18


A.n diesem Abend traf ich mich mit Mr. Blackburn in der Schenke seiner Wahl. Es war eine gemütliche Taverne mit vielen Kerzen und Leuchtern. Sie befand sich in der Nähe des Holzlagers in Shadwell - ausreichend weit vom Craven House entfernt. Die Gäste - Handwerker, kleine Kaufleute, sogar ein Geistlicher mit Brille - aßen und tranken in Ruhe. Blackburn und ich suchten uns einen Tisch in der Nähe des Feuers - zum einen, weil es dort warm war und zum anderen, weil Black-burn meinte, dass eventuell auf die Kleidung geschüttetes Bier dann schneller trocknen würde. Als wir Platz genommen hatten, erschien ein hübsches Mädchen, um unsere Bestellung entgegenzunehmen.

»Wer bist denn du?«, verlangte Blackburn zu wissen. »Wo ist Jenny?«

»Jenny fühlt sich nicht wohl. Deswegen bin ich für sie hier.«

»Nein, das geht nicht«, sagte Blackburn. »Ich will Jenny.«

»Aber es muss gehen«, antwortete das Mädchen. »Jenny hat die Ruhr, und das Blut schießt ihr so aus'm Arsch, dass sie's wohl nicht mehr lange machen wird, also musste schon mit mir vorliebnehmen, mein Süßer.«

»Ja, dann geht es wohl nicht anders«, sagte er, sichtlich enttäuscht. »Aber du musst ihr sagen, dass ich das als Kränkung aufnehme. Nun gut, also hör jetzt genau zu, denn ich möchte es nicht zweimal sagen. Du bringst mir einen Krug Ale, aber vorher wäscht du den Krug gründlich aus. Gründlich, sage ich, und dann trocknest du ihn mit einem sauberen Tuch ab. Es darf kein Fleck darauf zu sehen sein und in dem Bier darf nichts schwimmen, was nicht hineingehört. Du wirst es dir genau ansehen, bevor du es mir bringst. Merk dir gut, was ich gesagt habe, Mädchen. Wenn du das nicht tust, wirst du es mit Mr. Derby zu tun kriegen.«

Sogleich wandte sich das Mädchen mir zu, als wäre es das Beste, solche Sonderwünsche kommentarlos hinzunehmen. »Und Sie, Sir?«

»Ebenfalls ein Ale«, sagte ich. »Aber ich werde mich nicht beschweren, wenn nicht mehr als die übliche Menge Schmutz darin schwimmt.«

Das Mädchen ging und kam ein paar Minuten später mit unseren Bierkrügen zurück, die sie vor uns hinstellte.

Blackburn brauchte bloß einen kurzen Blick auf den seinen zu werfen, und schon brach es aus ihm heraus. »Nein!«, kreischte er. »Nein, so geht das nicht. So geht das ganz und gar nicht. Sieh dir das an, du dumme Schlampe. Da ist ein fettiger Fingerabdruck auf dem Krug. Bist du denn blind, dass du das nicht gesehen hast? Nimm diesen Dreck weg und bring mir einen sauberen Krug.«

»Sauberer wird er davon auch nich', wenn ich ihn aufm Kopp trage, oder was meinen 'Se?«, sagte das Mädchen. Mein weniger erhitztes Gemüt begriff, dass die Frage mehr rhetorischer Natur sein sollte, aber Mr. Blackburn schien sie durchaus ernst aufzufassen. »Ich kann so ein Gerede nicht dulden«, erregte er sich. »Allein schon der Gedanke an einen solchen Angriff gegen meine Person ist eine Abscheulichkeit.«

Das Mädchen stemmte keck die Fäuste in die Hüften - eine Haltung, die sie wohl schon oft eingenommen hatte.

Der Wortwechsel hatte die Aufmerksamkeit der meisten anderen Gäste erregt, und aus der Küche kam nun ein recht beleibter Mann mit einer Schürze vor dem Bauch und ohne Pe-rücke auf seinem kahl geschorenen Kopf. Er schob sich durch die Menge bis zu unserem Tisch vor. »Was ist los? Was gibt es hier für Schwierigkeiten?«

»Gott sei Dank, Derby«, keuchte Blackburn. »Dieses unverschämte Weibsbild serviert hier die Getränke in Nachttöpfen mit Resten von Notdurft darin.«

Das erschien mir denn doch als eine grobe Übertreibung, aber ich hielt mich zurück.

»Er iss doch glatt übergeschnappt«, verteidigte sich das Mädchen. »Iss doch bloß ein Fettfleck.«

Derby versetzte dem Mädchen einen Klaps an den Kopf, aber mehr zum Schein, denn er berührte dabei gerade mal eben ihr Haar und ihre Haube. »Schenk ihm ein Neues ein«, sagte er, »und sieh zu, dass der Krug sauber ist.« An Blackburn gewandt fügte er hinzu: »Es tut mir leid. Jenny hat die Ruhr, und dies Mädchen ist nicht vertraut mit deinen Vorlieben.«

»Ich hab's ihr aber gesagt«, protestierte Blackburn.

Derby streckte in einer Geste der Hilflosigkeit die Handflächen in die Höhe. »Du weißt doch, wie diese Mädchen sind. Sie wachsen im Dreck auf. Man sagt ihnen, sie sollen die Getränke sauber servieren, und solange keine tote Ratte darin schwimmt, gilt es als sauber. Ich werd's ihr schon noch begreiflich machen.«

»Das musst du auch«, schimpfte Blackburn. »Es gibt drei Elemente der Sauberkeit: die Anwendung von Seife, die vollständige Entfernung der Seife mit klarem Wasser und das Abtrocknen mit einem sauberen Tuch. Innen und außen, Derby. Das bringst du ihr bitte bei.«

»Ich werd's tun.« Der Mann entfernte sich, und Blackburn setzte mich darüber ins Bild, dass Derby der Bruder des Mannes seiner Schwester war, dem er, wie er mir zu verstehen gab, bei einer oder zwei Gelegenheiten, wenn das Geld knapp war, ausgeholfen hatte, was ihm nur dank seiner bescheidenen Lebensweise möglich gewesen sei. Daher nehme der Wirt Rück-sicht auf seine besonderen Vorlieben, was seine Schankwirtschaft zu der einzigen in der Stadt mache, in der er, Blackburn, guten Gewissens etwas zu sich nehmen könne.

