20


Ich will meinen geneigten Lesern und mir selber die Schilderung der Szenen der Trauer ersparen, die ich durchmachen musste. Ich will nur so viel sagen, dass sich bei meinem Eintreffen beim Haus meines Onkels bereits viele Nachbarn dort eingefunden hatten und die mit ihr bekannten Frauen sich bemühten, meiner Tante so viel Trost zu spenden, wie es in solchen Augenblicken eben möglich war. Ja, mein Onkel war schwer krank und sein Ende abzusehen gewesen, aber ich begriff nun, dass meine Tante einfach nicht hatte glauben wollen, dass es doch so schnell gehen würde. Irgendwann, gewiss, und eher, als sie es für gerecht erachtete, aber doch noch nicht in diesem Jahr, und auch nicht in dem nächsten, und hoffentlich auch noch nicht in dem Jahr darauf. Und nun war ihr wunderbarer Freund, ihr Beschützer und Gefährte in allen Lebenslagen, der Vater ihres verlorenen Sohnes, auch für sie verloren. Ich habe manchmal an meiner Einsamkeit zu verzweifeln geglaubt, aber ich habe nie eine solche Einsamkeit gekannt, wie sie sie ohne ihren Ehemann empfinden musste.

Die Männer der Beerdigungsbruderschaft hatten den Leichnam meines Onkels bereits zur rituellen Reinigung abgeholt, um ihm danach das Totenkleid anzulegen. Einer von ihnen würde anschließend die Totenwache bei ihm halten. Es ist seit je Sitte bei uns, dass unsere Toten so rasch als möglich bestattet werden, am besten schon am nächsten Tag, und als ich mich erkundigte, erfuhr ich, dass von den Freunden meines Onkels, zu denen auch Mr. Franco gehörte, bereits die Vorbereitungen dazu getroffen worden waren. Von einem Angehörigen des Ma'amad, des Ältestenrates der Synagoge, erfuhren wir, dass die Beerdigung am folgenden Vormittag um elf stattfinden sollte.

Ich sandte Ellershaw eine Nachricht, dass ich noch einen weiteren Tag nicht ins Craven House käme, und legte ihm den Grund dar. Da ich Edgars Warnung noch im Ohr hatte, informierte ich auch Cobb. Ich schrieb ihm, ich hätte die nächsten zwei Tage keine Zeit, und da ich davon ausging, dass sein Handeln zum verfrühten Tod meines Onkels beigetragen hatte, riet ich ihm, mich ja in Ruhe zu lassen.

Irgendwie ging der lange Abend vorüber. Die letzten Besucher waren gegangen, und ich blieb gemeinsam mit den engsten Freundinnen meiner Tante im Totenhaus. Ich bat auch Mr. Franco zu bleiben, doch er lehnte ab, weil er, wie er sagte, noch nicht lange genug mit der Familie befreundet sei und sich nicht aufdrängen wolle.

Wie es bei uns Juden Brauch ist, richteten die Nachbarn am nächsten Morgen ein Stärkungsmahl, aber meine Tante aß nur wenig und beschränkte sich auf einen Schluck verdünnten Wein zu einem Stück Brot. Danach halfen ihre Freundinnen ihr, sich anzuziehen. Schließlich begaben wir uns alle gemeinsam zur Bevis Marks Synagoge, jenem mächtigen Mahnmal für die Bemühungen portugiesischer Juden, in London eine wahre neue Heimat zu finden.

In all ihrer grenzenlosen Hoffnungslosigkeit glaube ich doch, dass es ein kleiner Trost für meine Tante gewesen ist, als sie sah, wie viele Trauergäste sich eingefunden hatten. Mein Onkel hatte innerhalb der jüdischen Gemeinde viele Freunde, und es waren auch einige Aschkenasim und sogar ein paar englische Kaufleute zugegen. Wenn es etwas gibt, was ich am christlichen Glauben hoch schätze, dann die Sitte, dass Männer und Frauen beim Gottesdienst nicht getrennt sitzen. Nie habe ich die Trennung der Geschlechter mehr bedauert als an jenem Tag, denn ich wollte so gerne bei meiner Tante bleiben und sie trösten. Aber vielleicht empfand ich auch so, weil ich selber eines Trostes bedurfte. Sie saß ja wenigstens im Kreise ihrer Freundinnen, die sie, wie ich zugeben muss, viel besser kannten als ich und schon die richtigen Worte für sie finden würden. Für mich war sie stets eine stille, freundliche Lady gewesen, in meinen Kindertagen immer rasch mit einer Süßigkeit oder einem Stück Gebäck zur Hand und später, als ich erwachsen war, mit einem guten Wort. Ihre Freundinnen wussten, was sie tief in ihrem Herzen hören wollte, während ich, der ich noch viel zu betäubt war, bestimmt um die passenden Worte verlegen sein würde.

