12


Bevor ich mich für meine Einladung zum Abendessen umzog, begab ich mich zunächst noch zum Haus meines Onkels am Broad Court. Seit ich mich in die Gegebenheiten des Cra-ven House vertiefte, hatte ich meine Pflichten als Neffe arg vernachlässigt - teils, weil ich mir auf keinen Fall Cobbs Zorn zuziehen wollte, teils, weil ich einfach zu beschäftigt gewesen war. Dies waren die Erklärungen, die ich mir einredete, aber es steckte noch mehr dahinter, um ehrlich zu sein. Ich mied meinen Onkel, weil er mir als ein lebender Beweis dafür erschien, wie unvollkommen ich meine Angelegenheiten im Griff hatte. Seinen sich verschlimmernden Gesundheitszustand konnte mir niemand in die Schuhe schieben, wohl aber die rückläufige Entwicklung seiner finanziellen Verhältnisse - den Schuh musste ich mir wohl oder übel anziehen. Zu sagen, dass ich mich ihm gegenüber schuldig fühlte, wäre übertrieben, denn ich wusste schließlich, dass ich nichts getan hatte, um eine solche Entwicklung herbeizuführen; nichtsdestotrotz begriff ich, dass ich dafür die Verantwortung trug - wenn nicht für die Ursache seiner Probleme, dann doch dafür, dass diese aus der Welt geschafft wurden. Wenn es mir bis jetzt auch noch nicht gelungen war, meinem Onkel zu helfen, bestärkte mich dies nur in meinem Willen, die Suche nach einer Lösung voranzutreiben.

Bei meinem Eintreffen musste ich feststellen, dass die Dinge schlimmer standen, als ich befürchtet hatte. Im Schutze der Abenddämmerung trugen ein paar zwielichtige Gestalten eine Kommode aus dem Haus meines Onkels. Auf der Straße stand ein von zwei zottigen Pferden, die selber schon aussahen, als wären sie halb tot vor Hunger und Schinderei, gezogener Wagen, auf dem sich bereits mehrere Stühle und zwei Tische befanden. Eine Gruppe Passanten hatte sich eingefunden, um dem traurigen Spektakel zuzuschauen. Gefolgt wurden die Lastenträger von Mr. Franco, der sie anherrschte, ja vorsichtig zu sein und mit den Möbeln nicht gegen die Türrahmen zu stoßen, während er sie mit üblen Schimpfwörtern belegte.

»Was ist hier los?« Ich eilte hinzu und legte Mr. Franco eine Hand auf die Schulter.

Er schien mich nicht kommen gehört zu haben, denn er fuhr auf der Stelle wütend herum, und wenn es noch ein wenig dunkler gewesen wäre, würde er vermutlich die Faust gegen mich erhoben haben, um erst hinterher festzustellen, wem sein Hieb gegolten hatte.

Nun aber hielt er bei meinem Anblick inne und schien plötzlich am ganzen Körper zu erschlaffen. Er schüttelte den Kopf und senkte den Blick zu Boden. »Gläubiger, Mr. Weaver. Sie haben Blut geleckt. Ich fürchte, es wird nicht lange dauern, bis sie wie die Aasgeier über Ihren Onkel herfallen. Und sie hätten zu keinem ungünstigeren Zeitpunkt kommen können, denn Ihr Onkel - nun, es geht ihm sehr schlecht.«

Ich wollte sogleich ins Haus stürzen, wobei ich einen Burschen übersah, der sich gerade bemühte, einen Sessel, der viel zu groß war, als dass ein einzelner Mann ihn hätte tragen können, hinauszuwuchten. Ich stieß ihn ziemlich heftig an, empfand aber keinerlei Belustigung bei seinem verzweifelten Versuch, nicht mitsamt dem Möbel aufs Pflaster zu stürzen.

In den vorderen Räumen brannten überall Kerzen - zweifellos, um den Trägern Licht zu schaffen. Ich hetzte die Treppe hinauf in die obere Etage, wo sich das Schlafzimmer meines

Onkels befand. Die Tür stand einen Spalt breit offen, also klopfte ich und hörte, wie meine Tante Sophia mich aufforderte, einzutreten.

Mein Onkel lag tatsächlich im Bett, doch wenn dies nicht sein Haus gewesen wäre, hätte ich ihn kaum erkannt. Seit ich ihn zuletzt gesehen hatte, schien er um zehn Jahre oder mehr gealtert zu sein. In seinen Bartwuchs mischten sich graue Strähnen, die vorher nicht da gewesen waren, und das Haar auf seinem unbedeckten Kopf war ganz dünn und brüchig geworden. Er hatte schwere Säcke unter seinen rot unterlaufenen, tief liegenden Augen, und mir entging nicht, dass jeder Atemzug ihm Anstrengung abverlangte.

»Habt ihr schon nach dem Arzt geschickt?«, verlangte ich zu wissen.

Meine Tante, die auf der Bettkante saß und die Hand meines Onkels hielt, nickte. »Er ist hiergewesen«, sagte sie mit ihrem starken Akzent.

Mehr war nicht aus ihr herauszubekommen, also nahm ich an, dass es auch nicht viel mehr zu sagen gab. Vielleicht brachte ihn mein Onkel zur Verzweiflung, vielleicht wusste sich der Arzt keinen Rat mehr mit ihm. Da meine Tante nichts über eine Aussicht auf Besserung äußerte, musste ich davon ausgehen, dass es keine solche gab.

Ich setzte mich auf die gegenüberliegende Bettkante. »Wie geht es dir, Onkel?«

Mein Onkel bemühte sich um ein schwaches Lächeln. »Nicht besonders gut«, sagte er. Aus seiner Brust drang ein rasselndes Geräusch, und seine Stimme klang angestrengt. »Allerdings bin ich diesen Weg schon einmal gegangen, und obwohl er dunkel und gewunden ist, habe ich doch zurückgefunden.«

Ich blickte meine Tante an, die mir fast unmerklich zunickte, also wolle sie damit sagen, dass er früher schon solche Schwächeanfälle gehabt hatte, wenn auch nicht ganz so ernst.

»Es tut mir so schrecklich leid, dass alles so hat kommen müs-sen«, sagte ich vage. War ihm überhaupt bewusst, was unten vor sich ging?

»Ach das«, quälte mein Onkel hervor, »spielt keine Rolle. Ein kleiner Rückschlag. Schon bald ist alles wieder gut.«

»Ganz gewiss«, pflichtete ich ihm bei.

In der Tür stand Mr. Franco. Er sah aus, als habe er etwas Dringendes mit mir zu bereden. Ich entschuldigte mich und verließ den Raum.