»Nun, Sir«, wechselte er das Thema, »zu Ihrem Anliegen. Ich will Ihnen gerne zu Diensten sein, und Sie haben soeben auch schon eines der wichtigsten Prinzipien kennengelernt, mit dem sich Ordnung herstellen lässt, nämlich die Serie. Indem man seinem Gesprächspartner darlegt, dass man in drei Schritten zu argumentieren gedenkt, hat man eine Serie geschaffen, und eine Serie, Sir, lässt sich nicht wegdiskutieren. Sowie jemand den ersten Punkt hört, will er auch die nächsten erfahren. Dieses Prinzip habe ich schon oft zu meinem Vorteil angewandt, und nun teile ich das Geheimnis mit Ihnen.«

Ich bedankte mich bei ihm für seine Güte, mich an seiner Weisheit teilhaben zu lassen, und bat ihn, mich noch weiter in seine Philosophie der Ordnung einzuweihen. Also setzte er zu einem längeren Vortrag an, der nur durch gelegentliche zustimmende Bemerkungen meinerseits unterbrochen wurde. Blackburn ließ sich weit über eine Stunde lang aus, doch obgleich ich durchaus fand, dass sein Prinzip der Serie etwas für sich hatte, schien dies doch das Juwel in der Krone seiner geistigen Ergüsse darzustellen. Allzu selten kam er in seinen Ausführungen über onkelhafte Maximen wie Es gibt für alles einen Platz und alles hat an seinem Platz zu sein oder Sauberkeit kommt gleich nach Gottesfürchtigkeit hinaus. Und doch machten nicht solche Plattitüden das Sonderliche an Black-burn aus. Während er redete, stellte er unsere Bierkrüge nebeneinander, kramte den Inhalt seiner Taschen hervor, ordnete ihn und steckte ihn wieder ein. Unablässig zupfte er an seinen Rockaufschlägen, wobei er verkündete, auch hier gebe es einen Lehrsatz, ein Verhältnis von Rock zu Ärmelaufschlag, das unbedingt beachtet werden müsse.

Schon bald bewahrheitete sich, was ich bereits vermutet hatte, dass sein Hang zur Ordnung nämlich keine Form von Besessenheit darstellte, sondern eher eine Marotte - wenn auch eine ziemlich bedenkliche -, die möglicherweise auf eine Ungleichmäßigkeit seiner Oberarmknochen zurückzuführen war. Außerdem fiel mir auf, dass er, sooft ich ihn drängte, mir von Fehlentscheidungen im Craven House zu erzählen, eine deutliche Abneigung zeigte, irgendetwas Schlechtes über die East India Company zu sagen. Jede Art von Unordnung schien ihm zuwider zu sein, aber seine Loyalität war unerschütterlich. Mir blieb also nichts anderes übrig, als seine Zunge auf andere Weise zu lösen.

Ich entschuldigte mich damit, dass ich einmal austreten müsse, dies aber sehr ungern in aller Öffentlichkeit täte. Ich nahm an, dass ihm dieses Bedürfnis zusagte, also ging ich hinaus - allerdings nicht, um Wasser zu lassen, sondern um die Gegebenheiten zu erkunden.

Ich betrat die Küche, wo das Serviermädchen gerade Krüge auf ein Tablett stellte. »Ich möchte mich für das rüde Benehmen meines Begleiters vorhin entschuldigen«, sagte ich. »Bei ihm muss alles blitzsauber sein, und er hat es bestimmt nicht böse gemeint.«

»Iss sehr freundlich, dass Sie das sagen.« Das Mädchen machte einen Knicks vor mir.

»Es handelt sich nicht um Freundlichkeit, sondern um gute Manieren. Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, ich wäre damit einverstanden gewesen, wie er dich behandelt hat. Ich kenne ihn geschäftlich, und er ist für mich eher eine Art Widersacher als ein enger Freund. Nennst du mir deinen Namen?«

»Annie«, sagte sie mit einem weiteren Knicks.

»Annie, wenn du mir einen Gefallen erweist, will ich mich erkenntlich zeigen.«

Nun blickte sie schon ein wenig skeptischer drein. »An was für einen Gefallen haben Sie denn gedacht?«

»Mein Bekannter ist von ziemlich nüchterner Natur. Er findet ständig an seinem Ale etwas auszusetzen, aber ich würde ihm gerne die Zunge ein wenig mehr lösen. Glaubst du, es gelingt dir, einen Schuss Gin in sein Bier zu tun? Nicht so viel, dass er es merkt, aber genug, um ihn ein bisschen in Stimmung zu bringen?«

Sie warf mir ein verschlagenes Grinsen zu, wischte es aber sogleich wieder mit dem Handrücken fort. »Ich weiß nich' recht, Sir. Es scheint mir nich' recht, die Unwissenheit eines Gentleman so auszunützen.«

Ich hielt ihr einen Schilling hin. »Geht es nun besser?«

Sie nahm die Münze aus meinen Fingern. »So wird's gehen.«

Sowie ich wieder am Tisch saß, brachte sie uns zwei neue Krüge. Blackburn und ich unterhielten uns über dieses und jenes, während er sein gestärktes Ale trank. Nach und nach merkte man an seiner Sprechweise und seinen Bewegungen, dass der Gin seine Wirkung tat. Meine Gelegenheit war gekommen. »Für einen Mann, der eine solche Abscheu gegenüber Unordnung hat, muss es nicht leicht sein, im Craven House zu arbeiten.«

»Zuweilen, zuweilen«, sagte er und nuschelte dabei schon ein wenig. »Es geschehen dort allerlei unerfreuliche Dinge. Unterlagen werden falsch zugeordnet oder gar nicht, Ausgaben ohne ordentlichen Beleg getätigt. Einmal«, sagte er und senkte dabei die Stimme, »ist der Mann, der die Nachttöpfe leert, auf dem Wege zur Ausübung seiner Pflichten totgeschlagen worden, also blieben in jener Nacht die Töpfe ungeleert. Den meisten hat das gar nichts ausgemacht. Sie haben ihre vollen Töpfe einfach den Tag über stehen gelassen. Unsaubere Wilde, das ganze Pack.«

