Morgan Leah beobachtete, wie Wren im weichenden Nachtdunkel verschwand, seine Enttäuschung darüber, daß er nicht Par gefunden hatte, wurde von der Zufriedenheit gemildert, daß seine Bemühungen nicht umsonst gewesen waren. Welch ein Zufall, daß er ausgerechnet Wren gefunden hatte! Er kam zu dem Schluß, daß die Welt kleiner war, als sie schien, und daß die Kinder von Shannara deshalb vielleicht doch eine Chance gegen die Schattenwesen hatten.
Er wandte sich bald ostwärts, betrachtete den heller werdenden Horizont, das silbergraue Licht, das in trägen, breiter werdenden Bahnen durch die Baumspitzen und die Berghänge hinabströmte. Der Tagesanbruch überraschte ihn. Die Deckung der Nacht, die ihn geschützt hatte, war bereits fort, und er war in größerer Gefahr, als er gedacht hatte.
Er schaute kurz zu dem Gehäuse des umgestürzten Wagens und dem dunklen Gewirr der toten Schattenwesen hinüber und verspürte einen Moment Stolz. Er hatte sich gegen sie alle behauptet!
Aber wo sollte er hingehen? Die Schattenwesen in der Südwache würden anrücken. Es würde ihnen keine Probleme bereiten, seine Spur zu finden, und sie würden ihn aufspüren, und er würde dafür bezahlen müssen, was er getan hatte. Er atmete tief durch und schaute sich genauer um, ob er nicht einen Ausweg finden konnte. Er durfte nicht zu der Klippe zurückkehren. Das wäre der erste Ort, an dem sie ihn suchen würden. Sie würden seine Spur finden und seine Schritte zurückverfolgen und hoffen, daß er dumm genug wäre, dorthin zurückzukehren, wo er sich verborgen gehalten hatte, wo auch immer das war.
Er lächelte schwach. Er war natürlich nicht so dumm, aber es war keine schlechte Idee, sie glauben zu machen, daß er es wäre.
Er überquerte die Engstelle, durch die er zuerst gekommen war, und ging auf seiner Spur durch die Bäume und über die Hügel wieder zurück, ohne sich die Mühe zu machen, seine Abdrücke zu verwischen. Statt dessen brachte er sie so durcheinander, daß verborgen blieb, wie viele von ihm da waren. Schließlich wandte er sich um und ging erneut zurück, diesmal allerdings vorsichtiger, denn die Schattenwesen waren in seiner Abwesenheit vielleicht bereits angekommen. Sie waren jedoch noch nicht da. Die Engstelle und die dahinterliegenden Ebenen waren leer bis auf die Toten. Er ging den Weg zurück, auf dem der Wagen hereingekommen war, und benutzte die Wagenspur, um seine Stiefelabdrücke zu verbergen. Er folgte ihr mehrere Meilen durch die Hügel, bevor er sich abrupt nordwärts dem hohen Gras zuwandte und vorsichtig in die Felsen eines Berggrates vordrang. Wenn er Glück hatte, fanden sie die Stelle nicht, an der er die Wagenspur verlassen hatte, und waren gezwungen, das Land weiträumig zu durchsuchen. Das würde ihm die zusätzliche Zeit verschaffen, die er brauchte, um dorthin zu gelangen, wohin er gehen wollte.
Natürlich war das alles bedeutungslos, wenn die Schattenwesen eine Spur nach dem Geruch finden konnten. Wenn sie wie Tiere jagen konnten, dann war er auf jeden Fall in Schwierigkeiten, außer wenn er sich vielleicht im Schlamm wälzte und übelriechende Pflanzen anwandte, und darauf war er nicht vorbereitet. Was sonst konnten die Schattenelfen tun? Er wünschte, er wüßte mehr über sie, wünschte, er hätte sich die Zeit genommen, Wren danach zu fragen, aber das half jetzt nichts. Er würde es ausprobieren müssen. Er atmete die Morgenluft und dachte, wie glücklich er war, daß er die Magie des Schwertes von Leah als Schutz hatte, erkannte dann aber, daß er eine Antwort auf seine Frage bekommen hatte, ob die Macht ihn retten oder verschlingen würde. Natürlich bedeutete das nicht, daß er mit ihr sicher war und daß er sich bei ihrem Gebrauch entspannen konnte, daß er auch nur sicher sein konnte, daß sich die Dinge beim nächsten Mal genauso entwickeln würden. Es bedeutete nur, daß er im Moment überlebt hatte, aber es wurde zunehmend deutlicher, daß das Überleben, egal zu welchen Bedingungen, das Beste war, was er – was jeder von ihnen – im Kampf gegen die Schattenwesen erhoffen konnte.