»Die Männer sind weg«, sagte er. »Sie haben mehrere Möbelstücke mitgenommen, aber ich fürchte, dass es damit nicht sein Bewenden haben wird. Wenn sich das erst herumspricht, werden die Gläubiger keine Gnade mehr kennen. Ihr Onkel, Sir, wird sein Haus verlieren, gezwungen sein, seinen Weinimport zu verkaufen, und das zu einem sehr wohlfeilen Preis bei der derzeitigen Geschäftslage.«

Ich fühlte, wie mein Gesicht heiß wurde. »Verdammt sollen sie sein.«

»Ich bin mir sicher, dass Sie tun, was Sie können. Und Ihr Onkel und Ihre Tante wissen das auch.«

»Heute Abend soll ich zu diesem verfluchten Essen, aber wie kann ich gehen, wenn mein Onkel so darniederliegt?«

»Wenn es sein muss, muss es sein«, sagte Franco. »Mit wem essen Sie denn?«

»Mit Mr. Ellershaw und noch ein paar Männern von der East India Company. Ich weiß kaum mehr. Ich muss Ellershaw eine Absage zukommen lassen. Cobb kann nicht von mir erwarten, dass ich nach seiner Pfeife tanze, während mein Onkel so schwer krank ist.«

»Sagen Sie nicht ab«, ermahnte mich Franco. »Wenn eine Teilnahme an diesem Abendessen Sie Ihrem Ziel auch nur einen Schritt näher bringt, bin ich sicher, dass Ihr Onkel es vorzieht, dass Sie die Einladung annehmen, anstatt den ganzen Abend mit kummervollem Gesicht an seiner Seite zu verbringen. Nein, Sie müssen die Kraft finden, Ihren Verpflichtungen nachzukommen. Ihre Tante und ich werden dafür sorgen, dass es Ihrem Onkel an nichts fehlt.«

»Was hat sein Arzt gesagt?«

»Nur, dass er, wie in der Vergangenheit, wieder auf die Füße kommt oder sein Zustand sich verschlechtert. Er meint, dieser Anfall sei schlimmer als alle bisherigen, aber was das genau bedeute, wisse er auch nicht.«

Wir unterhielten uns noch ein paar Minuten lang im Flüsterton. Ich versuchte, Mr. Franco darüber ins Bild zu setzen, was sich während der vergangenen Tage im Craven House zugetragen hatte, fasste mich dabei aber kurz, denn ich wollte zurück zu meinem Onkel, und außerdem hatte ich mich noch nicht ganz von der Erkenntnis erholt, dass selbst meine intimsten Unterredungen für Cobb kein Geheimnis blieben. Ich beschränkte mich also darauf zu erklären, dass ich mich auf Cobbs Geheiß bei der East India Company hatte anstellen lassen, wo ich Kenntnis von einigen internen Zwistigkeiten erlangen konnte. Allerdings, fügte ich hinzu, ob mir dies zum Vorteil gereichen würde, wüsste ich nicht, da Cobbs Pläne mit mir nach wie vor undurchsichtig blieben. Während unseres Gesprächs erschien meine Tante in der Tür zum Schlafzimmer meines Onkels. Sie wirkte ein wenig erleichtert. »Es geht ihm besser«, sagte sie.

Tatsächlich schien sich sein Zustand innerhalb der letzten halben Stunde gebessert zu haben. Obwohl er immer noch Schwierigkeiten beim Luftholen hatte, war die Farbe in sein Gesicht zurückgekehrt. Als er sich aufsetzte, wirkte er längst nicht mehr so, als stünde er an der Schwelle des Todes.

»Ich freue mich, dich so zu sehen«, sagte ich.

»Ja, es scheint aufwärts zu gehen. Sophia sagte mir, du wärest unten Zeuge dieser unerfreulichen Szene geworden.«

»Ja, Onkel, und ich kann nicht zulassen, dass das so weitergeht. Trotzdem weiß ich nicht, wie ich dir helfen soll, außer, indem ich mich nach Kräften bemühe zu tun, was Cobb verlangt.«

»Ja, du musst um alles in der Welt dafür sorgen, dass er das glaubt, aber du darfst nie aufhören, auch auf deinen Vorteil zu schauen.«

»Ich fürchte, was heute passiert ist, ist erst der Anfang«, sagte ich. »Können wir es uns leisten, diesem Mann etwas vorzumachen?«

»Können wir es uns leisten, dass er dich zu seinem Leibeigenen macht?«

»Es ist unser beider Wunsch, dass du ihm die Stirn bietest«, fügte meine Tante hinzu.

»Aber so, dass er es nicht merkt«, sagte mein Onkel.

Ich nickte. Sein Mut gab auch mir neuen Auftrieb, und ich sagte ihm, dass ich seinem Rat folgen wolle, dennoch fragte ich mich, ob wir es je verwinden könnten, wenn mein Onkel in tiefste Verzweiflung gestürzt würde - finanziell ruiniert und gesundheitlich am Ende. Er war nicht dumm, und er wusste, dass er sich auf einen Bund mit dem Teufel einließ. Ich für mein Teil war mir nicht sicher, ob ich durchhalten würde.

Ich blieb so lange wie möglich bei meinem Onkel und meiner Tante, aber irgendwann musste ich mich doch verabschieden, in meine eigenen Räume zurückkehren und mich für den Abend umziehen. Als ich mich präsentabel genug wähnte, nahm ich eine Kutsche für die Fahrt durch die Stadt und erreichte binnen Kurzem Ellershaws Haus an der New North Street, unweit der Kricketfelder von Conduit Fields.

Es erstaunte mich nicht, dass er ein prächtiges Haus sein Eigen nannte - von einem leitenden Angestellten der East India Company sollte man schließlich erwarten, dass er standesgemäß wohnte -, aber ich konnte mich dennoch nicht erinnern, jemals Gast in einer so noblen Villa gewesen zu sein, und ich muss zugeben, dass mich gänzlich unerwartet ein Gefühl der Verlegenheit beschlich. Ich besaß kein indisches Seidengewand, also steckte ich in meinem besten schwarzen, mit Gold abgesetzten Anzug aus englischer Seide, der allerdings seine Herkunft aus einer engen Dachkammer in Spitalfields oder der dunklen Halle einer Manufaktur nicht verhehlen konnte. Doch obwohl ich wusste, dass ich das Werk der Betrogenen und Unterdrückten am Leibe trug, hatte ich doch das Gefühl, dass ich darin eine gute Figur abgab. Wir sind alle Kinder Gottes, wie es so schön heißt, aber ein Gewand aus Seide macht schon einen gewissen Unterschied.

Ein höflicher, wenn auch auffällig gravitätisch wirkender Diener nahm mich an der Tür in Empfang und führte mich in ein Zimmer, in dem ich kurz darauf von Mr. Ellershaw begrüßt wurde. Er war aufs Erlesenste und nach der neuesten Mode gekleidet und krönte seine Erscheinung mit einer Allongeperücke. Selbst für meine wenig kennerhaften Augen war offensichtlich, dass sein Seidenwams mit seinem in unbeschreiblicher Feinarbeit gestickten prachtvollen blauen, roten und schwarzen Blumenmuster aus Indien stammte.

