Fünf Tage lang umkreisten die Vier Reiter die Mauern Paranors, und fünf Tage lang stand Walker Boh auf den Festungsmauern und beobachtete sie. In der Dämmerung versammelten sie sich jeweils an den Westtoren, Schatten, die aus der Dunkelheit und der vergangenen Nacht gekommen waren. Einer näherte sich, jedes Mal ein anderer, und hämmerte einmal herausfordernd gegen die Tore. Wenn Walker nicht erschien, nahmen sie ihre verbissene Wache wieder auf, verteilten sich, so daß sich an jedem Punkt der Mauer einer befand, einer an jeder der Hauptmauern, wo sie in langsamer, unaufhörlicher Kadenz umherritten. Ihr Kreisen erinnerte an Raubvögel. Sie ritten Tag und Nacht, Geister aus grauem Nebel und düsteren Einbildungen, still wie Gedanken und so sicher wie die Zeit. »Inkarnationen der schlimmsten Feinde des Menschen«, grübelte Cogline, als er sie zum ersten Mal sah. »Manifestationen unserer schlimmsten Ängste, die Mörder so vieler, denen Gestalt und Form gegeben wurde und gesandt sind, um uns zu vernichten.« Er schüttelte den Kopf. »Kann es sein, daß Felsen-Dall Humor hat?«
Walker glaubte das nicht. Er fand nichts von alledem amüsant. Die Schattenwesen schienen grenzenlose, reine Kraft zu besitzen, die Art von Kraft, durch die sie zu allem werden konnten, was sie wollten. Sie war weder geheimnisvoll noch kompliziert. Sie war so direkt und schonungslos wie ein Fluß. Sie schien in der Lage zu sein, sich auf sich selbst aufzubauen und alles beiseite zu fegen, was sich ihr in den Weg stellte. Walker wußte nicht, wie mächtig die Reiter waren, aber er war bereit zu wetten, daß sie ihm mehr als gewachsen waren. Felsen-Dall hätte nichts Geringeres gesandt, sich um einen Druiden zu kümmern – selbst wenn es sich um einen Druiden handelte, der gerade erst einer geworden war, der sich seiner eigenen Kräfte noch unsicher war und das Ausmaß seiner Magie und der Arten, in denen sie ihm dienlich gemacht werden konnte, nicht kannte. Zumindest war eine von Allanons Aufgaben für die Ohmsfords ausgeführt worden, und das bedeutete eine Bedrohung, die die Schattenwesen nicht ignorieren konnten.
Dennoch blieb der Auftrag der Abgesandten ein Rätsel, das Walker nicht lösen konnte. Während er auf den Mauern Paranors stand und die Vier Reiter unter sich kreisen sah, sann er endlos darüber nach, warum sie wohl gesandt worden waren. Was sollte das Schwert von Shannara vollbringen? Welchem Zweck würde es dienen, daß die Elfen in die Welt der Menschen zurückgebracht wurden? Was war der Grund dafür, daß Paranor und die Druiden zurückgeholt worden waren? Oder zumindest einer der Druiden, sann er düster. Ein Druide, geschaffen aus einzelnen Teilen anderer. Er war ein Gemisch aus jenen, die gekommen und gegangen waren, aus ihren Erinnerungen, ihren Stärken und Schwächen, aus ihrem Wissen und ihrer Geschichte, aus ihren Geheimnissen der Magie. Er war in seinem Leben als Druide noch ein Kind, und er wußte nicht, wie er handeln sollte. Jeden Tag öffnete er neue Türen zu dem, was andere von ihm gewußt und weitergegeben hatten, Wissen, das sich in unerwarteten Einblicken offenbarte, Licht, das aus dunklen Winkeln seines Geistes hervorkam, als sei es durch Fenster hereingelassen worden, die lange verriegelt waren und sich jetzt weit geöffnet hatten. Er verstand es überhaupt nicht, bezweifelte es manchmal, stellte seinen Wert häufig in Frage. Aber der Fluß kam unaufhörlich, und er war gezwungen, jede neue Offenbarung zu messen und zu wiegen, wohl wissend, daß sie einst Wert gehabt haben mußte, und akzeptierend, daß sie diesen zurückgewinnen könnte.