»Schlimm, schlimm«, pflichtete ich ihm bei. »Ist sonst noch etwas vorgefallen?«

»Oh, gewiss ist sonst noch etwas vorgefallen. Mehr, als Sie glauben würden. Über einen der Direktoren - den Namen will ich aus dem Spiel lassen - habe ich gehört, gehört, wohlver-standen, also weiß ich nicht, ob es der Wahrheit entspricht, dass er seinen Hemdsaum benutzt, um sich abzuputzen und dann mit seinem schmutzigen Hemd wieder an die Arbeit geht.«

»Aber es sind doch bestimmt nicht alle Männer dort so ver-abscheuungswürdig?«

»Alle? Na, das wäre ja noch schöner. Es hält sich in Grenzen.«

Das Mädchen kam, nahm unsere geleerten Krüge und stellte uns volle hin. Mit einem raschen Augenzwinkern gab sie mir zu verstehen, dass der für Blackburn wiederum einen Schuss Gin enthielt.

»Ich glaube, die Schlampe findet Gefallen an mir«, bemerkte Blackburn. »Haben Sie gesehen, wie sie mir zugezwinkert hat?«

»Es ist mir nicht entgangen.«

»Ja, sie mag mich. Aber ich würde mich nicht neben so eine legen, bis ich nicht gesehen habe, wie sie vorher ein Bad nimmt. Oh, ich sehe gerne Frauen beim Bade zu, Mr. Weaver. Das ist mein höchstes Vergnügen.«

Während er trank, informierte er mich über weitere Verstöße gegen die Hygiene, von denen er Kenntnis hatte. Ich ließ ihn damit fortfahren, während er den größten Teil seines mit Gin gemischten Bieres trank, aber da er zunehmend undeutlicher sprach und ich befürchten musste, dass ich seinen Ausführungen bald nicht mehr würde folgen können, unternahm ich einen weiteren, wie ich hoffte, nicht zu auffälligen Vorstoß. »Was gibt es sonst noch zu berichten? Was ist mit den Schludrigkeiten, die Sie angedeutet haben und die über persönliche Unreinheit hinausgehen? In der Führung der Bücher etwa?«

»Ja, es kommen dabei Fehler vor. Überall und ständig. Es greift geradezu um sich. Manche benehmen sich, als besäßen sie unsichtbare Diener, dienstbare Geister, die hinter ihnen herräumen. Und dabei handelt es sich nicht immer um Re-chenfehler«, sagte er und zwinkerte nun seinerseits unmissverständlich.

»Ach?«

»Ihr eigener Brotherr zum Beispiel - aber ich rede zu viel.«

»Sie haben schon zu viel gesagt, als dass Sie jetzt nicht weitererzählen könnten. Es wäre grausam, mich so auf die Folter zu spannen. Fahren Sie bitte fort. Wir können einander doch vertrauen.«

»In der Tat, in der Tat. Da haben Sie recht. Es ist wie mit der Serie, nicht wahr? Wenn man einmal einen Gedanken angefangen hat, muss man ihn auch zu Ende spinnen. Ich denke, das haben Sie von mir gelernt.«

»Durchaus. Nun erzählen Sie weiter.«

»Sie sind aber ausgesprochen neugierig«, bemerkte er.

»Und Sie zieren sich wie ein kokettes Mädchen«, sagte ich so versöhnlich wie möglich. »Sie wollen mich doch wohl nicht im Ungewissen belassen?«

»Nein, keineswegs. Ich glaube, ich darf noch ein wenig weiter ausholen.« Er räusperte sich. »Ihr Brotherr, dessen Namen ich nicht aussprechen werde, weil man nie weiß, wer einem noch alles zuhört, ist einmal mit dem Begehren an mich herangetreten, eine beträchtliche Summe aus den Büchern verschwinden zu lassen, damit er darüber verfügen könne. Mit dem Hauptkassierer wäre alles bereits abgesprochen, meinte er, doch er bräuchte auch meine Mitwirkung, um das Verschwinden des Geldes vor neugierigen Augen zu verbergen. Er hatte sich sogar eine Geschichte zurechtgelegt, dass es für eine wichtige Unternehmung innerhalb der East India Company sei, doch könne er mir nicht mehr darüber sagen, aber ich ahnte sofort, dass es sich bei dieser wichtigen Unternehmung um die Begleichung von Spielschulden oder um das Erlangen von Mitteln für seine Herumhurerei handeln dürfte. Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass ich seinen Wunsch abschlägig beschieden habe.«

»Warum?«

»Warum? Warum? Reicht es denn nicht, dass es ein unaussprechliches Verbrechen wäre, so nach eigenem Gutdünken mit den Büchern zu verfahren? Aber auch aus einem anderen Grund kam mir die Sache bedenklich vor. Der frühere Hauptkassierer, ein Mann namens Horner, hatte Ihrem Arbeitgeber zu häufig unter die Arme gegriffen, als dass seine weitere Präsenz im Unternehmen diesem noch angenehm sein konnte. Also belohnte man ihn für seine treuen Dienste damit, dass man ihn nach Bombay abkommandierte, wo er dann für den Rest seiner Tage schuften durfte. Ich wollte doch nicht, dass mir das Gleiche widerfährt. Ich glaube nicht, dass ich mich unter lauter Indern wohlfühlen würde.«

»Aber was war mit dem Geld, das Ellershaw benötigte? Ist er ohne es ausgekommen?«

»Aber nicht doch. Ich stellte schon bald das Fehlen besagter Summe fest. Es war ein ziemlich umständlicher Versuch unternommen worden, die Unterschlagung zu vertuschen, aber mich konnte man damit nicht hinters Licht führen.«