»Ja, dies ist ein äußerst wichtiger Abend, Mr. Weaver. Von allergrößter Wichtigkeit, müssen Sie wissen. Mr. Samuel Tur-mond, der parlamentarische Vertreter der Cotswolds, ist zugegen. Er ist einer der vehementesten Verfechter der Sache der Wollindustrie gewesen, und es ist nun an uns, ihn davon zu überzeugen, dass er unseren Vorstoß im Unterhaus vertreten muss.«

»Die Aufhebung des Gesetzes von 1721, nehme ich an?«

»Genau.«

»Und wie wollen wir das bewerkstelligen?«

»Dieser Punkt braucht Ihnen im Moment keine Sorgen zu bereiten. Lassen Sie mich nur machen, und alles wird gut. Da Sie als letzter Gast eingetroffen sind, bitte ich Sie, mir nun ins Speisezimmer zu folgen. Ich hoffe, Sie werden doch nichts tun, womit Sie mich vor meinen Gästen blamieren?«

»Ich werde versuchen, mich so zu benehmen, wie Sie es von mir erwarten.«

»Nun, gut. Gut.«

Durch einen Irrgarten aus verwinkelten Korridoren führte Mr. Ellershaw mich in einen großen Saal, in dem eine Anzahl Gäste auf Sofas und Sesseln saßen und an ihren Weingläsern nippten. Die einzige mir bekannte Person in dem Raum war Mr. Forester, der es überzeugend fertigbrachte, mir keinerlei Beachtung zu schenken.

Ich wurde rasch Mrs. Ellershaw vorgestellt, einer bemerkenswert schönen Frau, die mindestens zwanzig Jahre jünger war als ihr Mann, aber zweifelsohne doch schon mindestens Mitte dreißig. »Dies ist Weaver, mein neuer Mitarbeiter«, sagte Ellershaw. »Er ist Jude, musst du wissen.«

Mrs. Ellershaws Haar war so hellblond, dass man es fast als weiß bezeichnen konnte; sie hatte einen porzellanfarbenen Teint und auffällig glänzende und lebhafte hellgraue Augen. Mit einem Knicks nahm sie meine Hand und sagte, wie erfreut sie wäre, mich kennenzulernen, aber ich wusste, dass das eine Lüge war. Es brauchte nicht viel Einfühlungsvermögen, um zu merken, dass sie meine Anwesenheit nicht schätzte.

Ellershaw schien sich nicht zu erinnern, dass ich mit Forester bereits bekannt war, und auch der ließ sich nicht anmerken, mir schon einmal begegnet zu sein. Er stellte mich seiner Frau vor, aber während Ellershaw mit seiner Eheschließung das große Los gezogen hatte, war an Mr. Forester eine Niete gefallen. Er selber war ja noch jung, gut aussehend und von männlicher Erscheinung, aber seine Frau zählte allerhand Jahre mehr als er. Es wäre keine Übertreibung gewesen, sie als ältere Frau zu bezeichnen. Sie hatte eine ledrige Haut, tief eingesunkene, blassbraune Augen und gelblich verfärbte, lückenhafte Zähne. Und doch schien sie im Gegensatz zu Mrs. Ellershaw von fröhlicher Natur zu sein. Als sie mich ihrer Freude über unsere Begegnung versicherte, wirkte es ehrlich gemeint.

Sodann wurde ich Mr. Thurmond und seiner eleganten Gattin vorgestellt. Das Parlamentsmitglied war weit älter als

Ellershaw, vielleicht schon in den Siebzigern, und seine Gesten wirkten gebrechlich. Er musste sich beim Gehen heftig auf seinen Stock stützen und hatte einen zittrigen Händedruck, wusste aber auf andere Weise zu überzeugen. Er erwies sich als aufgeschlossen und geistreich im Gespräch und war unter allen Männern im Raum derjenige, zu dem ich am meisten Zuneigung fasste. Seine ganz in Wollstoff gewandete Frau, die sich für ihr Alter gut gehalten hatte, lächelte gütig, sagte aber wenig.

Weil eine Dinnerparty in England nicht ohne ein ausgeglichenes Verhältnis der Geschlechter ablaufen kann, musste noch eine vierte Dame eingeführt werden, um meine Gegenwart zu saldieren. Zu diesem Zweck hatte Ellershaw seine Schwester eingeladen, ebenfalls eine reifere Matrone, die es uns unzweifelhaft wissen ließ, dass sie Karten für die Oper geopfert hatte, um der Einladung zu folgen, und dass sie alles andere als erfreut darüber war.

Ich will meine geneigten Leser nicht mit weitschweifigen Schilderungen des langweiligen Essens aufhalten; es war schlimm genug, dass ich es erdulden musste. Wie die meisten Gespräche bei solchen gesellschaftlichen Anlässen drehte sich die Unterhaltung hauptsächlich ums Theater und sonstige beliebte Kurzweil in der Stadt. Ich wollte mich ja an diesem Austausch beteiligen, doch sooft ich den Mund aufmachte, fing ich von Mr. Ellershaw einen derart missbilligenden Seitenblick ein, dass ich es für angebracht hielt, lieber zu schweigen.

»Sie können beim Essen ganz beruhigt zugreifen«, forderte er mich auf, nachdem er selber sich mit unzähligen Gläsern Wein gestärkt hatte. »Ich habe den Koch angewiesen, kein Schweinefleisch aufzutragen. Weaver ist Jude, wie Sie wissen müssen«, wiederholte er noch einmal für alle Anwesenden.

»Ich darf wohl bemerken, dass uns das nicht entgangen ist«, erwiderte Mr. Thurmond, der Interessenvertreter der Wollindustrie. »Sie haben uns ja bereits wiederholt darauf hingewie-sen. Und wenn Ihre hebräischen Freunde auf dieser Insel auch eine Minderheit darstellen mögen, sind sie dennoch keine so rare Spezies, als dass man ständig mit der Nase darauf gestoßen werden müsste.«

»Ja, aber es ist es doch wert, darauf hinzuweisen. Meine Frau hält es gemeinhin nicht für angebracht, Juden an unserer Tafel zu bewirten. Ist es nicht so, meine Liebe?«

Ich wollte etwas sagen, um von dem unangenehmen Thema abzulenken, doch Mr. Thurmond hatte bereits entschieden, dass er es sein wollte, der sich für mich in die Bresche warf. »Verraten Sie uns doch«, hob er eine Spur zu laut an, um damit weitere peinliche Kommentare Ellershaws im Keime zu ersticken, »wo sich Ihre bezaubernde Tochter aufhält, Mr. Eller-shaw.«

Mrs. Ellershaw wurde puterrot, und ihr Gemahl hüstelte sich verlegen in die Faust. »Nun, ja. Was das betrifft, so ist sie gar nicht meine Tochter. Mrs. Ellershaw hat sie mit in unsere Ehe gebracht, und ich darf mich dessen glücklich schätzen. Doch sie ist derzeit nicht zugegen.«

Über diese Tochter gab es bestimmt noch mehr zu sagen, aber Ellershaw beließ es dabei. Thurmond konnte kaum unangenehmer berührt sein, unwillkürlich ein so heikles Thema angeschnitten zu haben. Er hatte sich bemüht, eine Peinlichkeit zu überbrücken und war dabei in ein noch tieferes Fettnäpfchen getreten. Seine Frau jedoch rettete mit einem Lobgesang auf den gereichten Fasan die Situation.