Eines Tages wird es anders sein, sagte er sich, aber insgeheim fragte er sich, ob das wirklich stimmte.
Das Land vor ihm verengte sich zu einer Ansammlung von Hügeln und Graten, von Senken, die mit Gestrüpp überwuchert waren, und dichten Wäldern, die sich an den Runne anlehnten. Er bewegte sich auf Felsgestein, nahm sich Zeit, versuchte, leicht aufzutreten, damit nicht lose Steine und herabgebogene Zweige unter seinem Schritt nachgaben. Er hatte folgendes überlegt: Im Süden lag die Klippe, auf der er Wache gehalten hatte, und die Schattenwesen würden dort beginnen, wenn sie ihn jagten. In den Westen war Wren geritten, und dort würden sie ihn sicherlich auch jagen. Im Norden lagen die Städte Callahorns – Tyrsis, Kern und Varfleet –, und das war eigentlich die nächste logische Wahl. Der letzte Ort, an dem sie suchen würden, war das Land, das im Osten die Südwache, ihre Festungszitadelle, umgab, denn es würde ihnen wenig wahrscheinlich erscheinen, daß jemand, der gerade eine ihrer Patrouillen vernichtet hatte, um die Königin der Elfen zu retten, an denselben Ort eilen würde, den die Patrouille angestrebt hatte.
Königin der Elfen, sann er und unterbrach damit seine Gedanken. Wren Elessedil. Kleine Wren. Er schüttelte den Kopf. Er hatte sie kaum gekannt, als sie noch mit Par und Coll ihre Kindheit verbrachte. Es war schwer zu glauben, wer sie jetzt war.
Er verzog das Gesicht. Das traf natürlich auf sie alle zu, dachte er wehmütig, und er ließ das Thema achselzuckend fallen.
Die Sonne stand jetzt über dem Horizont. Die Schatten der Nacht hatten sich wieder in ihre Verstecke verzogen, die Schwüle der Sommerhitze stieg durch das Gras und die Bäume auf. Die Luft waberte übelriechend um ihn herum, und die Erde zu seinen Füßen stob zu Staubwolken auf. Morgan traf auf einen Fluß, folgte ihm bis zu einer Stromschnelle, an der das Wasser klar war, und trank. Er hatte weder Nahrung noch Wasser bei sich, und er würde sich beides besorgen müssen, wenn er überleben wollte. Er dachte einen Augenblick an Damson und Matty und hoffte, daß sie nicht gerade diesen Tag für ihre Rückkehr von der Suche im Süden ausgewählt hatten. Sie würden ihn auf jener Klippe erwarten, würden dort aber statt dessen wahrscheinlich Schattenwesen vorfinden. Kein erfreulicher Gedanke. Er mußte sie warnen, aber dafür mußte er erst einmal am Leben bleiben.
Er ließ den Fluß hinter sich und strebte höher gelegenen Landstrichen zu. Aus dem Schutz eines Kiefernhaines heraus schaute er über die Hügel gen Süden zurück und suchte die Landschaft nach Anzeichen einer Verfolgung ab. Er blieb lange Zeit dort und beobachtete das Land. Nichts zeigte sich. Schließlich ging er weiter und zog östlich auf die Berge und den Fluß und die Südwache zu. Er befand sich oberhalb der Zitadelle, ausreichend tief in den schützenden Bäumen, daß er nicht gesehen wurde, aber ausreichend nah, um den Kontakt nicht zu verlieren. Er kam trotz seiner Wunde stetig voran, denn der Schmerz war nur noch ein dumpfes Pochen, das er in sein Unterbewußtsein abgeschoben hatte. Er arbeitete sich mit der Erfahrung und Entschlossenheit eines geübten Waldbewohners voran. Er konnte spüren, was um ihn herum geschah, und konnte sich als Teil dieses Landes fühlen. Er lauschte auf die Geräusche der Vögel und Tiere, erspürte, wie es ihnen erging, und wußte, daß alles in Ordnung war.
