehen. Erst nachdem er sich, einen zufriedenen Glanz in den Augen, verzogen hatte, ging mir auf, dass ich auf einen Trick hereingefallen war. Gab es denn noch einen Einzigen in London, fragte ich mich, der auch wirklich war, was er zu sein vorgab?

Ich erwartete, dass das übliche geschäftige Chaos über mir zusammenschlagen würde, als ich den Speicherschuppen meines Onkels betrat. Er verdiente sich mit Im- und Exporthandel ein recht erkleckliches Einkommen, wobei er sich seine weit verzweigten Verbindungen zu den über die ganze Welt verstreuten Kommunen portugiesischer Juden zu Nutze machte. Er trieb Handel mit Ambra, Sirup, Dörrfisch und Datteln, Butter aus Holland und Heringen aus der Nordsee, aber sein Hauptgeschäft bestand in dem Handel mit spanischen und portugiesischen Weinen und britischen Wollprodukten. Diesen Warenaustausch eines nahen Verwandten konnte ich nur begrüßen, denn sooft ich meinen Onkel besuchte, durfte ich darauf hoffen, mit einer guten Flasche Port oder Schaumwein als Geschenk heimzukehren.

Ich war es gewohnt, beim Betreten seines Lagerhauses von unzähligen Männern angerempelt zu werden, die aus unerfindlichen Gründen Kisten und Kästen und Fässer und Tonnen von einer Stelle an die andere schleppten und dabei so völlig im Sinn und Zweck ihrer Arbeit aufgingen wie die Myriaden umhereilender Bewohner eines Ameisenhaufens. Ich erwartete, dass der ganze Boden mit irgendwelchen Gefäßen vollgestellt sein würde, denen der süße Duft getrockneter Früchte entströmte, der sich mit dem Wohlgeruch ausgelaufenen Weines vermischte. Aber heute waren nur wenige Arbeiter zugegen, und die Luft in dem Gebäude war feucht und schwer; es roch nach Wollsachen und nach noch etwas anderem, erheblich Durch-dingenderem. Und es war kalt in dem beinahe leeren Schuppen.

In der Hoffnung, meinen Onkel zu entdecken, blickte ich mich um, doch statt seiner trat sein langjähriger Kompagnon, Joseph Delgado, auf mich zu. Wie die Mitglieder meiner Familie war auch Joseph jüdischer Abstammung und portugiesischer Herkunft, jedoch in Amsterdam geboren und als Kind nach England gekommen. In den Augen der meisten Menschen sah er allerdings aus wie ein ganz normaler Engländer, denn er kleidete sich wie ein Mann aus Handelskreisen und trug das Kinn stets rasiert. Er war ein braver Kerl, den ich schon seit Kindertagen kannte und der stets ein nettes Wort für mich gehabt hatte.

»Ah, der junge Master Benjamin«, begrüßte er mich. Es hatte mich stets amüsiert, wie er mich ansprach, als wäre ich noch ein Kind, aber ich begriff durchaus, warum er das tat. Es gefiel ihm nicht, mich bei meinem angenommenen Namen Weaver zu nennen, denn dieser stammte aus der Zeit, als ich noch als Junge aus meines Vaters Haus geflohen war und erschien dem guten Joseph als Zeichen meiner Aufsässigkeit. Er konnte nicht verstehen, warum ich mich weigerte, zu dem Namen meiner Ahnen, Lienzo, zurückzukehren, also weigerte er sich seinerseits, mich bei einem dieser beiden Namen zu nennen. Da mein Vater nun längst tot war und ich auf gutem Fuße mit meinem Onkel und meiner Tante stand, hatte ich eigentlich gar nichts mehr gegen meinen Familiennamen, aber jedermann kannte mich als Weaver, und ich verdiente mir mein Auskommen kraft des Rufes, der mir vorauseilte. Also gab es kein Zurück.

Ich ergriff Josephs ausgestreckte Hand. »Es ist hier ziemlich still geworden, wie ich sehe.«

»Oh ja«, erwiderte er ernst. »Ziemlich still, in der Tat. Still wie auf einem Friedhof.«

Ich musterte sein in die Jahre gekommenes Antlitz und gewahrte die düstere Stimmung, die ihn bedrückte. Die Falten und Furchen seines Gesichts erschienen mir nun wie tiefe Schluchten. »Gibt es Ärger?«

»Ich würde sagen, das ist der Grund, aus dem Ihr Onkel Sie hat kommen lassen.«

»Mein Onkel hat mich nicht zu sich bestellt. Ich bin in eigenen Angelegenheiten hier.« Da erst ging mir die unheilschwangere Bedeutung auf, die seine Worte haben mochten. »Geht es ihm nicht gut?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, das ist es nicht. Er macht sich nur seine üblichen Sorgen. Die Dinge stehen ja auch schlecht genug. Ich wünschte nur, er würde mich - oder einen anderen, das ist mir gleich - mehr in die Geschäfte einweihen. Ich fürchte, die Bürde seiner Verantwortung schlägt ihm auf die Gesundheit.«

»Ich weiß«, sagte ich. »Ich habe auch schon mit ihm darüber gesprochen.«

»Es liegt daran, dass er keinen Sohn hat«, sagte Joseph. »Wenn doch nur Sie, Sir, bereit wären ...«

Ich schüttelte energisch den Kopf. »Ich möchte, dass mein Onkel wieder gesund wird und nicht, dass er daran zugrunde geht, mit ansehen zu müssen, wie ich sein Geschäft in Grund und Boden wirtschafte. Ich habe vom Im- und Export keine Ahnung, und ich habe auch kein Verlangen, etwas darüber zu lernen, solange jeder Fehler, den ich begehe, ihm Schaden zufügen könnte.«

»Aber Sie müssen mit ihm sprechen. Sie müssen ihn inständig bitten, sich ein wenig Ruhe zu gönnen. Er ist in seinem Kontor. Gehen Sie nur zu ihm, mein Junge, gehen Sie.«

Ich begab mich in den hinteren Teil des Lagerhauses, wo ich meinen Onkel in seinem kleinen Arbeitszimmer hinter seinem mit Geschäftsbüchern, Landkarten und Rechnungen bedeckten Schreibtisch vorfand. Er trank ein dickflüssiges Getränk aus einem Zinnbecher - Portwein, wie ich vermutete - und starrte durch das schmutzige Fenster hinaus auf die Themse. Er merkte gar nicht, dass ich den Raum betreten hatte, also klopfte ich gegen die Tür. »Onkel«, sagte ich.