Aber auch ich hatte Freunde, die mich trösteten. Seit meiner Rückkehr in das Viertel um den Duke's Place war ich hier stets willkommen gewesen und saß nun inmitten vieler Menschen, die mir mit ihren Segenswünschen Trost spendeten. Auch Elias war an meiner Seite. Wohl aus Stolz hatte ich ihn nicht vom Tod meines Onkels unterrichtet, denke ich, weil ich nicht wollte, dass er mich in meiner Trauer sah, aber mein Onkel war ein bekannter Mann in der Stadt gewesen, und so war die Neuigkeit rasch auch zu ihm gedrungen. Ich muss sagen, dass es mich überraschte, wie gut er mit unseren Traditionen vertraut war, denn er hatte keine Blumen mitgebracht, wie es bei einer christlichen Trauerfeier üblich gewesen wäre. Stattdessen sprach er mit dem Rabbi über eine Zuwendung im Namen meines Onkels für einen wohltätigen Zweck.

Es war kalt an diesem Tag, Frost lag in der Luft, und dunkle Wolken hingen am Himmel, aber es war überraschend windstill. Weder regnete noch schneite es, und als wir vor dem Grab standen, fand ich, dass das Wetter irgendwie zu dem Anlass passte - es war düster und streng, aber wir empfanden es nicht wie ein Gottesgericht. Es begleitete unseren Kummer, ohne uns von ihm abzulenken.

Nachdem die Abschiedsgebete gesprochen waren, warfen wir jeder eine Schaufel voll Erde auf den schlichten Holzsarg. In dieser Hinsicht gehen die Juden meiner Meinung nach viel vernünftiger mit ihren Toten um als die Christen. Ich verstehe nicht, warum darauf bestanden wird, dass diese festlich gekleidet und in reich geschmückten Särgen bestattet werden - oder sollten die Christen etwa demselben Aberglauben anhängen wie die altägyptischen Könige? Für mich ist ein Leichnam eine Hülle ohne Leben darin. Man sollte doch eher der heimgegangenen Seele gedenken anstatt der fleischlichen Überreste, die zurückbleiben, und solch ein protziges Gepränge ist ein Zeichen irdischer Eitelkeit und nicht der Hoffnung auf Erlösung im Himmel.

Nach der Beerdigung gingen wir gemessenen Schrittes zurück zum Haus meiner Tante, wo für uns nun die traditionelle zehntägige Trauerwoche beginnen sollte. Während dieser Zeit verlassen die Hinterbliebenen nicht das Haus, erhalten aber tagsüber Besuch von Freunden und Gemeindemitgliedern, die auch Speis und Trank mitbringen, damit es den Trauernden an nichts fehlt und sie sich stets in der Gemeinschaft aufgehoben wissen. Es machte mir sehr zu schaffen, dass ich mich nicht daran halten konnte, weil ich unmöglich über eine Woche dem Craven House fernbleiben durfte. Am letzten Tag der Trauerphase sollte die Versammlung der Anteilseigner stattfinden, und wenn ich Ellershaw unterstützen sollte, was ja schließlich meine Aufgabe war, konnte ich mich nicht einfach zurückziehen, ohne damit Elias und Mr. Franco in Gefahr zu bringen. Cobb würde mir vielleicht einen oder zwei Tage gewähren, aber ich wusste, dass es seine Menschenfreundlichkeit überstrapazieren würde, wenn ich mehr verlangte.

Wie ich nun inmitten meiner Freunde und der anderen Trauergäste einherging, spürte ich plötzlich eine Hand auf meiner Schulter. Als ich mich umwandte, sah ich Celia Glade neben mir. Ich gebe zu, dass mein Herz einen Freudensprung machte und ich für einen wundervollen, vergänglichen Augenblick all meinen Kummer vergaß und nur schieres Glück angesichts ihrer Gegenwart empfand. Und obwohl dieser Kummer bald wieder mein Herz umfassen würde, durfte ich mir gestatten, einen Moment lang alles zu vergessen, was diese Dame an Rätseln aufwarf - dass ich nicht wusste, wer sie wirklich war, ob es sich bei ihr um eine Jüdin handelte, wie sie behauptete, ob sie in Diensten der französischen Krone stand, was sie von mir wollte. Einen Augenblick lang nur gestattete ich mir, all diese Fragen als Lappalien zu betrachten. Ich gestattete mir zu glauben, dass ihr etwas an mir läge.