»Haben Sie Ellershaw darauf angesprochen?«

»In einem Unternehmen, in dem Loyalität mit einer Verbannung in das wüsteste Klima auf Erden belohnt wird, war mir keineswegs danach, unloyal zu erscheinen. Stattdessen habe ich den Betrug so gründlich getarnt, dass niemand je dahinterkäme. Ich würde nie etwas Unrechtes tun, Sir, aber ich fand nichts dabei, Gras über eine Sache wachsen zu lassen, wenn das Kind nun einmal in den Brunnen gefallen war.«

Ich nickte nachdenklich. »Wie interessant, Ihnen zuzuhören«, sagte ich. »Sie müssen doch noch mehr solche Geschichten zu erzählen wissen.«

»Nun, da gab es schon ein oder zwei Dinge, die mir gegen den Strich gingen - bevor Sie das mit dem Greene House aufs Tapet gebracht haben, um es einmal so auszudrücken. Aber ich will lieber keine alten Geschichten mehr aufwärmen.«

»Ich bitte Sie darum.«

Er schüttelte den Kopf.

Ich beschloss, dass es an der Zeit für einen taktischen Winkelzug war, auch wenn dieser Cobbs Anweisungen widersprach. Er hatte mir untersagt, den Namen Absalom Pepper in den Mund zu nehmen, aber der Mann, den ich auszuhorchen trachtete, war schon ziemlich alkoholisiert, also glaubte ich, einen Versuch wagen zu können.

»Sprechen Sie von der Geschichte mit dem Pepper?«, fragte ich Blackburn.

Er wurde ganz blass und bekam große Augen. »Was wissen Sie darüber? Wer hat Ihnen davon erzählt?«, fragte er leise.

»Wer mir davon erzählt hat?« Ich lachte. »Das weiß doch jedes Kind.«

Er klammerte sich mit beiden Händen an der Tischkante fest. »Jedes Kind weiß es? Sie sagen, das weiß jedes Kind? Wer hat da nicht den Mund gehalten? Wie hat er davon erfahren? Oh, ich bin ruiniert. Das ist das Ende.«

»Beruhigen Sie sich«, sagte ich. »Sie müssen mich missverstanden haben. Wie konnte ich ahnen, dass die Erwähnung dieses Pulvers Sie so aufregt?«

»Pulver? Was für ein Pulver?«

»Paprika. Capsicum annuum. Hierzulande Pepper genannt. Da die East India Company sich, wie ich zu erinnern vermeine, früher fast ausschließlich mit dem Import von Gewürzen befasst hat, hätte es mich interessiert, ob bei der Umstellung auf Textilien und Tee organisatorisch alles glatt gegangen ist.«

Er ließ den Tisch wieder los. »Ach so. Das meinen Sie.« Dann nahm er einen herzhaften Schluck aus seinem Krug.

Das war der Moment, auf den ich gewartet hatte. Ich hätte ein Dummkopf sein müssen, die Gelegenheit nicht beim Schopfe zu packen. »Ich habe von dem Gewürz gesprochen, Sir. Nur von dem Gewürz.« Ich lehnte mich zurück, bis meine Schultern die Wand berührten. »Aber was haben Sie denn verstanden?«

Jetzt stand alles auf Messers Schneide. Ich spielte ein gefährliches Spiel, und ich kannte kaum die Regeln. Würde er merken, dass ich ihn hereingelegt hatte, ihn dazu gebracht hatte, zuzugeben, dass er über einen gewissen Pepper etwas wusste - wenn auch nicht genau, was -, und würde ihn das gegen mich aufbringen? Oder würde er sich in sein Schneckenhaus zurückziehen?

Er schüttelte den Kopf. »Schon gut. Es war nicht so wichtig.«

»Nicht so wichtig«, wiederholte ich in so jovialem Ton wie möglich. »Dafür, dass es nicht so wichtig war, hat es Sie aber mächtig aufgeregt, Sir.«

»Ich sagte doch, es war nichts.«

Ich beugte mich zu ihm vor. »Nun kommen Sie schon, Mr. Blackburn«, flüsterte ich. »Wir können einander doch vertrauen, und Sie haben meine brennende Neugier erweckt. Worauf, glaubten Sie, hätte ich angespielt? Sie können es mir ruhig sagen.«

Er nahm noch einen Schluck. Ich weiß nicht, was ihn zum Reden brachte - der Alkohol, das Gefühl, in mir eine verwandte Seele gefunden zu haben, oder die Erkenntnis, dass die Geschichte ohnehin schon halb heraus war und er mir ebenso gut auch noch den Rest erzählen konnte, um sie dann endgültig mit dem Mäntelchen des Vergessens zuzudecken. Jedenfalls holte er tief Luft und stellte seinen Krug hin. »Es gibt da eine Witwe.«

»Was für eine Witwe?«

»Es ist keine fünf oder sechs Monate her, da erhielt ich vom Direktorium einen versiegelten Brief. Er war von keinem einzelnen Direktor unterschrieben, sondern nur mit einem Siegel beglaubigt. Darin wurde ich angewiesen, dafür zu sorgen, dass eine Witwe eine Rente von einhundertzwanzig Pfund im Jahr erhielt, ansonsten aber kein Wort davon zu irgendwem zu sagen, nicht einmal zu einem Vorgesetzten, da es sich um eine geheime Vereinbarung handelte, die unsere Rivalen gegen uns verwenden könnten. Ja, es wurde mir in dem Brief sogar damit gedroht, dass ich meine Stellung verlöre, wenn die Angelegenheit an die Öffentlichkeit dränge. Ich hatte keinen Grund, diese Drohung auf die leichte Schulter zu nehmen, denn ursprünglich war Horner, der Hauptkassierer, für die Auszahlung dieser Rente verantwortlich gewesen. Es war seine letzte Amtshandlung, bevor man ihn in die Hölle Asiens verfrachtet hat. Jeder Dummkopf hätte erkannt, dass ich inmitten geheimer Machenschaften von großer Tragweite steckte, und mir blieb nur, den Anweisungen zu folgen, wenn ich einem schrecklichen Schicksal entgehen wollte.«