Nachdem das Mahl beendet war und die Damen sich ins Nebenzimmer zurückgezogen hatten, kam Ellershaw auf den Punkt zu sprechen, der ihm auf der Seele lag. »Falls Mr. Summers, ein wahrer Patriot, eine Vorlage unterbreitet, das Gesetz von 1721 aufzuheben, und ich glaube, dass er dies in Kürze zu tun gedenkt, wäre es von größtem Wert, wenn diese Vorlage Ihre Unterstützung fände, Mr. Thurmond.«

Thurmond hatte dafür nur ein Lachen übrig, bei dem seine Augen aufblitzten. »Aber woher denn? Dieses Gesetz bedeutet einen gewaltigen Durchbruch. Warum sollte ich seine Aufhebung befürworten?«

»Weil es zu tun das Rechte wäre, Sir.«

»Aufhebung der Handelsbarrieren«, stimmte Mr. Forester mit ein.

»Genau darum geht es«, griff Ellershaw den Einwurf auf. »Freier Handel. Möglicherweise haben Sie die Schriften von Mr. Davant und Mr. Child darüber gelesen, wie von einem freien Welthandel sämtliche Nationen profitieren können.«

»Sowohl Davant als auch Child sind unmittelbar im Ostindienhandel involviert«, konterte Thurmond, »und können wohl kaum als unparteiische Vertreter einer Sache gelten.«

»Ich bitte Sie. Wir wollen doch nicht kleinlich sein. Sie werden selber schon noch sehen, ob dieses unselige Gesetz Bestand haben wird. Der Handel mit importierten Stoffen mag hierzulande eine geringe Zahl Arbeitsplätze kosten, aber auch ohne ihn werden die Erwerbsmöglichkeiten eingeschränkt. Ich bin überzeugt, dass der Ostindienhandel mehr Arbeitsplätze schafft als nimmt. Was ist mit den ganzen Färbern und Stickern und Schneidern, die ohne ihn ihre Beschäftigung verlieren?«

»Dies ist nicht der Fall, Sir. Diese Menschen werden weiterhin mit dem Färben und Besticken und Schneidern von Kleidung aus englischer Seide und Baumwolle ihren Lebensunterhalt bestreiten.«

»Das kann man wohl kaum vergleichen«, wandte Ellershaw ein. »Es geht doch auch um die Freude am Tragen der Kleidung. Nicht der Bedarf bestimmt den Markt, Sir, sondern die Mode. Es ist nie die Gepflogenheit der East India Company gewesen, jedes Jahr neue Moden einzuführen. Wir beschränken uns auf neue Muster oder Schnitte oder Farben, mit denen wir die Modebewussten im Lande einkleiden, und verfolgen dann, wie der Rest der Nation bestrebt ist, ebenfalls nach der neu-esten Fasson gekleidet zu sein. Unsere Lagerbestände müssen Bewegung in den Handel bringen, und nicht die Vorlieben des Volkes.«

»Ich darf Ihnen versichern, dass sich Moden auch aus anderen Materialien als den aus Indien importierten speisen«, sagte Thurmond selbstzufrieden. »Es wird immer neue Moden und Strömungen geben, und zwar ganz ohne Ihre Versuche, diese zu manipulieren. Erlauben Sie mir, Ihnen etwas zu zeigen, was ich mitgebracht habe, weil ich bereits vermutet hatte, dass Sie das Gespräch in diese Richtung lenken werden.« Er griff in seine Tasche und zog ein blaues, mit gelben und roten Blumenmustern verziertes Stück Stoff von etwa einem Fuß Durchmesser daraus hervor, eine auffällig schöne Arbeit.

Forester nahm es dem älteren Gentleman ab und betrachtete es. »Das ist indische Seide. Na und?«

»Das ist es eben nicht!«, fuhr Ellershaw dazwischen, entriss es Forester und hielt es kaum zwei Sekunden lang in den Händen, als sich sein Gesicht auch schon zu einer Grimasse verzog. »Ha, Sie schlauer Hund! Indische Seide, was? Das hier ist aus amerikanischer Baumwolle gesponnen und hier in London bedruckt worden, wie ich an seiner rauen Beschaffenheit erkenne. Ich kenne jedes indische Muster, und dieses ist eines aus London, das garantiere ich. Mr. Forester ist noch neu im Indienhandel, und nur einem Unbedarften wie ihm könnte ein so alberner Fehler unterlaufen. Indische Seide! Dass ich nicht lache! Was wollten Sie uns damit beweisen, Sir?« Er reichte das Stück Stoff zurück an Thurmond.

Dieser ließ sich kaum aus der Ruhe bringen. »Mr. Foresters Fehler ist nur zu verständlich, denn dieser Stoff ist dem aus Indien sehr ähnlich.«

»Dieser Stoff ist grob genug, um damit den Ruß von einem Schornsteinkehrer abzureiben«, entrüstete sich Ellershaw. »Forester hat keine Ahnung, sage ich. Er mag sich mit dem Geschäft auskennen, aber nicht mit unseren Rohmaterialien.

Nicht böse gemeint, Forester. Ich habe den größten Respekt vor Ihnen, und so weiter und so fort, aber selbst der geschliffenste Verstand mag versagen, wenn es um Tuche und Stoffe geht.«

Forester war rot im Gesicht geworden, entgegnete aber nichts.

»Wie uns Mr. Forester gezeigt hat«, fuhr Thurmond fort, »kann amerikanische Baumwolle mit zunehmender Fertigkeit so fein gesponnen werden, dass der Stoff den Importen aus Indien ähnelt. Dieses Beispiel mag einen wahren Kenner wie Sie bei der Auswahl eines Tuches nicht überzeugen, aber sehr wohl die durchschnittliche Dame. Und selbst wenn dies jetzt noch nicht gelingt, so lässt sich der Fortschritt nicht aufhalten, und bald wird es unmöglich sein, amerikanische Baumwolle von indischer Seide zu unterscheiden. Unsere einheimischen Stoffe werden ständig leichter und den indischen ähnlicher, und von geschickter Hand lassen sich Wolle und Leinen sehr wohl miteinander verarbeiten. Ja, Mr. Foresters Versehen war nur zu verständlich. Zumal, da die Tage des Imports aus Indien ohnehin bald gezählt sind.«