Aber welche Rolle sollte er in dem Kampf spielen, den Schattenwesen ein Ende zu bereiten? Er war zu einem Druiden geworden, wie Allanon es gewollt hatte, und er hatte sich selbst zum Herrn von Paranor gemacht. Und dennoch, was sollte er damit anfangen? Sicherlich besaß er jetzt Magie, die gegen die Schattenwesen eingesetzt werden konnte – genau wie die Druiden zuvor Magie benutzt hatten, um den Rassen zu helfen. Er besaß auch Wissen, vielleicht mehr Wissen als jeder andere lebende Mensch, und die Druiden hatten auch dies als Waffe benutzt. Aber es schien Walker, als ob dieser neuerworbenen Macht jegliche erkennbare Einstellung fehlte, und als müsse er erst die Natur seines Feindes begreifen, bevor er einen Weg ersinnen würde, ihn zu schlagen.
Inzwischen war er hier innerhalb der Festungsmauern gefangen, wo er niemandem helfen konnte.
»Sie versuchen ja gar nicht, hineinzugelangen«, stellte Cogline irgendwann nach drei Tagen des Wachehaltens auf den Festungsmauern fest. »Warum, glaubst du, ist das so?«
Walker schüttelte den Kopf. »Vielleicht brauchen sie es nicht. Solange wir darinnen eingeschlossen bleiben, dient das ihrem Zweck.«
Der alte Mann rieb sein bärtiges Kinn. Er war seit seiner Erlösung aus dem halben Leben, an das die Magie der Druidengeschichten ihn übergeben hatte, älter geworden. Er zeigte frische Falten und Runzeln, war gebeugter als zuvor, langsamer in Schritt und Sprache, zerbrechlicher, als sein Alter hätte vermuten lassen. Walker gefiel nicht, was er sah, aber er sagte nichts. Der alte Mann hatte viel für ihn geopfert, und was er gegeben hatte, hatte sichtlich seinen Tribut gefordert. Aber er beschwerte sich nicht und wollte auch nicht darüber sprechen, so daß es für Walker ebenfalls keinen Grund gab, damit anzufangen.
»Vielleicht haben sie Angst vor der Druidenmagie«, fuhr Walker kurz darauf fort und legte seine gesunde Hand auf das Gestein der Festungsmauer. »Paranor ist immer vor jenen beschützt gewesen, die uneingeladen eintreten wollten. Die Schattenwesen wissen vielleicht davon und ziehen es deshalb vor, draußen zu bleiben.«
»Oder vielleicht warten sie, bis sie die Natur und das Ausmaß jener Magie geprüft haben«, sagte Cogline leise. »Sie warten ab und versuchen herauszufinden, wie gefährlich du bist.« Er schaute Walker an, ohne ihn zu sehen, den Blick auf irgend etwas jenseits von ihm gerichtet. »Oder bis sie ganz einfach des Wartens müde werden«, flüsterte er.
Walker überlegte sich Möglichkeiten, wie er diese Schattenwesen schlagen könnte, wandte sie in seinem Geist um und um wie Gegenstände, die einen Schlüssel zur Vergangenheit in sich bergen. Der Schwarze Elfenstein war offensichtlich eine Chance. Er war jetzt in einem Gewölbe tief in den Katakomben der Festung verborgen, aber er würde seinen eigenen Preis fordern, wenn man ihn anrief, und es war kein Preis, den Walker bereitwillig zahlen wollte. Es gab keinen Grund zu glauben, daß der Elfenstein nicht gegen die Vier Reiter wirken und ihnen ihre Magie entziehen würde, bis nichts übrigblieb als Asche. Aber die Natur des Elfensteins erforderte, daß die gestohlene Magie in seinen Träger überführt wurde, und Walker wollte nicht, daß die Schattenwesenmagie ein Teil von ihm wurde.