»Und der Name dieser Witwe war Pepper?«

Blackburn fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und wandte den Blick ab. Dann schluckte er schwer, um anschließend einen großen Schluck aus seinem Krug zu nehmen. »Ja. Sie ist die Witwe eines gewissen Absalom Pepper.«

Obwohl ich mir alle Mühe gab, gelang es mir nicht, Black-burn weitere Informationen zu entlocken - auch nicht mit Hilfe zweier weiterer Krüge Ale. Er blieb dabei, nur zu wissen, dass Mrs. Pepper eine Witwe war, zu deren Unterhalt das Direktorium der East India Company beizutragen beschlossen hatte. Sie lebte nahe der Stadtgrenze in dem Weiler Twickenham, wo sie ein Haus in der neu erbauten Montpelier Row besaß. Darüber hinaus wüsste er nichts - außer, dass sie es scheinbar einmalig gut getroffen hatte, denn die East India Company zahlte nie Renten, nicht einmal an scheidende Direktoren. Darüber hinaus schien es keinerlei Verbindung zwischen Pepper und der East India Company zu geben, außer eben, dass die Firma seiner Witwe eine stattliche Rente zukommen ließ und die Angelegenheit mit größter Diskretion behandelt wurde.

Ich drängte Blackburn, soweit es mir tunlich erschien, aber es zeigte sich bald, dass ich an die Grenzen seines Wissens gestoßen war. Und doch tat sich hier ein Pfad auf, der zur Erfül-lung von Cobbs innigstem Herzenswunsch führen könnte - was für meine Freunde und meinen Onkel höchstwahrscheinlich die Befreiung von dem Joch bedeuten konnte. Ich wagte nicht zu hoffen, dass auch ich selber so bald aus dieser verworrenen Angelegenheit freikäme, aber vielleicht konnte ich mein erworbenes Wissen über diesen Absalom Pepper dazu nutzen, wenigstens die Bürde meines Onkels ein wenig zu erleichtern.

Nachdem ich ihn lange genug ausgefragt hatte, war Mr. Blackburn zu betrunken, um nach Hause gehen zu können -er konnte sich nicht einmal mehr auf den Füßen halten, um es genau zu sagen. Also setzte ich ihn in eine Droschke, bezahlte den Kutscher und konnte nur hoffen, dass er den armen Kerl zu allem Unglück nicht auch noch ausnahm.

Obwohl auch ich den Magen voller Bier hatte und nicht mehr ganz und gar klar im Kopf war, schien die Stunde mir nicht zu spät, um Cobb noch einen Besuch abzustatten und ihm von meinen neuesten Erkenntnissen zu berichten. Aber zunächst wollte ich alles noch einmal überdenken, also ging ich ins Gasthaus zurück, setzte mich wieder ans Feuer und trank meinen letzten Schluck Bier. Dabei kam ich zu dem Ent-schluss, den Besuch bleiben zu lassen, denn ich war doch noch genügend bei Verstand, um mir zu sagen, dass ich Cobb nicht mehr verpflichtet war als Ellershaw. In erster Linie musste ich jetzt an mich selber denken und überlegen, wie ich mich aus diesem dicht gewobenen Spinnennetz befreien konnte. Also würde ich mein Wissen nach Möglichkeit vorerst für mich behalten.

Ich rief die fügsame junge Annie zu mir und bat sie um einen Stift und Papier. Dann schrieb ich zwei Briefe. Der eine war an Ellershaw gerichtet; ich teilte ihm darin mit, dass ich am nächsten Tag nicht ins Craven House kommen könne, da es mich mit blutigem Durchfall - man sieht, wie mir das Schicksal der armen Jenny als Inspiration diente - aufs Krankenbett geworfen hatte. Wenn man sich mit einem Schnupfen oder mit starken Schmerzen entschuldigt, empfängt man oft ungefragt gut gemeinte medizinische Ratschläge, also gab ich eine so unappetitliche Krankheit vor, dass Ellershaw sich hüten würde, persönlich nach dem Rechten zu sehen.

Mein zweiter Brief galt Elias Gordon. Ich bat ihn, mich an einem Ort zu treffen, an dem wir unbeobachtet waren. Dann gab ich die beiden Schreiben zusammen mit noch einer Münze Annie, die mir versprach, sogleich den Küchenjungen damit loszuschicken.

In diesem Augenblick erhaschte ich, wenn auch nur ganz am Rand, den Blick eines kleinwüchsigen Burschen mittleren Alters, der in eine der hintersten Ecken gekauert saß. Ich hatte ihn schon beim Eintreten gesehen, mir aber nichts weiter gedacht, und er wäre mir auch jetzt nicht aufgefallen, wenn er nicht so rasch den Blick von mir abgewandt und ihn auf Annie geheftet haben würde. Dies mochte ohne jede Bedeutung sein, reine Neugier eines Gastes, aber es machte mich doch misstrauisch, und ich nahm den Mann unwillkürlich ein wenig näher in Augenschein.

Er trug ein abgewetztes braunes Gewand, und seine ungepflegte und altmodische Perücke hing ihm auf beiden Seiten wie ein kranker Schoßhund auf die geflickten Schultern seines Rockes. Seine kleine Brille war ihm halb auf die Nase gerutscht, doch da der Raum nur spärlich beleuchtet war, vermochte ich nicht in seinen Zügen zu lesen. Am ehesten kam er mir vor wie ein verarmter Gelehrter, doch konnte es durchaus sein, dass er sich nur als ein solcher ausgab und in Wirklichkeit im Dienste finsterer Mächte stand. Andererseits war nicht von der Hand zu weisen, dass ich mich möglicherweise durch die Umstände verunsichern ließ und er wirklich nicht mehr war, als es den Anschein hatte.

Dennoch erweckte etwas meinen Argwohn. Jener vermeintliche Gelehrte hatte einen schwarz gebundenen Oktavband vor sich, in den er recht vertieft zu sein schien. Es gab aber in dem Raum viel besser beleuchtete Plätze als den, den er sich ausgesucht hatte, und selbst jemand, der keine Brille brauchte, würde seine Schwierigkeiten haben, in dem Dämmerlicht, in dem der Unbekannte hockte, etwas zu lesen. Also blieb mir doch nur der Schluss, dass er auf mich angesetzt war, ob nun von Cobb oder sonst wem.