»Dem möchte ich etwas entgegensetzen«, sagte Ellershaw. »Mr. Forester mag nicht in der Lage sein, amerikanische Baumwolle von seiner eigenen Handelsware zu unterscheiden, aber es gibt keine modische Dame und keinen in seine Bekleidung vernarrten Beau auf dieser Insel, der sich so hinters Licht führen ließe.«

»Bald, sagte ich. Noch nicht gleich.«

»Und woher soll Ihr viel zitierter Fortschritt kommen?«, verlangte Ellershaw zu wissen. »Wenn die Menschen keinen Stoff aus Indien mehr kaufen können, was sollte die hiesigen Weber dann veranlassen, ihre eigenen Waren zu verfeinern? Denn dann haben sie den Markt ganz für sich allein. Der Wettbewerb ist es, der sie zu größeren Anstrengungen treibt.«

»Aber sie können im Wettbewerb mit den indischen Arbei-tern, Männern und Frauen, die wie Sklaven leben und am Tag allerhöchstens ein paar Pennys verdienen, nicht mithalten. Selbst wenn wir hier Stoffe herstellen könnten, die in jeder Hinsicht denen aus Indien gleichen, wären sie weit teurer, weil wir unseren Arbeitern mehr bezahlen müssen.«

»Dann müssen die Arbeiter eben lernen, mit weniger auszukommen«, schlug Forester vor.

»Pfui, Mr. Forester, pfui. Menschen müssen essen und schlafen und etwas anzuziehen haben. Nur weil die Mogule in Indien das von ihren Untertanen verlangen, können wir unseren Leuten nicht sagen, sie sollen sich eben mehr bescheiden. Aus diesem Grund ist das Gesetz nötig. Ist es nicht Aufgabe der Regierung, bei solchen Ungerechtigkeiten einzuschreiten und sie abzustellen?«

»Das muss es nicht sein«, argumentierte Ellershaw. »Ich habe mein ganzes Leben mit dem Ostindienhandel verbracht, und wenn ich etwas dabei gelernt habe, dann, dass Regierungen keine Probleme lösen können. Die Regierungen, Sir, sind vielmehr das Problem. Eine Freihandelsgesellschaft, in der der Unternehmer nicht durch Steuern geknebelt, drangsaliert oder behindert wird, ist die einzig wahre freie Gesellschaft.«

»Was soll denn das für eine Freiheit sein?«, empörte sich Thurmond. »Sir, ich weiß, wie Sie sich diese Freiheit vorstellen. Ich weiß, dass die East India Company mehr als eine Manufaktur befehligt und vorhat, Seidenweber in Haft nehmen zu lassen, damit ihre Leibeigenen deren Arbeit möglichst ohne Lohn erledigen. Und Sie haben durch Ihren Einfluss dafür gesorgt, dass sich zunehmend Gemeinschaften von Seidenwebern außerhalb der Stadt ansiedeln, wo die Löhne niedriger sind.«

»Und was ist daran falsch?«

»Glauben Sie, die Welt sieht Ihrem Treiben blind zu? Ich habe sogar gehört, dass sich von der East India Company bezahlte Aufwiegler unter die Seidenweber mischen, damit die armen Arbeiter zu ihnen aufsehen und glauben, sie würden ihre Sache vertreten, und damit doch nur die Sache ihrer eigenen Unterdrücker vorantreiben. Sie haben vor, die Löhne der Seidenweber so weit zu beschneiden, dass niemand mehr sich mit diesem Handwerk seinen Lebensunterhalt verdienen kann. Ich durchschaue Ihre Pläne für die Zukunft. Sie wollen Seide hierzulande so unbezahlbar machen, dass die Menschen wieder nach Importen aus Indien schreien.«

Ich musste an Devout Hales Mann denken, den man ins Arbeitshaus geworfen hatte. Nun wurde mir klar, dass er in eine Falle getappt war, die die East India Company aufgestellt hatte, um sich lästige Mitbewerber vom Hals zu schaffen. Wie stand es denn um die Zukunftsaussichten von Hale und seinen Männern? Sie waren doch nur Menschen, die leben und essen und ihre Familien ernähren mussten. Die East India Company prosperierte und protzte seit hundert Jahren und würde das noch in weiteren hundert Jahren tun. Es kam einem vor, als würden sterbliche Seelen sich mit Göttern anlegen.

Thurmond, der vielleicht ein wenig zu sehr dem Wein zugesprochen hatte, fuhr fort, Ellershaw die Leviten zu lesen. »Sie tun, was Ihnen gefällt, Sie schaden, wem Sie wollen, und nennen sich doch die Ehrenwerte Gesellschaft? Sie sollten sich ehrenwerterweise lieber als Teufelsgesellschaft bezeichnen. Sie kerkern Menschen ein, brechen ihren Lebensmut und wollen sämtlichen Handel und Wandel an sich reißen. Aber sie tönen von Freiheit. Wessen Freiheit denn?«

»Die einzig wahre Freiheit, Sir. Eine Republik des Handels, die den ganzen Globus umspannt, die ohne Behinderung durch Zölle und Abgaben kaufen und verkaufen kann. Dies ist die natürliche Entwicklung der Dinge, und ich werde dafür kämpfen, dieses Ideal zu verwirklichen.«

Thurmond blieb skeptisch. »Eine Welt, in der nur die das Sagen haben, denen es ausschließlich um den eigenen Profit geht, ist eine scheußliche Vorstellung. Unternehmen wie die East

India Company interessieren sich nur dafür, wie viel Geld sie verdienen können. Regierungen zumindest kümmern sich um die Belange aller - der Armen, der Unglücklichen und selbst um die der Arbeiter, deren Kraft gefördert und nicht ausgebeutet werden muss.«

»Ach, was sind Sie doch für ein guter Mensch, dass Ihnen die Arbeiter so am Herzen liegen«, meldete Forester sich wieder zu Wort. »Sie, Sir, besitzen ausgedehnte Ländereien, auf denen Sie Schafzucht als hauptsächliche Quelle Ihrer Einnahmen betreiben. Ist es da nicht von Ihrem eigenen Nutzen, zum Besten Ihres eigenen Kapitals, dass Sie sich so für die Wollmanufaktur stark machen und versuchen, den Importhandel einzudämmen? Geht es Ihnen wirklich um das Wohlergehen Ihrer Arbeiter?«

»Es stimmt schon, dass ich mein Geld mit Wolle verdiene, aber ich sehe nicht, wieso man mich deswegen verdammen sollte. Ja, mein Land bringt mir Reichtum ein, aber es schafft auch Arbeit und Auskommen für die, die darauf beschäftigt sind, für all jene, die die Wolle weiterverarbeiten, die wir produzieren, all jene, die das fertige Produkt verkaufen. Wir sind Teil einer Kette, die allgemeinen Wohlstand schafft. Aus Importen hingegen, die lediglich dem Geschmack derer, die sie sich leisten können, entgegenkommen, ziehen nur wenige Auserwählte ihren Nutzen. Importe tragen nichts zum Allgemeinwohl bei.«