Ich trat einen Schritt zur Seite, stellte mich unter einen Torbogen, und sie tat es mir nach, die Hand immer noch an meinem Arm. Mehrere der Trauergäste betrachteten uns neugierig, also schlüpfte ich in eine schmale Gasse, die zu einem Hof führte, wo wir, wie ich wusste, ungestört sein würden, und sie folgte mir.

»Was tun Sie denn hier?«, fragte ich.

Sie trug Schwarz; die Farbe betonte ihr dunkles Haar, ihre dunklen Augen und ihre helle Haut äußerst vorteilhaft. Nach der Beerdigung war ein leichter Wind aufgekommen, der Haarsträhnen unter ihrer dunklen Haube hervorblies. »Ich habe das mit Ihrem Onkel gehört. Unter uns Juden gibt es keine Geheimnisse, wie Sie ja wissen. Ich bin nur gekommen, um Ihnen mein Beileid auszudrücken. Ich weiß, dass Sie und Ihr Onkel sich sehr nahestanden, und ich kann Ihnen Ihren Kummer nachfühlen.«

»Erstaunlich, dass Sie meine Gefühle für ihn kennen, wo wir doch nie darüber gesprochen haben.« Meine Stimme klang ruhig und gleichmäßig. Ich wusste nicht, warum ich mich darauf einließ - außer, dass ich mir so sehr jemanden wünschte, dem ich vertrauen konnte und daher nur zu gerne sämtliche Zweifel über Bord geworfen hätte.

Sie biss sich auf die Lippe, fing sich wieder und schloss für einen kurzen Moment die Augen. »Wissen Sie denn nicht, dass Sie so etwas wie eine Gestalt des öffentlichen Lebens unter den Juden sind, Mr. Weaver? Unter den Engländern übrigens auch. Die Zeitungen schreiben gerne über Sie und Ihre Verwandten. Ich kann es Ihnen nicht verdenken, wenn Sie mir eine finstere Absicht unterstellen, aber ich wünschte, Sie täten es nicht.«

»Und warum soll ich es nicht tun?«, fragte ich, schon wieder ein wenig versöhnt.

Einen Augenblick lang nahm sie mich beim Arm, aber dann fand sie es wohl in Anbetracht der Umstände unschicklich. »Ich wünsche es mir, weil -« Sie schüttelte leicht den Kopf. »Weil ich es mir wünsche. Besser kann ich es nicht ausdrücken.«

»Miss Glade«, sagte ich. »Celia. Ich weiß nicht, wer du bist. Ich weiß nicht, was du von mir willst.«

»Halt«, sagte sie mit so sanfter Stimme wie eine Mutter, die ihren Säugling beruhigen möchte. Sie führte zwei Finger an meine Lippen und strich zärtlich darüber. »Ich bin deine Freundin. Das weißt du. Der Rest sind unwichtige Kleinigkeiten, die sich nach und nach klären werden. Alles zu seiner Zeit. Für den Augenblick weißt du, was zählt. Du kennst die Wahrheit in deinem Herzen. Folge ihm.«

»Ich möchte aber ...«, hob ich an, doch sie unterbrach mich erneut.

»Nein. Wir sprechen später darüber. Dein Onkel ist gestorben, und du musst jetzt trauern. Ich bin nicht hergekommen, um dich zu etwas zu zwingen oder dir Fragen zu stellen oder mir von dir dein Herz ausschütten zu lassen. Ich bin nur aus Achtung vor einem Mann hier, den ich nie kennengelernt, von dem ich aber große Dinge gehört habe. Nein, ich bin gekommen, um dir meine Hilfe anzubieten und dir zu sagen, dass auch du einen Platz in meinem Herzen hast. Mehr kann ich nicht tun, und ich kann nur hoffen, dass es genug sein wird und auch nicht zu viel. Nun überlasse ich dich deiner Familie und deinen portugiesischen Freunden. Wenn du mir noch etwas sagen möchtest, findest du mich in der Küche des Craven House.«

Ihre Lippen verzogen sich zu einem schelmischen Lächeln. Sie beugte sich vor und gab mir einen zarten, flüchtigen Kuss auf die meinen.