Es gab auch noch den Stiehl, die seltsame, tötende Klinge, die dem Mörder Pe Ell in Eldwist abgenommen worden war, die Waffe, die alles töten konnte. Aber Walker gefiel die Aussicht nicht, die Waffe eines Mörders zu gebrauchen, insbesondere nicht eine mit der Geschichte des Stiehl, und er dachte, daß genügend Waffen zur Hand wären, die gegen die Schattenwesen gebraucht werden konnten, wenn es nötig würde.
Was er am dringendsten brauchte, das war ein Plan. Er hatte drei Möglichkeiten zur Auswahl. Er konnte innerhalb der Mauern Paranors in Sicherheit bleiben und hoffen, daß die Schattenwesen des Wartens müde wurden, er konnte hinausgehen und ihnen entgegentreten, oder er konnte versuchen, an ihnen vorbeizugelangen, ohne gesehen zu werden. Die erste Möglichkeit bot eine nur sehr schwache Erfolgschance, und zudem war Zeit ohnehin nichts, was er im Überfluß hatte. Die zweite schien unbestreitbar tollkühn.
Blieb nur die dritte.
Fünf Tage, nachdem die Vier Reiter die Belagerung Paranors begonnen hatten, unternahm Walker Boh einen Fluchtversuch. Unter der Erde. Beim Abendessen – einer Mahlzeit, die aus einigen wenigen kleinen Resten jener Vorräte bestand, die mit der Festung in der Zeit eingefroren gewesen und jetzt bald aufgebraucht waren, wodurch die Notwendigkeit, die Belagerung zu durchbrechen verstärkt wurde – erzählte Walker Cogline von seinem Plan. Es gab Tunnel unter der Festung, die sich in die dahinterliegenden Wälder öffneten, Verstecke, die nur den früheren Druiden und jetzt ihm bekannt waren. Er wollte in dieser Nacht durch einen solchen Tunnel schlüpfen und hinter dem Gebiet wieder hervorkommen, wo die Reiter an den Mauern entlang patrouillierten. Er würde an ihnen vorbei und fort sein, bevor sie erkannten, daß er entkommen war.
Cogline runzelte die Stirn und schaute zweifelnd drein. Es klang ihm einfach zu leicht. Sicherlich hatten die Schattenwesen an eine solche Möglichkeit gedacht.
Aber Walker hatte seine Entscheidung getroffen. Fünf Tage herumzustehen war lange genug. Er mußte etwas versuchen, und dies war das beste, was ihm eingefallen war. Cogline und Ondit sollten in der Festung bleiben. Wenn die Reiter einen Angriff versuchten, bevor Walker zurückgekehrt war, sollten sie auf dem gleichen Weg hinausschlüpfen wie er. Cogline stimmte widerwillig zu, beunruhigt durch etwas, worüber er nicht sprechen wollte, so erregt, daß Walker nahe daran war, eine Erklärung zu verlangen. Aber es war nichts Neues, daß der alte Mann sich rätselhaft verhielt, so daß Walker die Angelegenheit schließlich fallenließ.
Er wartete bis Mitternacht und beobachtete noch lange die Schattenwesen, um sicherzugehen, daß sie ihre Runden beibehielten. Das taten sie, geisterhafte Umrisse in der Dunkelheit unter ihm. Unaufhörlich umkreisten sie Paranor. Der Nebel, der das Tal während der letzten vier Tage meistenteils bedeckt hatte, hatte sich in der Dämmerung verzogen, und während die Nacht herannahte, sah Walker Boh auf einmal etwas Neues in dem Tal. Weit im Westen, wo sich die Drachenzähne nordwärts in den Streleheim erstreckten, waren am Eingang des Kennon Passes Wachfeuer zu sehen. Ein Heer lagerte dort und blockierte den Durchgang. Die Föderation, dachte Walker, und schaute über die Bäume des Waldes zu seinen Füßen hinweg über die dahinterliegenden Hügel zu dem Licht. Vielleicht hatte ihre Gegenwart in dem Paß nichts mit der der Schattenwesen vor Paranor zu tun, aber das glaubte Walker nicht. Wissentlich oder nicht, die Föderation diente dem Zweck der Schattenwesen – ein Werkzeug für Felsen-Dall und andere in der Hierarchie des Bündniskonzils – und er konnte berechtigt annehmen, daß die Soldaten im Kennon etwas mit den Vier Reitern zu tun hatten.