»Der Wohlstand einer Nation ist das größere Gut, Sir. Das einzige Gut, auf das es ankommt. Und wenn die Männer des Handels und der Industrie eines Landes es zu Wohlstand bringen, verteilt sich dieser Wohlstand auf alle Menschen, die in diesem Lande leben. Das, Sir, ist die schlichte Wahrheit.«

»Ich fürchte, wir können bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag reden und werden unseren Freund hier doch nicht überzeugen«, warf Forester ein. »Ist es nicht besser, wenn wir ihm seinen Standpunkt gönnen und er uns den unseren und wir in gegenseitigem Einvernehmen leben?«

»Ja, ja, das ist äußerst diplomatisch, Mr. Forester, aber diplomatische Vermittlungskunst bringt uns hier nicht weiter, und außerdem ist sie in meinen Augen ein Zeichen von Schwäche. Doch ich weiß Ihre Bemühungen zu schätzen. Eine Krähe sollte der anderen kein Auge aushacken.«

»Dennoch möchte ich die Gentlemen bitten, mich nun zu entschuldigen. Ich fürchte, ich muss heute ziemlich zeitig aufbrechen.« Forester erhob sich aus seinem Sessel.

»Ach, Sie haben noch etwas Wichtigeres vor, Sir?«, bemerkte Ellershaw spitz, aber doch mit gespieltem Wohlwollen in der Stimme. Doch die Gehässigkeit war nicht zu überhören.

»Nein, nichts dergleichen. Meine Frau hat bereits vorhin mir gegenüber bemerkt, dass ihr unwohl ist, und ich entnahm ihren Worten den Wunsch, es nicht zu spät werden zu lassen.«

»Ein Unwohlsein? Wollen Sie etwas gegen die Speisen sagen, die ich serviert habe?«

»Aber keineswegs, das darf ich Ihnen versichern. Wir haben nur zu gerne Ihre Gastfreundschaft genossen, aber meine Frau hatte es in letzter Zeit ein wenig auf der Brust, und ich denke, dass sich das Leiden wieder einstellt.«

»Das überrascht mich kaum bei einer Frau in ihrem Alter. Man sollte immer eine jüngere Frau heiraten und keine ältere. Das wäre mein Ratschlag an Sie gewesen, Forester, wenn Sie mich vor Ihrer Entscheidung um Rat gefragt hätten. Es wäre besser für Sie gewesen. Ja, ja, ich weiß, dass Ihr Vater Sie dieses Weib wegen ihres Geldes hat heiraten lassen, aber Sie hätten vielleicht mit der Missachtung seiner schlechten Empfehlung einen größeren Eindruck bei ihm hinterlassen.«

Als er sah, dass Forester viel zu sehr vor den Kopf geschlagen war, um etwas zu erwidern, unternahm Thurmond den Versuch, die Wogen zu glätten. »Ich begreife nicht, wieso Unterschiede im Alter einer glücklichen Ehe im Wege stehen sollten, solange Mann und Frau nur gut zueinanderpassen.«

Forester sagte immer noch nichts, aber der Ausdruck auf seinem Gesicht verriet, dass in seinem Falle Mann und Frau keineswegs gut zueinanderpassten.

Ellershaw zog es vor, gar nicht erst weiter auf all das einzugehen. »Setzen Sie sich, Forester. Es gibt noch viel zu bereden.«

»Das wäre mir nicht genehm.«

»Und mir wäre es genehm, wenn Sie sich jetzt wieder hinsetzen.« An Thurmond gewandt fügte er hinzu: »Sie müssen wissen, dass der Junge es auf meinen Posten im Craven House abgesehen hat. Wird Zeit, dass er lernt, wann es für einen Mann gut ist, zu bleiben, und wann es besser ist zu gehen.«

Die Spannung, die sich im Raum aufbaute, durfte Thurmond kaum behagt haben. Er erhob sich seinerseits. »Vielleicht sollten wir uns ebenfalls entschuldigen.«

»Was soll das heißen? Eine Meuterei? Alles bleibt an Bord!«, kreischte Ellershaw.

»Es ist spät, und ich bin nicht mehr der Jüngste«, sagte Thur-mond. »Wir wollen Ihnen nun Ihre Ruhe lassen.«

»Ich brauche nicht in Ruhe gelassen zu werden. Sie beide setzen sich jetzt hin. Ich bin und bleibe Ihr Gastgeber!«

»Zu zuvorkommend, Sir«, sagte Thurmond mit einem gezwungenen Lächeln. Er schien mehr als genug von Ellershaws Gastfreundschaft genossen zu haben. »Ich fürchte, ich hatte einen langen Tag.«

»Ich habe mich wohl nicht deutlich genug ausgedrückt«, fuhr ihm Ellershaw über den Mund. »Ich muss darauf bestehen, dass Sie bleiben. Wir haben unsere Unterredung noch nicht beendet.«

Thurmond blieb neben seinem Sessel stehen und sah sein Gegenüber scharf an. »Sollte ich mich verhört haben, Sir?«

»Sie dürfen jetzt nicht gehen. Glauben Sie, ich habe einen faustkämpfenden Juden wegen seiner charmanten Konversation und seinem sprühenden Geist eingeladen, mit uns zu es-sen? Da haben Sie sich aber getäuscht. Mr. Weaver, würden Sie bitte dafür sorgen, dass Mr. Thurmond seinen Platz wieder einnimmt?«

»Ich muss in aller Form protestieren, Mr. Ellershaw«, sagte Forester. »Ich glaube nicht, dass Sie das Recht haben ...«

Ellershaw schlug mit der geballten Faust auf den Tisch. »Niemand«, schrie er, »hat Sie nach Ihrer Meinung gefragt.« Doch dann schien seine Wut verraucht, als hätte jemand eine Kerze ausgepustet. »Es gibt vieles für Sie zu lernen, und ich könnte es Ihnen beibringen«, sagte er mit ausgesuchter Freundlichkeit. »Thurmond geht nirgendwohin, und auch Sie setzen sich besser wieder.«

Forester gehorchte.

Ellershaw wandte sich noch einmal mir zu. »Weaver, sehen Sie zu, dass Mr. Thurmond seinen werten Hintern wieder in den Sessel pflanzt.«

Erwartete er tatsächlich, dass ich für ihn den Schläger spielte? Danach war mir keineswegs zu Mute. Doch ich begriff auch, dass diese Situation hier anders gelagert war als der Zwischenfall im Lagerhaus. Er würde es mir diesmal nicht so augenzwinkernd durchgehen lassen, wenn ich mich seinen Befehlen widersetzte. Nein, diesmal würde ich Zeit schinden müssen, um zu sehen, wie weit der Kerl es treiben wollte. Schließlich würde er gewiss einsehen, dass jemand, der sich weigerte, den Wachmann eines Lagerschuppens zu verprügeln, sich erst recht nicht an einem ehrwürdigen Parlamentarier vergreift. Darauf jedenfalls hoffte ich.