Ich beschloss daher, abzuwarten. Wenn er vorhatte, mir beim Verlassen des Wirtshauses zu folgen, wollte ich es darauf ankommen lassen. Entweder verlor ich ihn aus den Augen, oder er ging mir bis zu meiner Unterkunft nach. Sollte er doch. Falls er sich aber erheben und versuchen sollte, den Jungen aufzuhalten, würde ich meinerseits ihm folgen müssen, denn ich konnte es nicht darauf ankommen lassen, dass meine Briefe, vor allem der an Elias, in die Hände eines mir unbekannten Widersachers fielen.

Noch einmal rief ich Annie, bat sie, sich zu mir herunter-zubeugen und legte eine Hand auf ihr einladendes Hinterteil. »Lach«, sagte ich. »Lach, als hätte ich etwas zu und zu Amüsantes geäußert.«

Zu meiner großen Überraschung lachte sie ohne Umschweife laut auf.

»So, nun dreh dich bitte nicht um, aber dahinten in der Ecke sitzt ein gelehrt aussehender Bursche. Weißt du, von wem ich spreche?«

»Worum geht's denn?«

»Darum, dass für dich ein weiterer Schilling dabei herausspringt.«

»Oh, das klingt gut. Er iss schon den ganzen Abend hier. So wie Sie.«

»Und was trinkt er?«

»Man sollte es nich glauben - nichts als Milch. Ein erwachsener Mann, der Milch trinkt ohne Brot dazu. Wie 'n Kind.«

Ich glaubte es durchaus. Der Junge, dem ich meine Briefe anvertraut hatte, schien vor seinem Botengang noch andere Pflichten zu erledigen gehabt zu haben, aber nun sah ich ihn zur Tür hinausgehen. Augenblicklich hielt es auch den vermeintlichen Gelehrten nicht mehr auf seinem Platz. Ich wartete einen Moment; dann drückte ich dem Mädchen eine Silbermünze in die Hand, erhob mich rasch und folgte dem vorgeblichen Mann von Bildung.

Als ich auf den Market Hill kam, hatte er sich dem Jungen bereits bis auf wenige Schritte genähert. Auf dem Boden lag festgetretener Schnee, auf dem es sich nicht gut laufen ließ, aber zur Not war ich bereit, die Beine in die Hand zu nehmen.

»Warte«, rief unser Gelehrter dem Jungen nach. »Warte auf mich, mein Sohn. Ich habe etwas mit dir zu bereden, und es soll dein Schaden nicht sein.«

Der Junge sah sich um, blickte aber nicht in ein lächelndes, harmloses Gesicht, sondern in eines, das sich vor Schmerz verzerrte, als ich dem Burschen einen Schlag gegen den Hinterkopf versetzte und ihn damit in den Straßenschmutz niederstreckte.

»Er wollte nicht mit dir reden, sondern dir etwas antun«, sagte ich zu dem Jungen. »Nun geh und gib deine Briefe ab. Um den Unhold werde ich mich kümmern.«

Der Junge konnte nicht zu starren aufhören, so fasziniert war er von dem Spektakel, das sich vor ihm abspielte, aber da der Schurke nicht mehr an ihn herankonnte, spielte die kurze Verzögerung keine große Rolle. Der Fremde zappelte und schien nicht recht zu begreifen, was ihm widerfahren war, aber ich stellte einen Fuß auf seine Hand, damit er gar nicht erst versuchte, sich zu erheben. Rasch merkte er, dass jede Bewegung nur zur Folge hatte, dass ich ihn noch stärker zu Boden drückte.

»So, Sir, nun erzählen Sie mir mal, für wen Sie arbeiten.«

»Es ist eine Ungeheuerlichkeit, einen Angehörigen der Universität niederzuschlagen. Und sowie die Welt erfährt, dass der Täter auch noch ein Jude war, wird das schreckliche Konsequenzen für Ihre Leute haben.«

»Ach, und woher wollen Sie wissen, dass ich Jude bin?«

Ich bekam keine Antwort.

»Es interessiert mich nicht, ob Sie an der Universität sind oder nicht. Mich interessiert nur, dass Sie mich beobachtet und versucht haben, den Jungen aufzuhalten, der meine Briefe austrägt. Also - für wen arbeiten Sie?«

»Von mir erfahren Sie gar nichts.«

Damit musste ich mich wohl abfinden, und da es für meine Pläne ohnehin von untergeordneter Bedeutung erschien, ob er nun von Cobb oder Ellershaw oder sonst wem geschickt worden war, unternahm ich gar nicht den Versuch, ihn zum Sprechen zu bringen, sondern schlug seinen Kopf auf den Boden, bis er das Bewusstsein verlor. Alsdann durchsuchte ich ihn, fand aber nichts Wichtiges bis auf eine Zehnpfundnote, die von demselben Goldschmied ausgestellt war, von dem auch die Geldscheine stammten, mit denen Cobb mich bezahlte.

Ich blickte auf und sah, dass der Junge nicht weitergegangen war, sondern ängstlich in der Nähe verharrte. »Gib mir die Briefe zurück«, rief ich ihm zu. »Wenn ein Schuft sich hier herumtreibt, gibt es vielleicht noch mehr davon. Ich werde eine andere Art der Zustellung wählen.«

Der Junge gab mir die Briefe zurück und rannte davon. Ich blieb ziemlich allein auf der Straße stehen. Mit den Briefen in der Hand betrachtete ich den vorgeblichen Gelehrten und fragte mich gerade, ob ich vielleicht zu rasch die Geduld mit ihm verloren hatte und er mir noch mehr hätte sagen können. Aber einen Augenblick später hatte die Frage sich bereits erledigt, als ich nämlich eine Hand an meinem Kopf spürte, die mich in den schmutzigen Schnee stieß. Ich fiel einigermaßenweich und war sofort wieder beieinander, doch leider eine Sekunde zu spät. Als ich aufblickte, sah ich die Gestalt eines Mannes mit meinen Briefen davonlaufen.