Der Tag näherte sich dem Mittag, und noch immer gab es keinerlei Anzeichen für eine Verfolgung. Er begann zu hoffen, daß er vielleicht vollständig entkommen war. Er fand Früchte und wilde Kräuter, auf denen er kauen konnte, und weiteres Trinkwasser, und als er die Wand des Runne erreichte, wandte er sich erneut gen Süden. Er verlagerte das Schwert von Leah, um den Druck von seiner Wunde zu nehmen, und dachte an seine Vergangenheit. So viele Jahre der Ruhe, ein Relikt einer anderen Zeit, in der seine Magie bis zu seiner Begegnung mit den Schattenwesen während seiner Reise nach Culhaven vergessen war. Zufall, nichts weiter. Seltsam, wie sich die Dinge entwickelten. Er dachte über die Wirkung nach, die das Schwert auf sein Leben gehabt hatte, daran, wie es sowohl für als auch gegen ihn gearbeitet hatte, an die Hoffnung und die Verzweiflung, die es ihm auferlegt hatte. Er dachte, daß es nicht mehr wichtig war, ob er es guthieß oder nicht, ob er grübelte, ob seine Verbindung mit der Magie eine gute oder eine schlechte Sache sei, weil es im nachhinein schließlich nicht wichtig war – die Magie war einfach. Quickening, dachte er, hatte diese Unvermeidlichkeit klarer erkannt als er, und sie hatte das Schwert geheilt, weil sie gewußt hatte, daß die Magie ihm ganz gehören mußte, wenn sie die seine sein sollte, und nicht nur eingeschränkt oder fehlerhaft. Quickening hatte verstanden, wie das Spiel gespielt wurde. Ihr Vermächtnis war es gewesen, daß sie ihm die Regeln beigebracht hatte.
Er machte Rast, als die Hitze des Tages ihren Höhepunkt erreicht hatte und als weißheißes Schimmern von der verdorrten Erde aufstieg. Er saß im Schatten eines alten Ahornbaums, dessen breitblättrige Zweige ihn wie ein Zelt überspannten. Eichhörnchen und Vögel turnten durch die schützenden Zweige, ohne auf ihn zu achten. Sie waren mit ihren eigenen Verfolgungsjagden beschäftigt. Morgan spähte durch die Bäume hindurch zu den Hügeln und dem Grasland im Süden und Osten; er hatte das Schwert von Leah zwischen seinen Beinen aufgestellt und seine Arme über dem Heft gekreuzt. Er fragte sich, ob Wren in Sicherheit war. Er fragte sich, wo all die anderen waren, die mit ihm in dieses Abenteuer aufgebrochen und irgendwo auf dem Weg verlorengegangen waren. Einige waren natürlich tot. Aber was war mit den anderen? Er scharrte mit den Stiefeln auf dem Boden und wünschte, er könnte alles Verborgene sehen, und dachte dann, daß es vielleicht besser war, wenn er es nicht sah.
Am späten Nachmittag sank die Temperatur wieder auf erträgliches Maß ab, und er zog weiter. Die Schatten verlängerten sich erneut und strebten von den Bäumen und den Felsen und den Wasserrinnen und den Graten fort, hinter denen sie sich verborgen gehalten hatten. Die Südwache kam in Sicht, und er sah, wie ihr dunkler Obelisk sich aus den vergifteten Ebenen erhob, wo der Mermidon in den Regenbogensee mündete. Der See selbst war flach und silbrig, ein Spiegel des Himmels und des Landes, und die Farben seines Bogens waren in dem verblassenden Licht fahl und ausgewaschen. Kraniche und Reiher glitten über seine Oberfläche, er sah sie als vage Blitze von Weiß vor dem grauen Dunst einer herannahenden Dämmerung.
Er blieb stehen, um sich umzusehen, und das rettete ihm wohl das Leben.