Er wandte sich zu mir um, stellte seinen Becher ab und erhob sich, um mich zu begrüßen, was ihm nur gelang, indem er sich mit seiner gebrechlichen Hand auf einen reich verzierten Gehstock stützte, dessen Knauf einen kunstvoll gearbeiteten Drachenkopf darstellte. Selbst mit Hilfe des Stocks waren seine Schritte schleppend und rangen ihm Anstrengung ab - es schien, als wate er durch Wasser. Nichtsdestotrotz umarmte er mich voller Herzlichkeit und gab mir mit einer Geste zu verstehen, ich solle Platz nehmen. »Schön, dass du gekommen bist, Benjamin. Welch ein Zufall - ich wollte gerade nach dir schicken.«

»Ja, das hat Joseph mir bereits gesagt. Hast du Ärger, Onkel?«

Er füllte einen weiteren Zinnbecher mit dem aromatischen Portwein und reichte ihn mir mit zitternder Hand. Obwohl den Großteil seines Gesichtes ein gepflegter Bart bedeckte, entging mir doch nicht, wie fahl und trocken seine Haut war und in was für tiefen Höhlen seine Augen steckten. »Da gibt es etwas, wobei du mir möglicherweise behilflich sein könntest«, sagte er. »Aber ich schätze, auch du hast deine Gründe, die dich zu mir führen, also lass uns zunächst hören, was du auf dem Herzen hast, und danach werde ich dich mit meinen Problemen behelligen.«

Er sprach sehr langsam und machte beim mühseligen Luftholen rasselnde Geräusche. Seit einigen Monaten litt mein Onkel unter einer Rippenfellentzündung, die ihm starke Schmerzen bereitete und ihn immer wieder aufs Krankenbett warf, so dass wir befürchteten, es könne jeden Augenblick mit ihm ein erbärmliches Ende nehmen. Doch immer wenn die Not und die Sorge um ihn am größten waren, lockerte die Krankheit ihren Würgegriff, und sein Atmen kehrte wieder zu dem zurück, was wir als Normalzustand empfanden - wenn dieser auch erheblich angestrengter und mit mehr Schmerzen verbunden war als vor dem Ausbruch der Krankheit. Obwohl er regelmäßig von einem gut berufenen Arzt aufgesucht wurde, sich ebenso regelmäßig zur Ader lassen ließ und umgehend seine verschriebenen Medikamente bekam, ging es mit ihm immer weiter abwärts. Er hatte kaum Aussicht auf Besserung, mutmaßte ich, außer, er würde London, dessen Luft während der Wintermonate viel zu unrein für einen Mann mit angeschlagenen Bronchien war, den Rücken kehren. Aber davon wollte mein Onkel nichts hören, und schon gar nichts davon, sein Geschäft aufzugeben - er habe schließlich sein ganzes Leben darauf verwendet, es aufzubauen, argumentierte er, und er wüsste gar nicht, wie er ohne seine Arbeit leben sollte. Seiner Meinung nach würde ihn Nichtstun rascher ins Grab bringen als jede Krankheit und aller Schmutz in der Luft. Ich ging davon aus, dass meine Tante noch einen gelegentlichen Versuch unternahm, ihn umzustimmen, aber ich selber hatte das schon längst aufgegeben, weil der Verdruss, der daraus resultierte, seinem Zustand schließlich auch nicht zuträglich sein konnte.

Ich sah zu, wie er wieder hinter seinen Schreibtisch schlurfte, hinter dem ein Feuer im Kamin prasselte. Mein Onkel war nie von stattlicher Statur gewesen, und in den zurückliegenden Jahren war er geradezu plump geworden - wie ein anständiger englischer Kaufmann eben -, doch seit ihn in diesem Sommer die Krankheit gepackt hatte, war das Meiste seines Körpergewichts dahingeschmolzen wie Eis unter der Sonne.

»Du siehst mir nicht gut aus, Onkel«, sagte ich.

»Das ist keine nette Art, ein Gespräch zu beginnen«, schalt er mich mit einem leisen Lächeln.

»Du musst Joseph stärker in die Führung der Geschäfte einbinden und dich um deine Gesundheit kümmern.«

Er schüttelte den Kopf. »Mit meiner Gesundheit wird es wohl nichts mehr.«

»Onkel, das höre ich mir nicht an.«

»Benjamin, ich werde nicht wieder genesen. Damit habe ich mich abgefunden, und auch du wirst dich damit abfinden müssen. Meine Pflicht meiner Familie gegenüber ist es vielmehr, ein florierendes Geschäft zurückzulassen und keinen Haufen Schulden.«

»Vielleicht solltest du Jose hinzuziehen«, schlug ich vor. Jose war mein Bruder, aber wir hatten uns entfremdet und seit Jugendtagen kein Wort mehr miteinander gewechselt.