Sofort war ich wieder auf den Füßen und hinter dem Dieb her, aber er hatte schon einen beträchtlichen Vorsprung. Ich sah ihn ein ganzes Stück vor mir - für seine massige Figur war er unglaublich behände. Ich hingegen, der ich mir einmal böse das Bein gebrochen hatte, konnte kein solches Tempo vorlegen und musste befürchten, dass der Kerl mir trotz all meiner Bemühungen, den Schmerz nicht zu beachten und mich ins Zeug zu legen, entkommen würde.

Er lief zum Virginia Planter Hill und auf die Shadwell Street zu, was ich als Glück für mich erachtete, denn die Straße war breit und gut beleuchtet, und es würden zu dieser späten Stunde fast keine Passanten mehr dort unterwegs sein. Es bestand also die geringe Chance, dass es mir doch noch gelang, ihn einzuholen.

Während ich mich sputete, um den Abstand zwischen uns zu verringern oder den Mann wenigstens nicht ganz aus den Augen zu verlieren, bog er in die Shadwell Street ein. Im nächsten Moment sah ich, wie er zurückprallte und beinahe hintenüberfiel, als ein Einspänner mit großer Geschwindigkeit an ihm vorbeiraste, dessen Kutscher dem Mann, den er um ein Haar zu Tode gefahren hatte, eine Unflätigkeit zurief.

Aber der Verfolgte fing sich rasch wieder, setzte zum Sprung an wie eine riesige Katze, und als eine weitere Kutsche an ihm vorbeikam, sprang er mit einem Satz auf den Wagen. Über das Klappern der Hufe und das Poltern der Räder hinweg konnte ich gerade noch den überraschten Aufschrei des Kutschers hören. Was musste das für ein Mann sein, dachte ich, der sein Leben in höchste Gefahr brachte, indem er auf eine vorbeirasende Kutsche sprang? Es stachelte meine Wut nur umso mehr an, denn nun blieb mir nichts anderes übrig, als es ihm nachzutun.

Ich lief so schnell ich konnte, aber ein weiterer Einspänner überholte mich, dann noch einer, und schließlich schien es, als wären acht oder zehn davon in einer Wettfahrt begriffen. Als ich die Shadwell Street erreichte, näherte sich mir gerade noch ein Nachzügler, und den wollte ich auf keinen Fall verpassen. Trotz der Dunkelheit konnte ich erkennen, dass die Kutsche grün gestrichen und mit goldenen Streifen verziert war - und dass einer dieser Streifen die Gestalt einer Schlange hatte. Und dann ging mir auf, dass dies der Wagen sein musste, von dem vor einiger Zeit Mr. Chance angefahren worden war. Der Kutscher war ein junger Tunichtgut gewesen, der seinem törichten Rennen mehr Wert beimaß als einem Menschenleben. Nun, ebendieser Kutscher musste nun mit meiner Gesellschaft vorliebnehmen, denn ich schwang mich in die Luft und hoffte dabei inständig, dass ich im Wageninneren und nicht unter den Rädern landen würde.

Und tatsächlich landete ich wirklich ziemlich unsanft in der Kutsche, deren Besitzer vor Schreck aufkreischte.

»Seid Ihr denn von Sinnen?«, verlangte er zu wissen, und in seinen weit aufgerissenen Augen spiegelte sich das Licht der Straßenlaternen.

Ich schwang mich neben ihn und riss ihm die Zügel aus der Hand. »Du bist ein Dummkopf, ein Scheusal und ein miserabler Kutscher noch dazu«, versetzte ich. »Nun sei still, sonst stoße ich dich vom Bock.«

Ich trieb das Pferd mit einem Peitschenhieb voran, und siehe da, es konnte schneller laufen, als sein Besitzer es ihm abverlangt hatte, denn dieser schien mir nicht unter mangelndem Durchsetzungsvermögen, sondern an mangelndem Schneid zu leiden, denn er kreischte schon wieder auf, als ich das Tempo erhöhte.

»Langsamer!«, schrie er so schrill, dass Kristallglas davon hätte zerspringen können. »Sie bringen uns noch um!«

»Habe ich nicht mal gesehen, wie du einen Mann umgefahren hast und nichts als ein Lachen für ihn übrighattest?«, rief ich laut, damit er mich über das Geräusch der Hufe und des Fahrtwindes hören konnte. »Ich glaube kaum, dass du mein Mitleid verdienst.«

»Was wollen Sie denn nur von mir?«, wimmerte er.

»Die anderen Kutschen überholen«, sagte ich. »Und wenn mir danach noch Zeit und Gelegenheit bleiben, dir einen Denkzettel verpassen.«

Erbarmungslos trieb ich das Pferd zu immer halsbrecherischerem Tempo an, aber mir blieb keine andere Wahl. Wir überholten den ersten Wagen, dessen Kutscher verdutzt zu mir und dem zusammengekauerten Mann an meiner Seite herüberschaute, dann den zweiten und dritten. Wenn ich es wollte, dachte ich, dann könnte ich dieses Rennen gewinnen.

Die noch vor uns liegenden Kutschen bogen in die Old Gra-vel Lane ein und verlangsamten dementsprechend ihre Fahrt. Wenn ich jedoch meine Briefe wiederhaben wollte, konnte ich auf Sicherheitsbedenken keine Rücksicht nehmen und nahm meinerseits kaum Fahrt weg, so dass wir auf zwei Rädern um die Ecke rasten. Ich hielt mit der einen Hand die Zügel und schob mit der anderen meinen greinenden Passagier an seinem Mantelkragen ans äußerste Ende der Sitzbank, so dass wir gerade eben das Gleichgewicht zurückbekamen und nicht umkippten. Währenddessen hatten wir noch drei weitere Wagen überholt, so dass sich jetzt nur noch drei vor uns befanden.