Während unseres Gesprächs war die Sonne durch eine kleine Wolkenlücke gedrungen und beschien genau den Punkt, an dem die Gasse in den Hof mündete. Und da zeichnete sich plötzlich wie eine Silhouette gegen das Sonnenlicht die Gestalt einer Frau ab - sie war hochgewachsen und von anmutiger Figur; ihr schwarzes Kleid wehte in dem auffrischenden Wind, und das Haar flatterte ihr unter der Haube hervor.

»Es tut mir leid, dass ich störe«, sagte sie, »aber ich sah dich in die Gasse gehen, doch nicht, dass du nicht allein warst.«

Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber die Stimme erkannte ich sofort. Es war die Witwe meines Cousins, vormals die Schwiegertochter meines Onkels, die Frau, die ich hatte heiraten wollen. Es war Miriam, eine Frau, die nicht einen, sondern mehrere andere Männer mir vorgezogen hatte. Sie hatte meine Anträge häufiger abgelehnt, als ich zählen konnte. Und doch war mir in diesem Moment, als müsse ich etwas zu ihr sagen, erklären, was ich hier mit Celia Glade tat, mich ihr gegenüber rechtfertigen, eine überzeugende Geschichte erfinden. Dann jedoch besann ich mich wieder. Ich schuldete ihr keine Erklärung.

Aber etwas schuldete ich ihr doch, denn sie hatte geschworen, nie wieder ein Wort mit mir zu wechseln. Und doch war sie mir gefolgt. Miriam hatte gemeint, sie wäre nicht dafür geschaffen, die Ehefrau eines Privatermittlers zu sein; sie hatte stattdessen einen Parlamentarier namens Griffin Melbury gewählt und war zur Kirche von England übergetreten. Leider hatte Melbury sich mehr als nur ein wenig in den Skandal um die jüngste Unterhauswahl verstricken lassen, und obgleich ich ursprünglich geneigt war, ihn zähneknirschend als einen ihr würdigen Ehemann zu akzeptieren, war sein wahrer, flatterhafter Charakter dann doch zum Vorschein gekommen, auch wenn seine Gattin es vorzog, die Augen davor zu verschließen. Miriam machte mich verantwortlich für den Ruin und den Tod ihres Mannes, und obwohl ich Verantwortung weder zu übernehmen noch in Bausch und Bogen abzulehnen pflege, wusste sie sehr wohl, dass ich ihn nicht schätzte und kein Mitleid mit ihm empfand.

Und nun stellte sich heraus, dass Celia Glade die nützlichste Person war, die man in solch verlegenen Momenten an seiner Seite haben konnte, denn sie ließ sich scheinbar durch nichts beirren. Sie trat vor und nahm Miriams Hand. »Mrs. Melbury«, begrüßte sie sie. »Ich habe ja schon so viel von Ihnen gehört. Ich bin Celia Glade.«

Was, hätte ich gerne gefragt, hatte sie denn von Miriam gehört? Im Gegensatz zu meinem Onkel war ihr Name nie in den Zeitungen gewesen. Celia mochte mir gesagt haben, ich solle meinem Herzen folgen, doch dazu musste ich ihr vertrauen können. Sie aber wusste zu viel über mich.

Miriam erwiderte flüchtig Celias Händedruck und machte sogar einen kleinen Knicks. »Es ist mir eine Freude«, sagte sie. Dann wandte sie sich mir zu. »Ich kann nicht mit ins Haus. Ich wollte dir nur mein Beileid zu deinem Verlust ausdrücken. Zu unserem Verlust. Ich war nicht immer in allen Dingen mit deinem Onkel einer Meinung, aber ich habe stets gewusst, dass er ein guter Mensch war, und ich werde ihn vermissen. Die ganze Welt wird ihn vermissen.«

»Es ist schön, dass du das sagst.«

»Es ist nur die reine Wahrheit.«

»Und nun wird wohl wieder Schweigen zwischen uns herrschen.« Ich versuchte, es leicht hingesagt klingen zu lassen.

»Benjamin, ich ...« Aber was immer sie hatte sagen wollen, sie überlegte es sich anders. Stattdessen schluckte sie schwer, als müsse sie die unausgesprochenen Worte hinunterwürgen. »Das genau werde ich tun«, sagte sie und wandte sich ab.