Die Vögel waren plötzlich verstummt, und vor ihm in den Bäumen entstand Bewegung. Sie war kaum wahrnehmbar, aber dennoch war sie da, wenn auch nur fern und unbestimmt im fahler werdenden Licht. Morgan wich so lautlos wie herabsinkende Schatten ins Gestrüpp zurück und gefror an seinem Platz. Kurz darauf erschienen Schattenwesen, eines, zwei, dann vier weitere, eine Patrouille, die geräuschlos durch den Wald zog. Sie schienen keiner Spur zu folgen, sondern schienen nur zu suchen, und der Gedanke, daß sie ihren Geruchssinn zum Jagen gebrauchen könnten, ließ Morgan frieren. Sie waren noch mehrere hundert Meter entfernt und zogen an dem Hang entlang. Ihr Weg würde sie unter der Stelle, an der er sich verbarg, vorbeiführen, aber über die Spur hinweg, die er hinterlassen hatte. Er wollte davonlaufen, so schnell wie der Wind davonfliegen, aber er wußte, daß er es nicht konnte, und zwang sich zu warten. Die Jäger trugen schwarze Umhänge und Kapuzen, aber nicht das Emblem der Sucher. Hier gab es keine Verstellung, und das bedeutete, daß sie sich entweder nicht bedroht fühlten oder sich nicht darum kümmerten. Keiner diese beiden Gedanken war sehr ermutigend.
Morgan beobachtete, wie sie wie Vorboten der Nacht durch den Wald glitten und außer Sicht verschwanden.
Sofort ging er weiter, strebte schnell vorwärts, um so viel Entfernung wie möglich zwischen sich und die schwarzgewandeten Jäger zu legen. Suchten sie nach ihm oder nach jemand anderem? Nach irgend jemandem vielleicht, nach allem, was ihrer Patrouille geschehen war. Vielleicht waren sie ja besorgt, daß sich noch andere dort verbergen könnten? Es war unwichtig, beschloß er schnell. Es genügte, daß sie dort draußen waren und daß sie ihn wahrscheinlich früher oder später finden würden.
Er überdachte seinen ursprünglichen Plan, konzentrierte sich auf seine Füße und wurde keinen Moment langsamer. Er würde nicht auf dieser Seite des Mermidon bleiben. Er wollte den Fluß überqueren und auf der anderen Seite warten. Von dort würde er das Ufer und den See nach Anzeichen von Damsons und Mattys Rückkehr absuchen können. Leider konnte er keine Stelle finden, von der aus er auch die Südwache im Auge behalten konnte, aber es war zu gefährlich, allzusehr in der Nähe zu bleiben. Das beste war, wenn er auf Damsons Bericht darüber wartete, was das Skree auf ihrer Reise nach Süden offenbart hatte. Dann sollte sie, wenn nötig, seine Magie ausprobieren. Das würde genügen müssen.
Er war der Südwache jetzt sehr nah und sah, daß er den Mermidon nicht erreichen konnte, ohne den Schutz der Bäume zu verlassen. Das bedeutete, daß er auf die Dunkelheit warten mußte, und die Dunkelheit war noch immer Stunden entfernt. Zu lang, um an einer Stelle zu bleiben, wie er wußte. Er kauerte sich in die Schatten und beobachtete das Land zu seinen Füßen und hielt nach einem Grund Ausschau, seine Pläne erneut zu überdenken. Der Wald wurde vom Runne aus lichter und erstreckte sich so gen Süden, daß auf den Ebenen, die sich östlich zum Fluß hin erstreckten, keine Deckung gegeben war. Er knirschte vor Enttäuschung mit den Zähnen. Es war zu riskant, er durfte es nicht versuchen. Er würde in die Berge zurückgehen und versuchen müssen, einen Paß zu finden, der nach Osten führte, oder den ganzen Weg zurückgehen müssen, den er gekommen war. Das war unmöglich, die erste Route aber gefährlich.
Aber noch während er über die Alternativen nachdachte, bemerkte er neuerliche Bewegung in den Bäumen vor sich. Erneut gefror er an seinem Platz und suchte die Schatten ab. Er hatte sich vielleicht geirrt, sagte er sich. Es schien dort nichts zu sein.