Mein Onkel zog die Augenbrauen kaum merklich in die Höhe, und einen Augenblick lang erschien er mir wieder als der kerngesunde Mann, als den ich ihn noch vor einem halben Jahr gekannt hatte. »Du musst dir wirklich ernsthafte Sorgen machen, dass du mir mit so einem Vorschlag kommst. Doch nein, ich möchte ihn nicht belästigen. Er hat sein eigenes Geschäft und seine Familie in Amsterdam und kann nicht alles stehen und liegen lassen, um meine Angelegenheiten in Ord-nung zu bringen. Und ich kann dir versichern, dass es mir nicht an Kraft und an Willen fehlen wird zu tun, was ich tun muss. Doch nun sag du mir, was dich zu mir führt, aber ich bete um des häuslichen Friedens willen, dass du nicht hier bist, weil deine Tante dich geschickt hat, denn von ihr muss ich mir zu Hause schon genug Vorwürfe anhören.«

»Wie du siehst, bedurfte es nicht meiner Tante, mich zu dir zu führen. Aber ich möchte es dir bei all deinen Sorgen nicht noch schwerer machen .«

»Glaubst du, du würdest es mir nicht noch schwerer machen, wenn du mich dir nicht helfen ließest, sofern ich kann? Seit ich krank bin, sehe ich klarer denn je zuvor, dass bis auf die Familie wenig wirklich zählt. Wenn ich dir helfen kann, dann wird es mir eine Freude sein, dies zu tun.«

Ich konnte nicht umhin, ihm angesichts seiner Großherzigkeit ein Lächeln zu schenken. Nur ein Mann vom Naturell meines Onkels konnte es so erscheinen lassen, als würde man ihm damit, dass man ihn um Hilfe ersuchte, einen Gefallen tun. »Ich befinde mich in Schwierigkeiten, Onkel, und obwohl ich dir nicht auch noch meine Sorgen aufbürden möchte, fürchte ich doch, dass du der einzige Mensch bist, an den ich mich wenden kann.«

»Dann bin ich froh, dass du zu mir gekommen bist.«

Ich hingegen war es nicht. Bei vielen Gelegenheiten hatte er mir - argwöhnend, dass es um meine Finanzen nicht zum Besten bestellt sei - ausdrücklich jegliche Unterstützung zugesichert. Ich meinerseits hatte es mir zur Gewohnheit gemacht, solche Anerbieten regelmäßig auszuschlagen, selbst wenn ich mich an den Hauswänden der Stadt entlangdrücken musste, um den Häschern zu entgehen, die mit einem von einem zornentbrannten Gläubiger erwirkten Haftbefehl hinter mir her waren. Dies jedoch war eine ganz neue Situation für mich. Ich hatte zwar nicht über meine Verhältnisse gelebt - wem von meinem Stande konnte man nicht nachsagen, dass ihm dies ge-legentlich passierte? -, war aber so hinterhältig aufs Kreuz gelegt worden, dass ich ohne Hilfe meinen Kopf nicht mehr aus der Schlinge ziehen konnte. Dass ich unverschuldet in Not geraten war, machte es leichter, um einen finanziellen Zuschuss zu ersuchen, aber unangenehm blieb es mir dennoch.

»Onkel«, begann ich, »du weißt, dass ich stets den Gedanken verabscheut habe, mich auf deine Großzügigkeit zu verlassen, aber ich fürchte, ich befinde mich zur Zeit in einer äußerst verzwickten Lage. Mir ist Unrecht geschehen, musst du wissen, großes Unrecht, und ich benötige ein Darlehen, um dieses an mir begangene Unrecht aus der Welt zu schaffen.«

Er presste die Lippen zusammen, wobei ich nicht zu deuten wusste, ob er damit Anteilnahme oder ein körperliches Unbehagen zum Ausdruck bringen wollte. »Selbstverständlich«, sagte er mit weniger Wärme, als ich erwartet hatte. Schließlich war er es gewesen, der mir stets seinen Geldbeutel geradezu hatte aufdrängen wollen. Nun, da ich ihn um einen Kredit bat, demonstrierte er Zurückhaltung. »Wie viel wirst du denn benötigen?«

»Ich fürchte, es handelt sich um eine beträchtliche Summe. Zwölfhundert Pfund. Du musst wissen, dass jemand es mit einer List so hingedreht hat, als würde ich ihm diese Summe schulden, und ich muss sie ihm bezahlen, um der unmittelbaren Gefahr einer Festnahme zu entgehen, doch sowie ich meine Verbindlichkeit vom Halse habe, werde ich die Verschwörung aufdecken und, so hoffe ich, das Geld zurückbekommen.«

Ich hielt inne, weil ich sah, dass mein Onkel ganz blass geworden war. Plötzlich lag ein Schweigen über dem Raum, das nur durch das pfeifende Atmen meines Onkels unterbrochen wurde.

»Verstehe«, sagte er schließlich. »Ich hatte eher etwas in der Größenordnung von dreißig oder vierzig Pfund erwartet.

Wenn es sein muss, könnte ich auch hundert aufbringen. Aber zwölfhundert ist ausgeschlossen.«

Es war in der Tat eine stattliche Summe, aber dennoch überraschte mich seine zurückhaltende Reaktion. Er ging regelmäßig mit erheblich größeren Beträgen um und verfügte über einen reichlichen Kreditrahmen. Konnte es sein, dass er mir misstraute?

»Unter normalen Umständen würde ich nicht zögern, dir vorzustrecken, um was du mich bittest und sogar noch mehr«, fuhr er fort, und seine Stimme begann rasselnd zu klingen, was, wie ich in den vergangenen Monaten gelernt hatte, ein Anzeichen dafür war, dass er sich über etwas aufregte. »Du weißt, dass ich dir immer wieder meine Hilfe angeboten habe, und es hat mich oft geärgert, dass du dir von mir nicht unter die Arme greifen lassen wolltest, aber ich habe einen schweren geschäftlichen Rückschlag erlitten, Benjamin. Aus diesem Grunde habe ich dich zu mir rufen lassen wollen. Bis dieses Problem gelöst ist, kann ich keine solche Summe aufbringen.«

»Um was für ein Problem handelt es sich denn?«, fragte ich. Mich überkam ein Gefühl der Unsicherheit. In dem Nebel begann etwas Gestalt anzunehmen.