Ich blieb stehen, sah ihr nach, betrachtete die Stelle, an der sie gestanden hatte, versuchte, wie Celia es mir geraten hatte, meinem Herzen zu folgen. Liebte ich sie immer noch? Hatte ich sie je geliebt? In solchen Augenblicken beginnt man, über die Liebe nachzudenken, ob es sie wirklich gibt oder ob sie nur eine Illusion ist, auf die man sich einlässt, ein Wunschtraum, aus Selbstgefälligkeit entstanden, ein Gemütszustand, den man kurzlebigen, unbeständigen Gefühlsregungen zuschreibt. Aber solch müßige Gedanken führen nie zu einem klaren Schluss, sondern nur zu noch mehr Verwirrung.

Celia schüttelte den Kopf, als erwöge sie etwas von größter Wichtigkeit, als wälze sie es in ihrem Kopf hin und her, fasse in Gedanken alles noch einmal zusammen, bevor sie es aussprach. »Ich glaube, der Winter hat ihre Haut angegriffen. Findest du nicht auch?« Klugerweise wandte auch sie sich ab, anstatt die Antwort abzuwarten.

Im Haus floss der Wein in Strömen, und die Trauergäste bedienten sich nach Herzenslust, wie es in unserer Gemeinde nach Beerdigungen schon immer üblich gewesen ist. Ich schüttelte mehr Hände und nahm mehr Beileidsbekundungen entgegen, als ich zählen konnte, hörte mir zahllose Geschichten über die Herzensgüte meines Onkels an, seine Wohltätigkeit, sein Geschick in Geschäften, seinen Einfallsreichtum, sein fröhliches Gemüt.

Schließlich nahm mich Mr. Franco beiseite und führte mich in eine Ecke, in der Elias schon auf mich wartete. »Morgen müssen Sie Ihren Schmerz vergessen und wieder ins Craven House gehen.«

»Hör auf ihn«, sagte Elias. »Wir haben uns darüber unterhalten. Keiner von uns möchte so scheinen, als handele er aus Eigennutz. Mir persönlich wäre es eine Freude, wenn du diesem

Cobb sagst, er solle sich zum Teufel scheren. Ich habe schon mal wegen Schulden im Gefängnis gesessen, und ein weiteres Mal wird mich auch nicht umbringen, aber ich glaube, die Sache läuft langsam aus dem Ruder. Es ist nun schweres, unverzeihliches Leid angerichtet worden, und wenn du Cobb die Stirn bietest, verschaffst du dir vielleicht Befriedigung, aber deinen Onkel hast du damit nicht gerächt.«

»Sie können nur zurückschlagen«, sagte Mr. Franco, »wenn Sie herausbekommen, was er will, und zwar, indem Sie der Spur folgen, die er für Sie auslegt, ihn glauben lassen, er stünde kurz von dem Erreichen seiner Ziele, und ihn dann ins Verderben rennen zu lassen. Wie Mr. Gordon ginge auch ich frohen Herzens ins Gefängnis, wenn ich glaubte, damit etwas Gutes zu erreichen, aber das würde nur eine Verzögerung bedeuten, bis Cobb seine Ziele doch noch erreicht, und ihn nicht nachhaltig treffen.«

Ich nickte. Nur zu gerne würde ich Cobb die Meinung sagen, ihn verprügeln, ihm ein Messer in den Rücken stoßen, aber meine Freunde hatten den dichten Nebel meiner Wut durchblickt und waren ihm an den Kern gedrungen. Ich musste Cobb büßen lassen, aber das konnte ich nur, indem ich herausfand, was er eigentlich beabsichtigte.

»Ich werde mich Ihrer Tante stets zur Verfügung halten«, versprach Mr. Franco. »Ich lebe im Ruhestand und habe keine anderen Verpflichtungen. Ich werde dafür sorgen, dass es ihr an nichts fehlt, Mr. Weaver. Zudem hat sie mindestens ein Dutzend Freunde, Menschen, die von alledem nichts wissen und sich liebevoll um sie kümmern werden. Sie mögen den Wunsch haben, bei ihr zu bleiben, aber es wird nicht nötig sein.«

»Ich weiß, dass Sie recht haben«, sagte ich, »und ich würde ja auch gerne Ihrem Rat folgen, aber ich fürchte, damit die Gefühle meiner Tante zu verletzen. Was muss sie nur denken, wenn ich sie in der Stunde der Not allein lasse?«

Die beiden sahen einander an. Dann ergriff noch einmal Mr.