Dann trat eine Gestalt in einem schwarzen Umhang kurzzeitig ins Licht, bevor sie wieder verschwand.
Schattenwesen.
Er zog sich hastig in den tiefen Schutz der Bäume zurück, und sein Geist arbeitete fieberhaft. Er kehrte um, um sich höher in die Felsen hinaufarbeiten zu können. Er würde nach einem Paß durch den Runne suchen müssen. Wenn es ihm jedoch nicht gelang, einen Weg hindurch zu finden, würde er im Schutz der Dunkelheit zurückgehen müssen. Der Gedanke, bei Nacht dort draußen zu sein, während die Schattenwesen noch immer nach ihm suchten, gefiel ihm nicht, aber er hatte auf einmal keine andere Wahl mehr. Er zwang sich, tief und langsam zu atmen, während er durch die Bäume zurückging und versuchte, ruhig zu bleiben. Es waren hier zu viele Schattenwesen auf der Jagd, als daß es etwas anderes sein konnte als eine bewußte Suche nach ihm. Irgendwie hatten sie herausgefunden, wo er war, und kreisten ihn ein. Er spürte, wie sich seine Kehle verengte. Er hatte an diesem Tag einen Kampf überlebt, aber er fühlte sich bei der Aussicht, einen weiteren überstehen zu müssen, nicht sehr wohl.
Der Sonnenuntergang näherte sich, und der Bergwald versank in windstiller Ruhe. Er bewegte sich methodisch und geräuschlos, denn er wußte, daß jedes kleine Geräusch ihn verraten konnte. Er spürte, wie das Gewicht des Schwertes von Leah auf seinen Rücken drückte, und widerstand der Versuchung, nach ihm zu greifen. Es war dort, wenn er es brauchte, sagte er sich – und er hoffte inständig, daß er es nicht brauchen würde.
Er überquerte einen Grat, als er einen Schatten in den Bäumen über einer gestrüppüberwucherten Schlucht weit vor sich sah. Der Schatten war im Handumdrehen da und wieder fort, und er hatte den Eindruck, daß er ihn eher gespürt als gesehen hatte. Aber es gab keinen Zweifel darüber, was er war, und er kauerte sich ganz zusammen und bahnte sich seinen Weg in das dichte Gebüsch zu seiner Rechten und stieg höher in die Felsen hinein. Einer von ihnen, schloß er – nur einer. Ein einsamer Jäger. Der Schweiß auf seinem Gesicht und Hals ließ seine Haut warm und klebrig werden, und seine Rückenmuskeln waren so verkrampft, daß sie schmerzten. Er spürte seine Wunde wieder pochen und sehnte sich nach einem Schluck Bier, um seine verdorrte Kehle zu befeuchten. Er merkte, daß der Weg hinauf von einer Klippenwand blockiert war, und wandte sich widerwillig um. Er hatte das Gefühl, daß er getrieben wurde, und er bekam Angst, daß er allmählich überall Wände finden würde.
Er hielt am Rande eines Abgrunds inne und schaute zu den von Samt umhüllten Bäumen zurück. Nichts bewegte sich, aber dennoch war dort etwas, das mit stetiger Behutsamkeit herankam. Morgan überlegte, ob er sich auf die Lauer legen sollte. Aber jegliche Art von Kampf würde die anderen Schattenwesen im Wald anlocken. Es war besser, wenn er weiterging. Später konnte er immer noch kämpfen.
Die Bäume vor ihm wurden lichter, während immer mehr Felsen hervorbrachen und die Hänge zu jähen Klippen abfielen. Er war so hoch hinaufgelangt, wie er kommen konnte, ohne den Schutz der Bäume zu verlassen, und es war noch immer kein Paß zu sehen, der durch die Berge hindurchgeführt hätte. Er dachte, er könnte das Geräusch des irgendwo jenseits der Felswand vorbeiströmenden Flusses hören, aber das war vielleicht auch nur Einbildung. Er fand einen Hain dichter Nadelbäume, suchte darin Schutz und lauschte auf den Wald um sich herum. Vor ihm und jetzt auch unter ihm waren Bewegungen spürbar. Die Schattenwesen waren überall um ihn herum. Sie mußten seine Spur gefunden haben. Es war noch immer hell genug, um einer Spur zu folgen, und sie kamen auf ihn zu. Sie würden ihn vielleicht nicht einholen, bevor es zu dunkel wurde, um seinen Fußabdrücken folgen zu können, aber er glaubte nicht, daß das noch wichtig war, wenn sie nun schon so nah waren. Ihnen war die Dunkelheit vertrauter als ihm, und es war sicher nur eine Frage der Zeit, bis sie ihn erwischten.