Er drehte sich um und schürte das Feuer. Vermutlich nahm er die Kraft zusammen, mir seine Geschichte zu erzählen. Nachdem er ungefähr eine Minute lang die Funken zum Sprühen gebracht hatte, wandte er sich wieder mir zu. »Ich habe jüngst eine beträchtliche Schiffsladung Wein gekauft - eine äußerst beträchtliche Ladung«, hob er an. »Natürlich betätige ich mich als Importeur portugiesischer Weine, wie du ja weißt, und empfange jedes Jahr eine oder zwei Lieferungen, um meinen Bestand aufzufüllen. Dies hätte eine solche Lieferung sein sollen. Wie immer habe ich die Ladung gegen alle erdenklichen Eventualitäten versichern lassen, doch hat es mir nichts genützt. Die Lieferung traf hier zwar wie zugesagt ein, wurde im Zollamt zwischengelagert und dort zu den Büchern genommen. Sowie der Wein von Bord war, verfiel die Transportversicherung, denn die Güter gelten danach als unversehrt eingetroffen. Nun aber ist die Ladung verschwunden.«

»Verschwunden«, wiederholte ich.

»Ja, auf dem Zollamt behauptet man, keinerlei Unterlagen über meinen Wareneingang finden zu können. Man behauptet sogar, meine Frachtpapiere wären gefälscht und hat mir auch noch mit rechtlichen Schritten gedroht, falls ich meinerseits auf Nachforschungen beharre. Du weißt ja, was unsereins vom Justizsystem dieses Landes zu erwarten hat. Ich begreife es nicht. Ich habe jahrzehntelang mit diesen Leuten zu tun gehabt, und ich habe es nie an kleinen Zuwendungen fehlen lassen, damit man mir auf dem Zollamt gewogen bleibt. Nie habe ich ein Wort des Missfallens vernommen, dass ich etwa meinen Beitrag nicht leistete oder dergleichen. Ich habe keinen Grund zu der Annahme, dass man mit meiner Freigiebigkeit unzufrieden war. Und nun das.«

»Sie treiben ein Spiel mit dir? Sie behalten deine Lieferung als Unterpfand?«

Er schüttelte den Kopf. »Dafür gibt es keinerlei Anhaltspunkte. Ich habe auch mit meinen langjährigen Verbindungspersonen dort gesprochen, Männern, die ich beinahe als meine Freunde betrachte, Männern, die es keinesfalls billigen würden, dass mir ein Schaden entstünde, weil sie sich an meine Zuwendungen gewöhnt haben. Ihnen ist die Angelegenheit ebenso schleierhaft wie mir. Doch unter dem Strich kommt dabei heraus, dass ich mich erheblich verschuldet habe, bis meine Ladung wieder aufgefunden wird, Benjamin. Wechsel werden fällig, und das erfordert von mir enorme Verschiebungen von Geldern und buchhalterische Winkelzüge, um nicht als Bankrotteur entlarvt zu werden, was meinen Ruin bedeuten würde. Wären es ein paar Silbermünzen, derer du bedürftest, würde es auch keine große Rolle mehr spielen, aber ich sehe nirgendwo zwölfhundert Pfund, die ich lockermachen könnte. Einen so be-trächtlichen Ziegel aus dem Gefüge meines Geschäftes zu entfernen, hieße, das ganze Bauwerk zum Einsturz zu bringen.«

»Aber es gibt doch Gesetze«, brachte ich vor.

»Ich habe selbstverständlich rechtliche Schritte eingeleitet, aber du weißt ja, wie die Mühlen mahlen. Es wird verschleppt, widersprochen und verdunkelt. Ich fürchte, es kann Jahre dauern, bis ich vor einem Gericht mein Recht bekomme.«

Ich brauchte einen Augenblick, um zu verdauen, was ich da eben gerade vernommen hatte. Was für ein sonderbarer Umstand, dass mein Onkel in ebendem gleichen Augenblick wie ich von erheblichen Schulden gedrückt wurde. Aber natürlich war daran gar nichts Sonderbares. Es war alles ein abgekartetes Spiel, davon war ich überzeugt. Nicht umsonst hatte Cobb so ausdrücklich betont, dass Tobias Hammond, sein Neffe, am Zollamt beschäftigt war.

»Benjamin, glaubst du, du könntest für mich in dieser Angelegenheit Nachforschungen im Zollamt anstellen? Vielleicht kannst du Licht in die Sache bringen, so dass wir ein wenig rascher zu einer Lösung finden.«

Ich schlug mit meiner Faust auf die Platte seines Schreibtisches. »Es tut mir leid, dass dir das widerfahren ist, Onkel. Meiner Meinung nach bist du hinters Licht geführt worden. Jetzt wird mir klar, dass jemand dich geschäftlich schwer schädigen wollte, damit du mir nicht zu Hilfe kommen kannst.«

In knappen Zügen berichtete ich ihm von meiner Absprache mit Cobb, zum Teil schon deshalb, weil ich wissen wollte, ob einer der Beteiligten ihm bekannt war und er mir etwas über ihn erzählen konnte. Jedoch war mir auch daran gelegen, ihm alles, was sich zugetragen hatte, zu erklären, damit er nicht zu streng über mich urteilte, weil ich unfreiwillig eine Rolle in dem gegen ihn geschmiedeten Komplott gespielt hatte.

»Ich habe von keinem dieser Männer je etwas gehört. Aber ich kann Erkundigungen einholen, falls du dies möchtest. Wenn dieser Cobb so viel Geld besitzt, um dich zu seinem Leibeige-nen zu machen, muss er einen gewissen Bekanntheitsgrad haben.«

»Ich wäre für alles dankbar, was ich von dir über ihn erführe.«

»In der Zwischenzeit musst du herausfinden, was er vorhat.«

Ich zögerte. »Darauf bin ich nicht sehr erpicht. Ich könnte es nicht ertragen, seine Marionette zu sein.«

»Du kannst nicht den Kampf mit ihm aufnehmen, solange du nicht weißt, wer er ist und warum er so emsig daran arbeitet, dich jeder Gegenwehr zu berauben. Indem er dir verrät, wonach er trachtet, verrät er dir vielleicht auch das Geheimnis, wie wir ihn bezwingen können.«

Dies war ein guter Rat, den ich beherzigen musste. Und zwar schon recht bald. Trotzdem war ich noch nicht bereit, zu Cobb zurückzukriechen. Zuvor galt es, noch weitere Ratschläge einzuholen.