Nicht daß es wichtig gewesen wäre. Walker Boh befürchtete keinen Moment lang, daß sich die Föderationssoldaten als Hindernis für ihn erweisen würden.
Als es Mitternacht wurde, verließ er die Mauern und stieg durch die Festung hinab. Er trug Kleider, die so schwarz waren wie die Nacht, locker anlagen und zweckdienlich waren, und er trug keine Waffen bei sich. Er verließ Cogline und Ondit, die ihm nachsahen, während er die Feuergrube betrat. Seine Erinnerungen waren die von Allanon und den Druiden vor ihm, und er stellte fest, daß er seinen Weg so gut kannte, als habe er schon immer in der Festung gelebt. Verborgene Türen in den Mauern der Festung öffneten sich auf seine Berührung hin, und die Gänge waren ihm so vertraut wie die Schlupfwinkel von Hearthstone in der Zeit vor den Träumen von Allanon. Er fand die Tunnel, die unter dem Fels verliefen, auf dem Paranor ruhte, und bahnte sich seinen Weg in die Erde hinab. Überall um sich herum konnte er das beständige Geräusch der Feuer, die in den Kesseln unter der Festung brannten, hören. Sie pochten stetig in ihren Felsenkernen unter den Festungsmauern und waren das einzige Geräusch in der Dunkelheit und Stille.
Er brauchte mehr als eine Stunde, um hindurchzugelangen. Es gab zahlreiche Gänge unter der Festung, die alle miteinander verflochten waren und von einer einzigen Tür ausgingen, die nur er öffnen konnte. Er wählte den Weg nach Westen, denn er wollte die Tunnel in den schützenden Bäumen der Wälder verlassen, die zwischen den Reitern und dem Kennon Paß lagen. Dort würde er sicherlich leicht an den Föderationssoldaten vorbeigelangen, wenn er sich erst einmal von den Schattenwesen befreit hatte. Als er die verborgene Öffnung erreicht hatte, hielt er inne, um zu lauschen. Über ihm war kein Geräusch zu hören und keine Bewegung zu spüren. Dennoch fühlte er sich unbehaglich, als ahne er, daß trotz der scheinbaren Stille nichts in Ordnung war.
Er betrat vom Tunnel aus die Dunkelheit des Waldes, erhob sich in einer Deckung aus Gestrüpp und Felsen wie ein Schatten aus der Erde. Durch Lücken in dem Baldachin aus Zweigen über ihm konnte er die Sterne und einen Schimmer des abnehmenden Mondes sehen. Es war still innerhalb der Bäume, als würde dort nichts leben. Er suchte nach einem Hinweis auf die Anwesenheit der grauen Wölfe, fand aber keinen. Er lauschte auf leise Geräusche von Insekten und Vögeln, aber auch die fehlten. Er untersuchte die Luft und roch eine seltsame Schalheit.
Schließlich atmete er tief durch und trat ins Freie hinaus.
Er hörte, mehr als er es sah, das Schwingen der Sense, die einen Bogen auf ihn zu beschrieb, und warf sich, unmittelbar bevor sie ihn traf, zur Seite. Tod grunzte unter der Anstrengung des Schwungs, seine mit einem Umhang bekleidete, schwarze Gestalt erhob sich auf einer Seite. Walker rollte sich herum, und sah, wie sich eine weitere Gestalt zu seiner Rechten materialisierte. Krieg, in voller Rüstung, die Klingenschneiden und Eisenspitzen gefährlich schimmernd, schleuderte einen Knüppel, der gegen den Baum neben ihm prallte und den Stamm spaltete. Walker wirbelte davon und torkelte panikartig an den skelettartigen Armen von Hungersnot vorbei, dessen weiße Knochen sich ausstreckten und ihn greifen wollten. Sie waren alle da, sie alle, erkannte er verzweifelt. Irgendwie hatten sie ihn aufgespürt.
