4

Der Mann in der Festung war Walker Boh, und er bewanderte ihre Brustwehren und Zinnen, ihre Türme und Verliese, all die Gänge und Wege, die ihre Grenzen bestimmten, wie der Geist, der er gewesen war, und der Verbannte, als der er sich fühlte. Paranor, die Druidenfestung, war zurückgebracht worden, zurückgekommen in die Welt der Menschen, von Walker und der Magie des Schwarzen Elfensteins wieder zum Leben erweckt. Paranor stand wieder da, wo es schon dreihundert Jahre zuvor gewesen war, erhob sich aus dem dunklen Wald, in dem Wölfe umherstrichen und Dornen von der Größe von Lanzenspitzen abwehrend hervorragten. Es erhob sich aus der Erde, auf einer Klippe gelegen, wo es über das ganze Tal, das es dominierte, hinweg gesehen werden konnte, vom Kennon bis zum Jannisson, von einer Kammlinie der Drachenzähne zur anderen. Türme und Mauern und Tore. So solide wie der Stein, aus dem es vor mehr als tausend Jahren erbaut worden war, war es der Keep der Legenden und Sagen, die noch einmal wahr gemacht wurden.

Aber Schatten, dachte Walker Boh in seiner Verzweiflung, was das gekostet hatte!

»Sie wartete im Brunnen des Turmes auf mich, die Essenz der Druidenmagie, die er als Wächter zurückgelassen hatte«, erklärte Walker Cogline in dieser ersten Nacht, der Nacht, in der er aus dem Keep entkommen war, obwohl Allanon als Geist anwesend war. »All diese Jahre hatte er gewartet, sein Geist oder ein Teil dieses Geistes, eingeschlossen in den sich windenden Nebel, der die Mord Wraiths und ihre Verbündeten vernichtet und Paranor aus dem Land der Menschen vertrieben hatte, um auf den Zeitpunkt zu warten, an dem sie zurückgerufen werden würden. Der Schatten Allanons hat anscheinend auch gewartet, dort in den Wassern des Hadeshorn, wohl wissend, daß sich das Bedürfnis nach dem Keep und seinen Druiden eines Tages als unerbittlich erweisen würde, daß die Magie und das Wissen, die sie handhabten, bereitgehalten werden müßten gegen die Möglichkeit, daß die Entwicklung der Geschichte einen anderen Weg einschlug als den, den er prophezeit hatte.«

Cogline hörte zu und sagte nichts. Er empfand noch immer Ehrfurcht vor dem, was geschehen war, und davor, was Walker Boh geworden war. Er hatte Angst. Weil Walker noch immer Walker war, aber auch noch etwas mehr. Allanon war dort, war während der Umwandlung von einem Menschen zu einem Druiden ein Teil von ihm geworden, im Ritus des Übergangs, der in dem dunklen Versteck des Keep stattgefunden hatte. Cogline hatte in seiner geistigen Gestalt gerade genug riskiert, um Walker vor dem Wahnsinn zu bewahren, der ihn zu überwältigen drohte, bevor er sich mit der einsehenden Veränderung auseinandersetzen konnte. In jenen wenigen Sekunden hatte Cogline gespürt, wie Walker sich zu verändern begann – und war entsetzt geflohen.

»Der Schwarze Elfenstein zog den Nebel in sich hinein und dadurch in mich«, flüsterte Walker, für den diese Worte inzwischen eine vertraute Wiederholung waren. Als würden sie dadurch, daß er sie aussprach, besser zu verstehen sein. Sein starres Gesicht senkte sich in die Kapuze seines Gewandes. Es war eine Maske, die sich noch immer veränderte. »Dadurch ist Allanon in mich hineingelegt. Es hat alle Druiden hineingelangen lassen – ihre Geschichte und ihr Wissen und ihre Magie, ihre Kenntnis und ihre Geheimnisse, alles, was sie waren. Es ließ sie durch mich hindurchgleiten, wie Fäden durch einen Webstuhl, die ein neues Gewebe bilden, und ich konnte spüren, wie sie in mich eindrangen und konnte es nicht verhindern.«