Unser Pferd schien nicht minder begeistert wie ich selber, dass wir dieses waghalsige Manöver gemeistert hatten und holte noch die letzten Reserven aus sich heraus, mit deren Hilfe wir den verbleibenden drei Wagen immer näher kamen. Nun konnte ich schon erkennen, dass nicht die Kutsche an der Spitze, sondern der Einspänner dahinter mit zwei Personen besetzt war. Ich musste alles tun, um sie zum Anhalten zu zwingen und griff in der Hoffnung, das Pferd würde gehorchen - wenn es denn gehorchen konnte -, noch einmal zur Peitsche. Ich hatte ja keine Ahnung, wie viel Kraft noch in dem Tier steckte, und während der Wagen ganz vorn seinerseits das Tempo erhöhte, begann der mit den zwei Männern darin langsamer zu werden, so dass ich mich neben ihn setzen konnte.

Der seitliche Abstand zwischen uns änderte sich von Sekunde zu Sekunde, lag aber immer zwischen zwei bis höchstens vier Armeslängen.

Die beiden Männer in der Kutsche, mit der ich nun im Wettstreit lag, riefen mir etwas zu, was ich aber nicht verstehen konnte, und ich hatte auch kein Verlangen und keine Zeit, genauer hinzuhören. Wieder nahm ich die Zügel in die linke Hand und zog mit der rechten den Feigling vom Boden des Kutschbocks hoch, wo er sich verkrochen hatte.

»Nimm du jetzt die Zügel!«, schrie ich ihn an. »Halte dich so nahe wie möglich. Wenn du nicht tust, was ich sage, wirst du es bereuen. Deinen Einspänner erkenne ich jederzeit wieder, und dann wirst du dir wünschen, mir nie begegnet zu sein.«

Er nickte. Erst hatte er Angst, dass wir zu schnell fuhren, jetzt musste er zusehen, dass wir nicht zu langsam wurden. Jedenfalls nahm er die Zügel und versuchte, sie ruhig zu halten, während ich an das Ende der Sitzbank rutschte und meinen ganzen Mut zusammennahm. Ich wusste, dass ich diese Manöver besser gar nicht erst versuchen sollte: Zwar habe ich in meinem Leben schon viele Dummheiten begangen, aber nichts, was so töricht war wie das hier. Sollte es mir misslingen, würde es mein sicheres Ende bedeuten. Doch wenn ich es nicht versuchte, würden meine Widersacher mit meinen Briefen entkommen, und dann würden sie viel mehr wissen, als mir lieb war. Ich durfte nicht zulassen, dass meine Pläne zunichtegemacht wurden und mein Onkel in den Schuldturm kam, also holte ich tief Luft und sprang ins Leere.

Wieso ich nicht unter den Hufen zu Tode getrampelt oder von den Rädern zermalmt wurde, wird mir stets ein Rätsel bleiben, aber irgendwie kam es, dass genau im Augenblick meines Sprunges meine Kutsche einen Schlenker nach rechts machte, so dass der Abstand zwischen den beiden Wagen sich verringerte und ich tatsächlich den Kutschbock des Einspänners neben uns erreichte, wobei ich dem Mann, der die Zügel in der Hand hatte, einen unsanften Stoß versetzte. Ihn hielt ich für den Kerl, der meine Briefe gestohlen hatte, also schob ich ihn grob beiseite, riss die Zügel an mich und brachte das Pferd durch ruckartiges Annehmen der Zügel so jäh zum Halten, dass ich mich mit aller Kraft gegen das Spritzbrett stemmen musste, um nicht nach vorne geschleudert zu werden. Meine unfreiwilligen Mitfahrer waren nicht darauf vorbereitet und flogen Hals über Kopf vom Kutschbock herunter, wobei auch sie es nur einer göttlichen Fügung verdankten, nicht unter die Räder einer der nachfolgenden Kutschen zu geraten. Es war ein Zeichen der Gefühllosigkeit dieser Leute, dass keiner der an dem Rennen Beteiligten auch nur daran dachte, anzuhalten und seinen Kameraden zu Hilfe zu eilen. Sowie der Wagen stand, sprang ich vom Bock und rannte zu der Stelle, an der die beiden Männer nebeneinander am Straßenrand kauerten. Schon hatte sich eine johlende Menge um sie versammelt -Sympathie konnten diese Wagenlenker nicht erwarten.

Sie waren ziemlich benommen und bluteten an mehreren Stellen, schienen aber nicht ernsthaft verletzt. Doch das konnte sich rasch ändern.

Ich griff in die Tasche und zog meine Pistole. Es hatte leicht zu schneien begonnen, und die geringste Feuchtigkeit konnte es unmöglich machen, die Waffe abzufeuern, aber ich hoffte, dass die zwei Burschen in ihrem angeschlagenen Zustand nicht auch auf diesen Gedanken kämen. »Wer von euch hat meine Briefe gestohlen?«, verlangte ich zu wissen.

»Wir waren es nicht!«, rief einer der beiden.

»Es muss einer von euch gewesen sein. Eurer war der einzige mit zwei Personen besetzte Wagen. Also, wer von euch war es?«

»Wir waren es nicht«, echote sein Gefährte. »Er sagt die Wahrheit. Der Kerl war stark wie Herkules und hatte Narben im Gesicht. Er hat mich von meinem Wagen heruntergeworfen. Da bin ich mit Johnny hinter ihm her. Wir wollten's Ihnen ja zurufen. Wir hätten ihn bestimmt gekriegt, wenn Sie uns nicht dazwischengekommen wären.«

Schweigend steckte ich meine Pistole wieder ein. Ich konnte es fast nicht glauben, dass ich so viel aufs Spiel gesetzt und doch nichts damit erreicht hatte. Ich hatte mein Leben riskiert, um den falschen Wagen anzuhalten, und nun war der Schurke mit meinen Briefen auf und davon.

»Er war der reinste Herkules«, beschwerte sich einer der beiden noch einmal, während er sich mit seinem spitzenbesetzten Ärmel das Blut von der Nase abtupfte. »Ein großer, dunkelhäutiger Herkules. So jemanden habe ich noch nie zu Gesicht bekommen.«

Ich schon. Ich war so einem erst jüngst begegnet. Über kurz oder lang würde Aadil dafür bezahlen müssen, aber vorerst kannte er zu viele von meinen Geheimnissen und war damit mir gegenüber im Vorteil. Ich wusste nicht, was davon mich wütender machte.

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