Ich verabredete mich mit meinem Freund und Mitstreiter Elias Gordon in einem Kaffeeausschank namens The Grey-hound, der sich in einer Seitenstraße der Grub Street befand. Ich erwartete, ihn dort mit einer Zeitung und einem Schokoladengetränk vor der Nase vorzufinden - oder mit einer Stärkung etwas gehaltvolleren Charakters. Daher überraschte es mich, ihn bei meinem Eintreffen auf der Straße vor dem Lokal stehen zu sehen, wobei er sich an dem Schnee, der in immer dichteren Flocken fiel, überhaupt nicht zu stören schien, derweil er hitzig mit einer mir unbekannten Person debattierte.

Der Mann, mit dem er so lebhaft etwas zu erörtern hatte, war ein gutes Stück kleiner als Elias, was auf die meisten Männer zutrifft, aber dafür stämmiger, männlicher gebaut - was man ebenfalls von den meisten Männern sagen konnte. Obwohl sein eleganter Mantel und seine teure Perücke ihn als einen Gentleman auswiesen, war er puterrot im Gesicht ange-laufen und plusterte sich auf wie ein Gockel, während er Gift und Galle spuckte wie ein in die Enge getriebener Straßenraufbold.

Elias verfügte über so manche Begabungen, aber einen Rohling - oder eben einen Mann von Stand mit äußerst schlechten Manieren - in die Schranken zu weisen, gehörte nicht dazu. Er war hochgewachsen, schlaksig und hatte lange Arme und Beine, die selbst für seine schlanke Statur viel zu dünn wirkten. Damit strahlte er nicht nur eine heitere Gelassenheit, sondern auch die Art jungenhaften Charme aus, der, wie ich oft habe beobachten können, fast unweigerlich das Wohlgefallen der jungen Damen erweckte. Und auch vor gestandenen Männern und Frauen machte diese Ausstrahlung nicht Halt, so dass es Elias, seiner einfachen Herkunft aus den Hochländern Schottlands zum Trotze, gelungen war, zu einem der angesehensten Ärzte Londons aufzusteigen. Er wurde gern gerufen, wenn in einer der gut situierten Familien der Stadt jemand zur Ader gelassen, eine Verwundung versorgt oder eine Reihe Zähne gezogen werden musste. Aber wie es bei vielen Menschen so ist, die andere für sich zu gewinnen wissen, machte Elias sich unweigerlich auch manch einen zum Feind.

Ich legte einen Schritt zu, um zu verhindern, dass Elias ein Leid geschah, aber ich hatte nicht vor, seinem Widersacher mit allzu drohender Gebärde gegenüberzutreten, denn ein Mann, der wie ich seinen Lebensunterhalt mit seinen Fäusten verdient hat, lernt unwillkürlich, dass andere Männer es nicht schätzen, wie schutzbedürftige Kinder behandelt zu werden. Trotzdem hoffte ich, dass meine Präsenz unüberlegte Gewaltanwendung zu verhindern helfen würde.

Da keine Kutschen unterwegs waren, sondern fast nur Fußgänger, hatte ich rasch die Straße überquert und stand gleich darauf an Elias' Seite.

»Noch einmal, Sir«, sagte er und vollführte eine tiefe Verbeugung, bei der ihm die Perücke in die Stirn rutschte, »ich hatte keine Kenntnis von Ihrer Bekanntschaft mit der Lady, und es tut mir außerordentlich leid, Ihnen Verdruss bereitet zu haben.«

»Es wird Ihnen gleich noch mehr leidtun«, polterte der andere, »denn Sie werden von mir Dresche beziehen, wie der Haderlump, der Sie sind, es verdient hat, und ich werde dafür sorgen, dass keine Lady und kein Gentleman in der Stadt noch einmal einen solch infamen Verführer wie Sie ins Haus lässt.«

»Darf ich mich nach dem Anlass des Disputs erkundigen?« Ich räusperte mich und trat einen Schritt vor, wobei ich mich zwischen die beiden hadernden Gentlemen stellte.

»Zum Teufel, ich weiß nicht, wer Sie sind, aber sollten Sie nichts mit der Sache zu tun haben, verschwinden Sie besser. Sind Sie aber ein Freund dieses Subjekts, halten Sie sich zurück, sonst werden Sie auch gleich meinen Zorn zu spüren bekommen.«

»Es handelt sich um ein schreckliches Missverständnis«, sagte Elias zu mir. »Ein verflixtes Missverständnis. Ich habe eine freundschaftliche Beziehung mit einer liebreizenden - und tugendhaften, wie ich hinzufügen darf, tadellos tugendhaften -jungen Dame anzuknüpfen versucht, die jedoch, wie sich herausstellte, mit jenem Gentleman hier verlobt ist. Darf ich dir Mr. Robert Chance vorstellen? Mr. Chance, darf ich Sie mit Mr. Benjamin Weaver bekannt machen?«

»Verdammt noch mal, Gordon, ich habe kein Interesse daran, Ihren Freunden vorgestellt zu werden.«

»Ach? Aber Ihnen ist vielleicht Mr. Weavers Name geläufig, denn er ist ein gefeierter Boxkämpfer - ausgesprochen versiert in der Kunst, mit seinen Fäusten zuzuschlagen, und man kann ihn bei Bedarf sogar in seine Dienste nehmen.« Ich mochte Skrupel gehabt haben, mich in die Sache einzumischen, aber Elias kannte keine solchen, wenn es darum ging, mich mit hineinzuziehen. »Auf jeden Fall«, fuhr er fort, »sind besagte junge Dame und ich eine freundschaftliche, aber rein tugend-hafte - ich glaube, das hatte ich bereits erwähnt - Liaison eingegangen. Wir haben lediglich philosophische Fragen, die aufgeweckte junge Damen interessieren könnten, erörtert. Man stelle sich nur vor - sie hat durchaus begriffen, worum es in Lockes Thesen zum Empirismus geht ...« Seine Stimme versiegte, da er vermutlich selber gemerkt hatte, wie absurd sein Erklärungsversuch war.