Er schoß davon, hörte das Brummen und Zischen von Seuche, spürte die trockene Hitze und die stinkende Krankheit dicht neben sich. Er übersprang eine schmale Senke, und seine Angst verlieh ihm unerwartete Kräfte. Eine brennende Entschlossenheit baute sich in ihm auf. Die Reiter verfolgten ihn und stiegen jetzt sogar von ihren Reittieren ab, um ihn fangen zu können. Sie waren Teile der Nacht, freigebrochen wie Kanten von einer zerbrochenen Klinge. Er hörte ihre Bewegungen, wie er vielleicht auch das Rascheln von Blättern in einem leichten Wind gehört hätte, und auch ihr leises Flüstern. Da war nichts anderes – keine Schritte, kein Atmen, kein Schaben von Waffen oder Knochen.
Walker lief durch die Bäume. Er wußte nicht mehr, in welche Richtung er lief, sondern war nur bestrebt, seinen Verfolgern zu entkommen. Plötzlich hatte er sich in der Dunkelheit der Waldpfade verirrt, floh nur noch zu dem Zweck, entkommen zu können. Jeder Vorteil der Überraschung war verspielt. Die Schattenwesen kamen näher. Sie waren schnelle und sichere Jäger. Er registrierte ihre Bewegungen aus den Augenwinkeln. Sie waren jetzt auf gleicher Höhe mit ihm und jagten ihn, wie Hunde einen Fuchs jagen würden.
Nein!
Schließlich wirbelte er herum und setzte seine Magie ein. Er warf eine Feuerwand zwischen sich und seinen Verfolgern auf und ließ die Flammen wie weißheiße Dornen in ihre Gesichter fliegen. Krieg und Seuche wichen zurück und verlangsamten ihren Schritt, aber Hungersnot und Tod drangen unbeirrt weiter vor. Natürlich, dachte Walker, während er erneut weiterlief. Hungersnot und Tod. Feuer konnte ihnen nichts anhaben.
Er überquerte einen Wasserlauf und wandte sich dann nach rechts, dem Hügel zu, auf dem Paranor stand, Türme und Mauern vor der Nacht scharf abgegrenzt. Er war diesen Weg entlanggelaufen, ohne sich dessen bewußt zu sein, und sah in ihm jetzt seine einzige Chance zur Flucht. Wenn er die Festung erreichen konnte, bevor sie ihn erwischten...
Cogline! Beobachtete der alte Mann die Szenerie?
Schlangenähnlich und glatt vor Feuchtigkeit erhob sich vor ihm etwas aus der Nacht. Klauen streckten sich nach ihm aus, und Zähne schimmerten. Es war eines der Reittiere der Schattenwesen, dort postiert, um ihm den Weg abzuschneiden. Er glitt unter seinem Zugriff hindurch, wie ein Teil der Nacht, der nicht festgehalten werden konnte, und die Magie ließ ihn so schnell und flüchtig werden wie der Wind. Das schlangenähnliche Wesen zischte und schlug wild zu, so daß Klumpen Erde aufflogen. Walker eilte mit der Schnelligkeit eines Gedankens davon. Vor ihm ragte die Festung der Druiden auf – sein Sanktuarium, seine Zuflucht vor diesen Wesen.
Eine dunkle Bewegung zu seiner Linken ließ ihn zur Seite ausweichen, als Hungersnot mit einem aus Knochen geschnitzten Schwert zuschlug, ein dumpfes, weißes Schimmern, das an den äußeren Kanten seiner Kleidung zerrte. Walker verlor den Halt und fiel, stürzte einen Abhang hinab, durch Gestrüpp und langes Gras und in eine Pfütze stehenden Wassers hinein. Etwas eilte an ihm vorbei und verfehlte ihn mit seinem zuschnappenden Kiefer nur knapp. Ein weiteres der schlangenähnlichen Wesen. Walker sprang auf und sandte in dem verzweifelten Versuch, sich abzuschirmen, Feuer und Geräusche in alle Richtungen. Er hörte befriedigt, daß etwas vor Schmerz aufschrie, daß etwas anderes grunzte, als sei es mit einer Keule geschlagen worden, und dann lief er erneut weiter. Bäume erhoben sich an den Seiten, und er verschwand hinein und suchte die Deckung der tiefen Schatten. Sein Atem kam abgehackt und ungleichmäßig, und sein Körper schmerzte. Erschreckt stellte er fest, daß er sich wieder von der Festung fortbewegte und sich von jenem Ort der Sicherheit abwandte, die er zu erreichen gehofft hatte.