Um einen besseren Einfall verlegen stand ich auf und stellte mich zwischen Mr. Thurmond und die Tür. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und versuchte, ein grimmiges Gesicht zu ziehen.

»Was ... was heißt das, Sir?« Thurmond begann zu stammeln. »Sie können mich doch nicht gegen meinen Willen hierbehalten?«

»Ich fürchte, das kann ich, Sir. Was wollen Sie unternehmen, um mich daran zu hindern?«

»Ich kann mich an den Magistrat wenden, und Sie können gewiss sein, dass ich das auch tue, wenn Sie uns nicht auf der Stelle gehen lassen.«

»Der Magistrat«, lachte Ellershaw. »Forester, er droht mit dem Magistrat. Das ist ein guter Witz. Aber er muss erst Erlaubnis bekommen, uns zu verlassen, ehe er zum Magistrat rennen kann. Doch mal angenommen, ich würde Sie ziehen lassen, Thurmond - sagen wir, Sie schaffen es, mein Haus zu verlassen, ohne vorher einen Schlaganfall zu erleiden, den bei Ihrem fortgeschrittenen Alter wohl niemand in Zweifel zöge -, wer würde Ihnen eine solch lächerliche Geschichte abkaufen? Und wem, glauben Sie, ist der Magistrat mehr verpflichtet, Sir? Der East India Company, die einen Magistraten dafür belohnt, dass er Seidenweber ins Arbeitshaus steckt, oder Ihnen, dem ein Magistrat zu keinerlei Treu verpflichtet ist? Sie können es sich wohl denken.«

Ellershaw erhob sich und ging auf seinen Gast zu, der ganz blass geworden war und am ganzen Leibe zitterte. Seine Augen schossen ängstlich hin und her, und seine Lippen bewegten sich, als murmele er ein Gebet - obwohl ich nicht glaubte, dass er irgendetwas Bestimmtes zum Ausdruck bringen wollte.

»Ich habe Ihnen nicht erlaubt aufzustehen.« Mit diesen Worten versetzte er dem alten Mann einen heftigen Stoß gegen die Brust.

»Sir!«, entsetzte sich Forester.

Thurmond fiel rücklings in seinen Sessel und stieß sich dabei den Kopf an der hölzernen Lehne. Ich wechselte meinen Standort, um sein Gesicht besser sehen zu können. Seine Augen waren rot und feucht geworden. Seine Lippen zitterten weiterhin, aber er war noch Herr seiner klaren Gedanken. »Fühlen Sie sich zu nichts verpflichtet«, sagte er zu Forester. »Wir werden diese Demütigung gleich hinter uns haben.«

Auch Ellershaw setzte sich wieder in seinen Sessel und sah Thurmond unverwandt an. »Nun wollen wir mal klarstellen, woran wir sind. In dieser Parlamentsperiode wird das Gesetz von 1721 rückgängig gemacht. Sie werden die entsprechende Vorlage unterstützen. Wenn Sie sich für die Aufhebung des Gesetzes aussprechen, wenn Sie ein Fürsprecher der Handelsfreiheit werden, ist der Sieg unser.«

»Und wenn ich mich weigere?«, stieß Thurmond hervor.

»Es lebt ein gewisser Mann in diesem Land, Sir, ein Mr. Nathan Tanner. Möglicherweise ist Ihnen der Name schon mal zu Ohren gekommen. Man hat mir versichert, dass er auf Ihren Platz nachrücken wird, falls Ihnen etwas zustößt, Sir, und ich kann Ihnen versprechen, dass er in allen Dingen Partei für die East India Company ergreifen wird, auch wenn so mancher dies nicht glauben möchte. Ich will gar nicht verhehlen, dass wir es viel lieber sehen würden, wenn Sie für uns sprechen, Sir, aber wenn es sein muss, nehmen wir auch mit Tanner vorlieb.«

»Aber das kann ich nicht«, setzte Thurmond sich zur Wehr. Speichel flog ihm aus dem Mund, als er die Worte ausspie. »Ich habe mein ganzes Leben, meine gesamte berufliche Laufbahn in den Dienst der hiesigen Wollindustrie gestellt. Ich würde mich zum Gespött machen. Es wäre das Ende für mich.«

»Niemand wird ihm einen solchen Gesinnungswandel abnehmen«, wandte auch Forester ein.

Ellershaw ignorierte den jüngeren Mann. »Deswegen brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, und schon gar nicht darüber, was die Leute denken. Wenn Sie der East India Company dienlich sind, wird sich auch die East India Company Ihnen gegenüber als großzügig erweisen. Wenn Sie geneigt sein sollten, weiterhin im Unterhaus zu sitzen, werden wir dort einen Platz für Sie finden. Falls Sie aber lieber auf eine andere Weise dem Volke dienen möchten - und wer könnte Ihnen das verübeln nach all den Jahren in der Politik -, wird sich in un-serem Unternehmen ein lukrativer Posten finden lassen. Wenn Sie sich als loyal erweisen, vielleicht sogar für Ihren Sohn, Ja, es ist mir nicht entgangen, dass der junge Mr. Thurmond Schwierigkeiten damit hat, seinen Platz im Leben zu finden. Es würde ihm sicher gefallen, eines Tages den Ruheposten seines Vaters in der East India Company zu übernehmen. Das müsste seinen Vater doch mit Erleichterung erfüllen.«

»Ich kann es nicht glauben, was ich da höre«, sagte Thur-mond. »Ich kann es nicht glauben, dass Sie so tief sinken, mich mit Gewalt und Drohungen zu etwas zu zwingen.«

»Ich bewundere Ihren Eifer, Sir, aber das geht doch wohl etwas zu weit«, wollte Forester sich einmischen.

»Halten Sie Ihren Mund, Forester, oder Sie finden sich gleich selber in diesem unbequemen Stuhl wieder. Ich bezweifle, dass Mr. Weaver bei Ihnen auch nur ein Zehntel der Skrupel wie bei Thurmond haben wird.«

Ich war froh, dass niemand mich ansah oder dazu eine Äußerung von mir erwartete.

»Glauben Sie, was Sie wollen«, fuhr Ellershaw fort. »Ich beliebe nicht zu scherzen. Und Sie müssen begreifen, dass es einen profunden moralischen Unterschied zwischen dem Gebrauch von Gewalt zum Zwecke der Befreiung und dem Gebrauch von Gewalt zum Zwecke der Eroberung gibt. Ich wende nun Gewalt gegen Sie an, um den britischen Handel zu befreien, damit er nicht für alle Zeiten ein Sklave der Tyrannei kleingeistiger Gesetzgebung bleibt.«

»Sie müssen vollkommen verrückt sein, mich so benutzen zu wollen«, brachte Thurmond hervor.