»Und diese philosophischen Erörterungen haben also dazu geführt, dass sie ihren Unterrock ausgezogen hat?«, verlangte Chance zu wissen.

»Wir sind auf eine Frage die Anatomie betreffend gestoßen«, sagte Elias mit kläglicher Stimme.

»Sir«, sagte ich. »Mr. Gordon hat sich bei Ihnen entschuldigt und erklärt, dass er in Unkenntnis der Sachlage gehandelt hat. Er ist ein Mann von untadeligem Rufe ...«

»Untadeligem Rufe als ein Schürzenjäger«, beendete Chance den Satz.

»Er genießt einen untadeligen Ruf als Ehrenmann, und er hätte sich nie auf eine Beziehung zu einer Dame eingelassen, die schon einem anderen versprochen war, wenn er von dieser Verlobung gewusst hätte.«

Dies war vielleicht der größte Unsinn, den ich je von mir gegeben hatte, aber wenn es meinen Freund vor ernsthaften Schwierigkeiten bewahrte, konnte ich derlei durchaus in dem Brustton der Überzeugung vorbringen.

»Und der Feigling weigert sich auch noch, sich zum Duell fordern zu lassen«, beschwerte Chance sich bei mir. »Also bleibt mir keine andere Wahl, als ihn zu verprügeln wie einen räudigen Hund.«

»Duelle habe ich nie geschätzt«, meldete Elias sich wieder zu Wort. »Möglicherweise könnte ich Ihnen meine ärztlichen Dienste als Kompensation anbieten?«

Obwohl Elias mein Freund ist, krümmte ich mich innerlich angesichts dieses Vorschlages. Chance wollte Elias gerade eine passende Antwort erteilen, als ein entferntes Rumpeln unseren Wortwechsel unterbrach. Augenblicklich lauschten wir alle diesem Geräusch, dessen Herkunft uns noch unklar war, wiewohl mehrere Passanten, die sich ein Stück weiter die Great Church Street hinunter auf den Gehsteig retteten, erschrocken aufschrien. Sekunden später sah man auch den ersten von mehreren Einspännern die Straße entlanggerast kommen.

Vereist, wie die Straßen waren - und dazu noch voller Fußgänger, Fahrzeuge und der gelegentlichen Viehherde -, boten sie kaum einen geeigneten Untergrund für ein Wagenrennen, und dennoch waren solche Rennen in jenem Jahr ausgesprochen in Mode, vermutlich, weil es ein besonders eiskalter Winter war und sich die Umstände eines derartigen Wettstreits entsprechend gefährlich gestalteten, was der zügellosen Vergnügungssucht der jungen, vermögenden Müßiggänger nur entgegenkam. Bis dahin hatte ich Kunde vom Tod von zehn unbeteiligten Londoner Bürgern und von einem der Kutscher, der bei diesem Treiben aufs Übelste verletzt worden war, doch da diese Gladiatoren in der Regel die Sprösslinge der besseren Familien unseres Königreiches darstellten, war wenig unternommen worden, um dem Wahnsinn Einhalt zu gebieten.

Elias und ich drückten uns instinktiv an die Hauswand, als das erste der Fahrzeuge an uns vorbeiraste, und so tat es auch Mr. Chance, gleichwohl in einigem Abstand von uns, damit wir ja nicht glaubten, wir wären mit einem Male Verbündete gegen einen gemeinsamen Widersacher geworden.

Ich konnte nicht anders - ich stieß eine Verwünschung aus angesichts dieses törichten Sports. Auf einer Landstraße mochte ein kleiner Wagen mit nur seinem Kutscher und gezogen von einem einzigen Pferd ein Wettrennen mit einem zweiten solchen veranstalten, ohne dass Unschuldige in Mitleidenschaft gezogen wurden, aber das änderte nichts daran, dass solche Kutschen einfach nicht für hohe Geschwindigkeiten gebaut waren. Der Kutscher stand ohne ein schützendes Dach über dem Kopf auf seinem Kutschbock, und die geringste Unebenheit konnte ihn ins Verderben stürzen. Als die rasende Phalanx, auf jedem Bock ein rotznäsiger kleiner Lord oder ein anderer hochmütiger Edelknabe, an uns vorüberpreschte, hatte ich Grund zu der bedauernden Annahme, dass diese Burschen vermutlich unbeschadet aus der Hatz hervorgehen würden.

Sowie der Spuk vorüber war, gab die Menge einen Seufzer der Erleichterung von sich, und man ging wieder seiner Wege. Aber es war noch nicht ganz ausgestanden, denn es gab noch einen Abenteuerlustigen, einen jungen Mann mit einer grün und schwarz gestrichenen Kutsche, der offenbar den Anschluss verpasst hatte und nun sein Pferd antrieb, um zum Rest der Meute aufzuschließen.

»Aus dem Wege, verdammt!«, brüllte er, als er in die nun wieder dicht bevölkerte Straße einschwenkte. Erneut hastete alles in den Schutz der Hauswände, aber ein kleiner Junge von höchstens fünf Jahren schien seine Mutter und die Orientierung verloren zu haben und stand dem heranrasenden Wagen mitten im Wege.

Man verfällt leicht auf die fälschliche Annahme, bei einem Mann, der einem auf offener Straße feindselig gegenübertritt, müsse es sich um einen Fiesling handeln, doch nun wurde ich Zeuge, wie Elias' Widersacher, Mr. Chance, der, wie ich allerdings hinzufügen muss, um nicht selber in den Verdacht der Feigheit zu geraten, von uns allen der Szene am nächsten stand, vorstürzte, ohne auch nur eine Sekunde lang das Risiko für sein eigen Leib und Leben zu erwägen, und den Jungen aus der Gefahrenzone riss. Mit dem Kind in den Armen vollführte er eine Drehung auf der Stelle und setzte es außer Reichweite des Wagens ab - so hätte man wenigstens glauben können, aber der Dummkopf von einem Fahrer hatte just in diesem Moment ein Ausweichmanöver zur falschen Straßenseite hin unternommen.