Es war das erste Mal, daß er sich den Gedanken erlaubte, daß er vielleicht nicht entkommen würde.
Er griff nach hinten und zog sein Schwert hervor. Die Obsidianklinge schimmerte matt in dem dämmerigen Zwielicht und lag tröstlich in seiner Hand. Er stellte sich vor, spüren zu können, wie ihre Magie mit geflüsterten Versicherungen, daß sie da sein würde, wenn er sie riefe, auf ihn reagierte. Sein Talisman gegen das Dunkle. Er senkte den Kopf und schloß die Augen. Hatte das alles nur dazu geführt? Zu einem weiteren Kampf in einer endlosen Reihe von Überlebenskämpfen? Er war dies alles so leid. Er konnte nicht anders, er mußte so denken. Er war müde, und sein Herz war schwer.
Laß es sein!
Er öffnete die Augen, erhob sich und ging durch die Bäume weiter, erneut gen Süden auf die Ebenen zu, die zur Südwache hinabführten. Er hatte seine Meinung geändert. Er fühlte sich besser, wenn er sich bewegte, als sei die Bewegung natürlich und könnte ihn auf irgendeine Weise schützen. Er glitt durch den Wald hinab, wählte sehr sorgfältig seinen Wieg und lauschte auf jene, die ihn fangen wollten. Schatten bewegten sich um ihn herum, er sah sie als leichte Veränderungen des Lichts, kleine Bewegungen, die sein Herz heftig schlagen ließen. Irgendwo in der Ferne schrie sanft eine Eule. Der Wald war wie eine schimmernde und sich wandelnde Strömung in einem langsamen, stetigen Fluß.
Auf der Suche nach dem einsamen Jäger hinter ihm schaute er wiederholt zurück, aber er sah nichts. Die Schattenwesen vor ihm waren genauso unsichtbar, und er dachte, daß sie vielleicht genausowenig wie der andere wußten, wo er war. Er hoffte, daß sie nicht ihre Gedanken austauschen konnten, aber er hätte auch nicht dagegen gewettet. Es schien nur wenige Beschränkungen für die Magie zu geben, die sie führte. Aber das war falsches Denken, schalt er sich. Es gab immer Beschränkungen. Er mußte herausfinden, welcher Art sie waren.
Er erreichte eine Gruppe Zedern, die vor einer Klippe wuchs, und kauerte sich zwischen ihnen erneut zusammen, um zu lauschen. Er blieb einige Minuten lang so still wie der Fels hinter ihm und hörte nichts. Aber die Schattenwesen waren noch immer dort draußen, das wußte er. Sie suchten noch immer nach ihm...
Und dann sah er sie. Zwei von ihnen waren ganz nah und strichen nur einige hundert Fuß unter ihm durch die Bäume. Und dann sah er die Schatten in ihren schwarzen Umhängen auf sein Versteck zukommen. Er spürte, wie sein Mut sank. Wenn er sich jetzt bewegte, würden sie ihn sehen. Wenn er blieb, wo er war, würden sie ihn finden. Welch großartige Auswahl, dachte er verbittert. Er hielt noch immer das Schwert von Leah in den Händen und festigte jetzt seinen Griff. Er würde ihnen entgegentreten und kämpfen müssen. Er würde es tun müssen, obwohl er wußte, wie es wahrscheinlich enden würde.
Er dachte zurück an den Jut, an Tyrsis, Eldwist, Culhaven und an all die anderen Orte, an denen er gefangengenommen und bestraft worden war, wenn er zu fliehen versucht hatte, und er dachte verzweifelt und verärgert, daß dies nur einmal...
Und dann legte sich plötzlich eine Hand wie eine Eisenklammer über seinen Mund, und er wurde nach hinten in die Bäume gerissen.