Ein Schatten huschte zu seiner Linken davon, schnell und leise, ein schwarzer Umhang und das Schimmern einer Metallklinge. Tod. Walker wurde müde. Er war erschöpft von seiner Flucht und davon, daß er so häufig gezwungen gewesen war, die Richtung zu wechseln. Die Schattenwesen hatten ihn umringt und schlossen langsam den Kreis um ihn. Er glaubte nicht, daß er die Festung erreichen konnte, bevor sie ihn einholten. Er versuchte erneut umzukehren, aber er sah Bewegung zwischen sich und der Festung, und er hörte ein erwartungsvolles Rascheln von Schuppen in Gras und Gestrüpp. Walker konnte sein Entsetzen kaum noch unter Kontrolle halten und spürte es als zunehmende Lähmung in seiner Kehle. Er hatte sich zu früh gefreut, war sich seiner selbst zu sicher gewesen. Er hätte wissen müssen, daß es nicht so leicht werden würde. Er hätte es voraussehen müssen.
Zweige schlugen ihm gegen Gesicht und Arme, als er sich seinen Weg in einen Streifen tiefsten Waldes erzwang. Hinter ihm kam die Schlange heran. Ihm war, als könne er ihren Atem auf seinem Nacken spüren, die Berührung von Klauen und Zähnen auf seinem Körper. Er beschleunigte seinen Schritt, brach aus dem Unterholz zu einer Lichtung durch und fand dort Tod wartend vor, mit Umhang und Kapuze bekleidet, die Sense erhoben. Das Schattenwesen griff ihn an, verfehlte ihn, als er seitwärts auswich, schwang die Sense ein zweites Mal, und diesmal konnte Walker die Sense ergreifen und sie von sich abwenden. Sofort betäubte eine Kälte hohl und markerschütternd seine Hand und seinen Arm, und er schrak vor Schmerz zurück und stieß die Sense und denjenigen, der sie führte, mit der gleichen Bewegung beiseite. Etwas anderes kam von rechts heran, aber er lief erneut los und stürzte, glitt an Reihen dunkler Stämme vorbei, als seien sie substanzlos, während er die Taubheit unaufhörlich tiefer in sich eindringen spürte.
So kalt!
Seine Kräfte ließen jetzt nach, und er war nicht näher an jenem Ort der Sicherheit als zuvor. Denke, mahnte er sich wütend. Denke! Schatten bewegten sich überall um ihn herum, der skelettartige Umriß von Hungersnot, das abscheuliche Brummen von Seuche, das Poltern von Krieg in seiner undurchdringlichen Rüstung, das leise Eilen von Tod und bei ihnen waren die Schlangen, die sie befehligten.
Dann stieg plötzlich eine Erinnerung in ihm auf, und Walker Boh ergriff die hauchdünne Hoffnung, die sie bot. Es gab eine verborgene Falltür in der Erde unmittelbar vor ihm, und ein darunterliegender Tunnel führte wieder nach Paranor zurück. Der Gedanke an die Falltür war Allanons Erinnerung, die in dem Entsetzen und der Pein des Augenblicks lebendig geworden war und gerade rechtzeitig aufstieg. Dort, zur Linken! Walker wandte sich um, sprang vorwärts, wobei seine Hand und der Arm sich so tot anfühlten wie der, den er bereits verloren hatte. Denk nicht darüber nach! Er warf sich in ein Gestrüpp, eilte an laubreichen Hindernissen vorüber, und eine Senke hinab.
Dort!