Ellershaw schüttelte den Kopf. »Nicht verrückt. Das dürfen Sie nicht denken. Ich habe lediglich unter der Sonne Indiens meine Methoden verfeinert. Ich habe von den Führern Südostasiens viel gelernt - dass man in ganz unterschiedlichen Situationen auf unterschiedliche Weise einen entscheidenden Sieg davontragen kann. Ich gebe mich nicht mit dem Versuch zufrieden, Sie, Sir, zu beeinflussen, um dann auf einen günstigen Ausgang zu hoffen. Ich habe Ihnen meinen Standpunkt dargelegt, und Sie begreifen mein Vorhaben und meinen festen Willen, das Notwendige zu tun. Nun ist es an Ihnen, Ihren Teil beizutragen. Lassen Sie sich gesagt sein, dass die East In-dia Company mancherlei Ohren im Parlament hat. Wenn ich nicht bald erfahre, dass Sie beginnen, mit Aussicht auf Erfolg über eine Aufhebung des Gesetzes zu debattieren, wird Mr. Weaver Ihnen einen Besuch abstatten, bei dem er nichts von der Zurückhaltung an den Tag legen wird, die er heute Abend gezeigt hat.«

Nun schüttelte Thurmond den Kopf. »Ich lasse mich von Ihnen nicht einschüchtern.«

»Ihnen bleibt keine andere Wahl.« Ellershaw erhob sich aus seinem Sessel und ging zum Kamin, aus dem er ein rotglühendes Schüreisen nahm. »Sind Sie mit den näheren Umständen des Todes von Edward dem Zweiten vertraut?«

Thurmond starrte ihn an, brachte aber kein Wort hervor.

»Ein glühendes Eisen ist ihm durch den Anus in die Eingeweide eingedrungen. Aber natürlich wissen Sie das. Jeder weiß es. Aber wissen Sie auch, warum man gerade diese Methode gewählt hat? Alle Welt meint, es wäre eine passende Bestrafung für seine sodomitischen Neigungen, die sich die Geistesführer seiner Zeit da ersonnen hatten, und ich zweifele nicht daran, dass seinen Mördern die Anspielung auf den Tod durch Analverkehr durchaus bewusst gewesen ist. Aber in Wahrheit hat man ihm diese Todesart zugedacht, damit keine

Spuren an seinem Körper zurückbleiben. Wenn das Schüreisen schmal genug ist und mit der notwendigen Sorgfalt eingeführt wird, bleibt die Todesursache ein Rätsel. Nun wissen Sie so gut wie ich, dass der Tod eines Königs eine hochnotpeinliche Untersuchung nach sich zieht, aber glauben Sie, dass man sich bei einem Wurm wie Ihnen dieser Mühe unterziehen wird?«

Jetzt erhob sich auch Forester. »Sir, ich kann das nicht länger ertragen.«

Ellershaw zuckte nur die Achseln. »Es steht Ihnen frei zu gehen.«

Forester sah Thurmond an, dann wieder Ellershaw. Mich würdigte er keines Blickes. Mit gesenktem Haupte, ganz in der Manier eines Feiglings, folgte er Ellershaws Aufforderung und verließ den Raum.

Ellershaw legte das Schüreisen zurück in den Kamin und trat an den Tisch. Er schenkte Mr. Thurmond ein Glas Wein ein und dann eines für sich selber. Nachdem er wieder Platz genommen hatte, hob er sein Glas. »Auf unsere neue Partnerschaft, Sir.«

Thurmond rührte sich nicht.

»Es wäre vernünftig, mit mir anzustoßen«, sagte Ellershaw.

Vielleicht lag es an der freundschaftlichen, wenn auch höchst grotesken Geste, aber irgendwas hatte sich plötzlich verändert. Thurmond griff nach seinem Glas, brachte aber keinen Toast aus, sondern führte es sich an die Lippen und trank gierig.

Ich muss sagen, dass mich dieses Zeichen von Kleinmut zutiefst enttäuschte. Gut, er war ein alter Mann, der um sein Leben fürchtete, aber ich hätte mir doch sehr gewünscht, dass er den Mut aufgebracht hätte, Ellershaw die Stirn zu bieten, es auf einen Zweikampf mit ihm ankommen zu lassen. Ich würde mich jedenfalls geweigert haben, Thurmond auch nur ein Haar zu krümmen, und das hätte vielleicht den unversöhnlichen Bruch zwischen Ellershaw und mir herbeigeführt.

»Nun«, sagte Ellershaw nach einem Moment ungemütlichen Schweigens, »ich glaube, wir haben alles besprochen. Sie hatten vorhin etwas davon geäußert, dass Sie gerne gehen möchten. Nur zu, ich hindere Sie nicht.«

Auf dieses ersehnte Stichwort hin kehrte ich zu meinem Platz zurück. Irgendwie gelang es mir, das Zittern meines Armes zu unterdrücken, während ich eilig mein Glas leerte.

Thurmond erhob sich mit Mühe, stand aber dann bemerkenswert sicher auf den Beinen. Von einem Mann in seinem Alter hätte ich nach einem solchen Schock erwartet, dass er am ganzen Leibe bebte, aber er schien nur ein wenig verstört. Er legte die Hand auf den Türknauf und drehte sich noch einmal nach Ellershaw um, der ihn mit einer lapidaren Geste entließ. Und dann war Thurmond fort.

Ich sah Ellershaw an und hoffte - ja, auf was eigentlich? Ein Anzeichen von Beschämung, schätze ich. Stattdessen wurde ich mit einem Lächeln bedacht. »Ich finde, das ist ganz gut gelaufen.«

Ich schwieg und versuchte, möglichst teilnahmslos dreinzu-blicken.

»Sie verurteilen mein Handeln, nicht wahr, Weaver? Sie, ein Mann der Tat? Ein Held im hitzigen Zweikampf?«

»Ich bezweifle, ob Sie mit den Drohungen, die Sie ausgesprochen haben, wirklich das erreichen werden, was Sie beabsichtigen«, bemerkte ich.

»Ob ich erreiche, was ich beabsichtige?«, wiederholte er spöttisch. »Sie sind der Prügel, den ich schwinge, Sir, und nicht mein Herr und Meister, dem ich Rede und Antwort stehen muss. Die Versammlung der Anteilseigner steht mir bald bevor, und meine Feinde werden versuchen, mich zu vernichten. Sie führen etwas im Schilde, das weiß ich, und wenn ich nicht eine Änderung im Lauf der Dinge herbeiführe, sind meine Tage im Craven House gezählt. Was ist dagegen das Rektum eines alten Mannes?«

Ich zog es vor, diese Frage als rein rhetorisch zu betrachten.

Mit einem kurzen Kopfnicken sagte er mir, dass er mein Schweigen als Zustimmung aufnahm. »Nun ab mit Ihnen. Ich nehme an, Sie finden selber hinaus. Aber benutzen Sie die Hintertür, Weaver. Ich glaube, meine Gäste hatten für heute Abend genug von Ihnen.«

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