Franco das Wort. »Sie sollten wissen, dass wir ganz nach dem Wunsch Ihrer Tante handeln. Sie ist auf mich zugekommen und hat mich gebeten, dass ich Ihnen das sage. Streben Sie nicht unseretwegen nach Vergeltung, sondern weil die trauernde Witwe Sie darum bittet.«

Es war schon fast Mitternacht, als ich aufbrach. Ein paar Freundinnen meiner Tante hatten sich bereiterklärt, über Nacht bei ihr zu bleiben, obwohl sie ihnen versichert hatte, dass dies nicht nötig sei. Es war Zeit, sagte sie, sich an das Alleinsein zu gewöhnen, denn damit würde sie den Rest ihres Lebens verbringen.

Bis auf besagte Freundinnen war ich der Letzte, der noch im Haus weilte, also erhob ich mich endlich, gab meiner Tante einen Kuss und nahm meinen Mantel. Sie begleitete mich noch zur Tür, und obwohl ihr Gesicht eingefallen war und ihre Augen von Tränen gerötet, entdeckte ich darin eine Entschlossenheit, die ich noch nie an ihr gesehen hatte.

»Fürs Erste führt Joseph die Geschäfte weiter«, sagte sie. »Fürs Erste.«

Ich fürchtete, nur zu gut verstanden zu haben, worauf sie hinauswollte. »Liebe Tante, ich bin für diese Aufgabe nicht .«

Sie schüttelte den Kopf und versuchte, so zu tun, als würde sie lächeln. »Nein, Benjamin. Ich bin nicht dein Onkel, der etwas von dir verlangt, was nicht in deiner Natur liegt, der bei aller Liebe etwas aus dir machen wollte, was du nicht bist. Ich liebe dich, und ich werde dich nicht darum bitten. Joseph übernimmt die Geschäfte während meiner Zeit der Trauer. Danach führe ich sie allein weiter.«

»Du?« Ich hatte es unnötig laut ausgesprochen, aber ich konnte mich vor Schreck nicht zurückhalten.

Meine Tante lächelte noch einmal milde. »Du bist ihm ja so ähnlich. Wenn wir darüber gesprochen haben, was sein würde, wenn er eines Tages nicht mehr da ist, hat er immer von dir und von Joseph und von Jose gesprochen. Ich stand nie zur Debatte. Aber ich stamme aus Amsterdam, Benjamin. Dort gibt es so manche Geschäftsfrauen.«

»Holländerinnen«, wandte ich ein. »Jüdische Geschäftsfrauen gibt es nicht.«

»Nein, aber dies ist ein anderes Land, eine andere Zeit. Für Miguel und die ganze Welt und auch für dich bin ich fast unsichtbar gewesen, weil ich eine Frau bin. Aber nun ist Miguel nicht mehr da, und niemand kann dir mehr den Blick auf mich verstellen. Vielleicht entdeckst du ja, dass ich ganz anders bin als das, wofür du mich dein ganzes Leben lang gehalten hast.«

Ich erwiderte ihr Lächeln. »Kann sein.«

»Haben Mr. Franco und Mr. Gordon mit dir gesprochen?«

»Ja, das haben sie.«

»Gut.« Sie nickte ernst, als führe sie in ihrem Kopf einen Gedanken zu Ende. »Wirst du es schaffen? Wirst du zurück zu diesem Cobb gehen und tun, was er verlangt, bis du hinter seinen Plan gekommen bist?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob ich das schaffe. Ich weiß nicht, ob ich mich in meiner Wut beherrschen kann.«

»Das musst du aber«, sagte sie leise. »Es hilft dir nicht weiter, wenn du ihm etwas antust. Du musst deine Wut in eine Kammer deines Herzens sperren, die du fest verschlossen hältst.«

»Und sie dann öffnen, wenn die Zeit dafür gekommen ist.«

»Richtig. Aber erst, wenn die Zeit dafür gekommen ist.« Sie gab mir einen Kuss auf die Wange. »Du bist mir heute ein guter Neffe gewesen - mir und Miguel. Morgen aber brauchst du all deine Tapferkeit. Dieser Ambrose Cobb hat deinen Onkel auf dem Gewissen. Ich wünsche, dass du ihn dafür in sein Grab treibst.«

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