Seine Hand sank zu Boden und grub mit schwachen Fingern nach der verborgenen Tür. Sie war hier, dachte er, hier in diesem Fleck Erde. Geräusche näherten sich hinter ihm, kamen heran. Er fand einen Eisenring, ergriff ihn und zog ihn hoch. Die Tür gab mit einem dumpfen Schlag nach und fiel zurück. Walker stürzte durch die Öffnung die dahinterliegende Treppe hinab und kam erst dann wieder auf die Füße. Schatten drangen durch den Eingang. Er hob seine verletzte Hand und den Arm, kämpfte sich durch Taubheit und Kälte und beschwor die Magie herauf. Feuer brach oben an der Treppe aus und erfüllte die Öffnung. Die Schatten verschwanden in einer Lichtkugel. Erde und Gestein brachen auf, und der Eingang brach in sich zusammen.
Walker sprang in den Tunnel hinein und würgte und hustete von dem Staub und dem Rauch. Zweimal schaute er zurück, um sicherzugehen, daß nichts ihm folgte.
Aber er war allein.
Er wurde von Zweifeln und Ängsten bedrängt, während er sich seinen Weg durch die Tunnel zurück in die Festung bahnte, bestürmt von Dämonen, die die Gesichter seiner Feinde trugen. Es schien, als könnte er seine Verfolger sogar hier hören, als seien sie in die Erde herabgestiegen, um zu beenden, was sie begonnen hatten. Tod, Krieg, Seuche und Hungersnot – was war Fels und Erde für sie? Konnten sie nicht überall hindurchdringen? Was sollte sie draußen halten?
Aber sie kamen nicht, denn trotz der Gestalten und Identitäten, die sie angenommen hatten, waren sie nicht unbesiegbar und nicht wirklich die Inkarnationen, die zu sein sie vorgaben. Er hatte sie vor Schmerz aufschreien hören, er hatte ihre Substanz gespürt. Die Taubheit in einer Hand und seinem Arm begann zu weichen, und er begrüßte dankbar das Kribbeln und spürte erneut den Schmerz des Verlusts seines anderen Armes, wünschte, er könnte diesen Teil seines Lebens noch einmal durchleben.
Er fragte sich, wieviel mehr er von sich selbst aufzugeben gezwungen sein würde, bevor sein Kampf vorüber war. Hatte er nicht Glück, einfach noch am Leben zu sein? Wie knapp er den Schattenwesen dieses Mal entkommen war!
Und dann kam es ihm plötzlich in den Sinn, daß er vielleicht nicht wirklich irgend etwas entkommen war. Vielleicht hatte man ihm gestattet zu entkommen. Vielleicht hatten die Reiter nur mit ihm gespielt. Hatten sie nicht ausreichend Möglichkeiten gehabt, ihn zu töten, wenn sie es gewollt hätten? Es schien, nach einigem Nachdenken, daß sie vielleicht eher versucht hatten, ihm Angst einzujagen, als ihn zu töten, genug Angst in ihm erwecken wollten, daß er zu keiner Handlung mehr fähig wäre, wenn er erst wieder innerhalb der Druidenfestung war.
Aber er nahm fast augenblicklich Abstand von dieser Idee. Es war lächerlich zu glauben, daß sie ihn nicht getötet hätten, wenn sie es gekonnt hätten. Sie hatten es einfach versucht und waren gescheitert. Er hatte genug Können und Magie besessen, um sich sogar in der Verwirrung eines Hinterhalts zu retten, und er würde daraus allen Trost ziehen, der ihm möglich war.
Schmerzgequält und erschöpft betrat er erneut die Mauern Paranors und nahm seinen Weg zurück in die Festung. Cogline wartete gewiß. Er würde dem alten Mann sein Scheitern gestehen müssen. Der Gedanke betrübte ihn, und er war sich der Tatsache bewußt, daß es seine vorgefaßte Meinung über die Unbesiegbarkeit der Druiden war, die ihn daran hinderte, diesen Gedanken zu akzeptieren. Aber er konnte sich Stolz nicht leisten. Er war noch ein Novize. Er begann erst zu lernen.
Langsam fielen die Ängste und Zweifel von ihm ab, und die Dämonen verschwanden. Es würde eine andere Zeit geben, versprach er sich – eine andere Zeit und einen anderen Ort, wo er sich um die Reiter kümmern konnte.
Wenn es soweit wäre, würde er bereit sein.