»Mach den Weg frei, du Teufel!«, schrie er Chance an, aber es schien ihm nicht in den Sinn zu kommen, sein Tempo zu verlangsamen, und so jagte er unmittelbar auf den Mann zu, der soeben gerade zum Retter eines unschuldigen Knaben geworden war.

Wiederum fuhr Chance herum, und es gelang ihm, den Hufen des Pferdes auszuweichen, doch wurde er nichtsdestotrotz zu Boden geschleudert und wollte sich zur Seite werfen, um sich vor dem Wagen in Sicherheit zu bringen, doch eines der Hinterräder überrollte seine beiden Beine. Der Kutscher wandte sich um, sah, was er angerichtet hatte, und trieb sein Pferd zu noch größerer Eile an. Die Zuschauer schrien empört auf und bewarfen den Wagen mit Dreckklumpen aus der Gosse, aber der war viel zu schnell, um sich von den Wurfgeschossen etwas anhaben zu lassen.

Aus Mr. Chances Kehle drang ein Schmerzensschrei, doch dann wurde er ganz still und blieb wie ein Häufchen Elend im Straßenschmutz liegen. Elias stürzte zu ihm hin und nahm zunächst sein Gesicht in Augenschein, um festzustellen, ob er noch lebte oder bei Bewusstsein war. Nachdem sich erstere Hoffnung erfüllte, Chance auf Ansprache aber nicht reagierte, machte Elias sich an die Untersuchung der Beine. Augenblicklich waren seine Hände voller Blut. Elias' Züge verdunkelten sich sorgenvoll.

»Ein Bein ist nur gequetscht«, stellte er fest. »Das zweite ist gebrochen.«

Ich nickte und versuchte dabei, nicht an die damit verbundenen Schmerzen zu denken, denn auch ich hatte einmal einen Beinbruch erlitten - eine Verletzung, die das Ende meiner Laufbahn als Preisboxer bedeutet hatte. Elias war es damals gewesen, der mich behandelte, und obwohl so mancher geglaubt hatte, man müsse mir das Bein abtrennen oder dass ich zumindest nie wieder würde gehen können, gelang es Elias, meine vollständige Genesung herbeizuführen. Ich bezweifelte, dass sein Gegner, selbst wenn er bei Bewusstsein wäre, sein Glück fassen könnte, sich in der Obhut eines solchen Arztes zu befinden.

»Hilf mir, ihn in ein Haus zu bringen«, rief er mir zu.

Gemeinsam trugen wir den Mann in ein Gasthaus und legten ihn dort auf einen langen Tisch. Alsdann gab Elias einem Straßenjungen eine Liste der Gegenstände, die er benötigte, und schickte ihn damit in die nächstgelegene Apotheke. Während der nun folgenden Zeit des zermürbenden Wartens erlangte der unglückliche Mr. Chance das Bewusstsein wieder und begann vor Schmerzen zu brüllen. Elias träufelte ihm kleine Schlucke Wein ein, und nach einigen Minuten brachte er ein paar Worte hervor.

»Gordon, Sie Hurensohn«, stöhnte er. »Wenn ich herausbekomme, dass Sie dahinterstecken, damit Sie sich nicht mit mir duellieren müssen, bringe ich Sie an den Galgen.«

»Ich gebe zu, dass ebendies mein Plan war«, antwortete Elias, »aber nun, da Sie mir dahintergekommen sind, werde ich mir wohl etwas anderes einfallen lassen müssen.«

Der Scherz schien Chance zu verwirren, und er sog gierig noch mehr Wein in sich hinein. »Retten Sie mein Bein«, sagte er, »und ich will Ihnen alles vergeben.«

»Sir«, sagte Elias, »mich hat solche Ehrfurcht erfasst angesichts Ihrer Tapferkeit bei der Rettung dieses Knaben, dass ich Ihnen verspreche, nach Ihrer Genesung Ihre Herausforderung anzunehmen, und sei es nur, um durch die Aussicht, mich mit Blei vollpumpen zu können, Ihre Genesung schneller herbeizuführen.«

Der Mann verlor erneut das Bewusstsein, und es war auch besser so für ihn, dachte ich. Kurz darauf kam der Junge mit den Sachen, die Elias bestellt hatte, zurück, und er machte sich daran, Chances Verletzung zu versorgen und dann seinen Heimtransport vorzubereiten. Ich werde im Verlaufe meiner Geschichte keine Gelegenheit finden, noch einmal auf Chance zurückzukommen, aber ich kann meiner neugierigen Leser-schaft versichern, dass er beinahe wieder vollständig genas und Elias danach eine Nachricht zukommen ließ, der Zwist zwischen ihnen sei seinem Empfinden nach beigelegt. Ich weiß nicht, ob es dazu gekommen wäre, hätte ich nicht meinem Freund ausgeredet, Mr. Chance eine Rechnung für die Behandlung und seine Auslagen zu schicken. In jedem Fall glaube ich, dass Elias bei diesem Handel letzten Endes besser abgeschnitten hat.

Nachdem alles erledigt war, suchten wir ein Bierlokal auf, damit Elias sich beruhigen und wieder zu Kräften kommen konnte. Der Kampf um das Bein des Mannes hatte ihn sehr angestrengt, und eine solche Anstrengung löste bei ihm immer ein mächtiges Verlangen nach Ess- und Trinkbarem aus. Da saß er nun über seinen Teller gebeugt, schmauste kaltes Fleisch mit gebuttertem Brot und redete zwischen den einzelnen Bissen vehement auf mich ein. »Eine komische Angewohnheit, findest du nicht? All diese Erregung wegen einer Frau. Oh, Sie haben meine Gattin geschändet. Oh, Sie haben meine Schwester geschändet. Oh, Sie haben meine Tochter geschändet. Kann man mich damit nicht in Ruhe lassen?«

»Vielleicht solltest du es dir zur Angewohnheit machen«, sagte ich, »ein wenig mehr Besonnenheit walten zu lassen, bevor du noch mehr Frauen schändest. Du magst es auf die leichte Schulter nehmen, aber die Männer, die damit leben müssen, dass du ihren Frauen den Hof machst, sehen das gründlich anders. Ich schätze, deine Gegenwart wirkt noch nach, nachdem du dich schon lange aus dem Staub gemacht hast.«

Er grinste. »Das will ich doch hoffen.«

»Du weißt genau, dass ich das so nicht gemeint habe. Du kannst doch nicht glauben, dass diese Frauen fröhlich in den Tag weiterleben, nachdem ihre Ehemänner oder ihre Brüder oder ihre Väter hinter ihr Liebesgeschäker gekommen sind. Hast du denn deswegen gar kein schlechtes Gewissen?«

»Ehrlich, Weaver, du beginnst mich zu langweilen. Es ist doch nicht so, als wüssten diese Frauen nicht, was sie tun. Wenn sie sich ein wenig die Zeit mit mir vertreiben wollen, warum soll ich sie dann dieses Vergnügens berauben?«

Es wäre ein Leichtes gewesen, ihm das auseinanderzusetzen, aber ebenso sinnlos. Elias konnte einer Frau einfach keinen Wunsch abschlagen, und wenn sie noch so schlicht oder unansehnlich war. Solange ich ihn kannte, hatte er sich in diesen Dingen nie Zurückhaltung auferlegt, und es wäre dumm von mir zu glauben, meine Vorhaltungen könnten daran etwas ändern.

Er sah mich an, als erwarte er eine Fortsetzung der Gardinenpredigt, doch als dies nicht eintrat, würgte er noch ein weiteres Stück Fleisch hinunter. »Nun, Weaver, du hattest mich wegen etwas sehen wollen. Dann sind wir leider ein wenig abgelenkt worden, aber wir können gerne auch jetzt noch darüber reden. Mir ist jede Zeit recht.« Er nahm einen Schluck Ale. »Ich nehme an, du bedarfst bei irgendeiner Ermittlung meiner Unterstützung. Die sollst du gerne haben, aber denke bitte daran, dass mein gesamtes Bargeld für die Verarztung von Chance draufgegangen ist. Zahle meine Zeche, und ich bin ganz Ohr.«

Auch ich verfügte nicht gerade über einen Überfluss an Mitteln, und ich trug es ihm ein wenig nach, dass er mit dieser Wahrheit erst herausrückte, nachdem er seine Mahlzeit bestellt hatte, aber ich war nicht zu einem Zank aufgelegt, also willigte ich ein.

»Kannst du mir denn zuhören, oder bist du noch zu aufgewühlt von den Ereignissen dieses Tages?«

»Weiß ich nicht«, sagte er. »Du solltest es besser spannend machen.«

»Oh, ich denke, an der nötigen Spannung soll es nicht hapern«, sagte ich und erzählte ihm die ganze Geschichte von meiner ersten Begegnung mit Cobb bis zu meinem jüngsten Besuch bei meinem Onkel. Während ich sprach, rührte Elias sein Essen nicht an. Stattdessen starrte er halb mich an, halb ins Leere.

»Hast du je von diesem Cobb gehört?«, fragte ich, nachdem ich geendet hatte.

Er schüttelte bedächtig den Kopf. »Niemals, und du wirst mir beipflichten, dass das merkwürdig ist. Ein Mann dieses Standes, mit so viel Geld - es erscheint mir unvorstellbar, dass ich noch nie von ihm gehört habe, denn er muss doch weitgehend bekannt sein, und ich kenne jeden, der weitgehend bekannt ist.«

»Dich scheint die Geschichte so umgehauen zu haben, dass du dein Essen ganz vergisst«, bemerkte ich. »Ich gebe ja zu, dass meine Geschichte sonderbar klingt, aber du hast doch bestimmt schon noch sonderbarere gehört. Was macht dich also so nachdenklich?«

Er schob seinen Teller beiseite. Offenbar hatte er einen noch nie da gewesenen Anfall von Appetitlosigkeit erlitten. »Wie du nur zu gut weißt, Weaver, bin ich kein Mann, der gerne seinen Verhältnissen entsprechend lebt. Deswegen hat Gott den Kredit erfunden - damit wir ihn uns nehmen. Und ich bin im Allgemeinen gut darin, meine Angelegenheiten zu regeln.«

Das stimmte im Großen und Ganzen - bis auf die paar Male, bei denen ich gerufen wurde, um ihn aus dem Haus eines Gerichtsvollziehers auszulösen, in das er als Schuldgefangener gebracht worden war, um sich mit seinen Gläubigern zu einigen. Trotzdem nickte ich zustimmend mit dem Kopf.

»Ich habe festgestellt, dass jemand während der letzten Tage versucht hat, meine Schulden aufzukaufen. Nicht alle meine Außenstände, aber doch einen beträchtlichen Teil davon. Soweit ich weiß, befinden sich inzwischen Wechsel über drei- bis vierhundert Pfund in ebendieser Hand. Ich habe mich gefragt, was derjenige damit will und warum er nicht mit mir in Verbindung tritt, aber nun glaube ich den Grund zu ahnen.«

»Cobb verfolgt meine Freunde, meine Angehörigen. Warum?

Du könntest mich nicht von meinen Schulden bei ihm befreien, also macht es keinen Sinn, deine Schulden aufzukaufen. Warum sollte er den Wunsch haben, dein Hauptgläubiger zu sein?«

Elias schien seinen Appetit wiedergefunden zu haben und zog seinen Teller zu sich heran. »Ich weiß es nicht«, sagte er und bearbeitete das Fleisch mit dem Messer. »Aber ich denke, es ist besser, wenn wir es herausfinden. Und zwar möglichst, bevor ich in den Schuldturm geworfen werde.«

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