Das Gesicht in der Kapuze wandte sich ein wenig dem alten Mann zu. »Ich habe sie alle in mir, Cogline. Sie haben sich voller Entschlossenheit, mir ihr Wissen und ihre Macht zukommen zu lassen, in mir niedergelassen, damit ich sie gebrauche, wie sie es getan haben. So lautete Allanons Plan von Anfang an – ein Nachkomme von Brin soll das Geschlecht der Druiden fortführen, einer, der auserwählt werden würde, wenn die Notwendigkeit gegeben wäre, einer, der dienen und gehorchen würde.«

Eisenfinger umfaßten plötzlich Coglines Schulter, so daß er zusammenzuckte. »Gehorche, alter Mann! Das ist es, was sie von mir erwarten, aber es ist nicht das, was sie bekommen werden!« Walker Bohs Worte waren von Bitterkeit durchsetzt. »Ich kann sie in mir arbeiten spüren wie lebende Wesen! Ich kann ihre Gegenwart spüren, wenn sie ihre Worte flüstern und versuchen, mich auf sich aufmerksam zu machen. Aber ich bin stärker als sie. Gerade durch den Prozeß, den sie vollführt haben, um mich zu verändern, bin ich stärker geworden. Ich habe die Prüfung, der sie mich unterzogen haben, überlebt, und ich werde sein, was ich mir erwähle, mögen sie nun in meinem Körper und in meinem Geist leben oder nicht, mögen sie nun Schatten sein oder Erinnerungen aus der Vergangenheit, mögen sie sein, was sie wollen! Wenn ich dieses... dieses Ding sein muß, was sie aus mir gemacht haben, werde ich ihm zumindest meine Stimme und mein Herz geben!«

So gingen sie dahin, Cogline so kalt wie der Tod, während er dem gequälten Stöhnen Walker Bohs zuhörte. Walker, so heiß wie die Feuer, die in den Schmelzöfen unter den Steinmauern Paranors erneut zu brennen begonnen hatten, verwandelte seinen Zorn in die Kraft, die ihn gegen das, was geschah, unterstützen konnte.

Denn die Umwandlung schritt auch jetzt voran, während sie durch die Gänge der Festung gingen, der alte Mann und der werdende Druide, überschattet vor ihnen von der stillen Gegenwart Ondits, der Moorkatze, die genauso finster wirkte wie ihr Herr. Die Umwandlung wirbelte durch Walker hindurch wie Rauch im Wind, aufgerührt von den Händen der gewesenen Druiden, die ihre Geister in demjenigen lebendig werden ließen, der es zulassen würde, daß die Magie wieder zum Leben erwachte. Sie kam, während sich das Wissen in kleinen Brocken und Stücken und manchmal auch explosionsartig zeigte, Wissen, das durch die Jahre erworben und bewahrt worden war, alles, was die Druiden entdeckt und auf ihre Art geformt hatten, alles, was sie durch die Zeiten des Warlock Lords und der Schädelträger, durch die Dämonen im Verbotenen, durch den Ildatch und die Mord Wraiths, durch all die Prüfungen dunklen Übels, das die Menschheit bedrohte, hindurchgebracht hatte. Die Magie offenbarte sich nach und nach, spähte aus dem Wirrwarr von Händen und Augen und geflüsterten Worten hervor, die Walker Bohs Geist aufrührten und ihm keine Ruhe ließen.

Er schlief drei Tage lang überhaupt nicht. Er versuchte es, denn er war bis zur Verzweiflung erschöpft, aber als er sich bemühte loszulassen und in den Trost der Ruhe zu entgleiten, die er so dringend brauchte, wurde eine neue Facette der Verwandlung lebendig und ließ ihn hochfahren. Ihre Bedürfnisse, ihre Gegenwart, ihre Entschlossenheit, gehört zu werden, drangen in sein Gedächtnis. Jedes Mal versuchte er dagegen anzukämpfen. Er wollte nicht ihre Existenz verhindern, denn das hatte keinen Sinn, aber er wollte demonstrieren, daß sie nicht fraglos akzeptiert wurde, daß das Wissen begutachtet und erwogen wurde, daß er sein Gesicht zu erkennen suchte und sich dadurch vor blindem Gebrauch schützte. Die Druiden waren nicht sein Schöpfer, erinnerte er sich wieder und wieder. Die Druiden hatten ihm nicht sein Leben geschenkt, und es sollte ihnen nicht erlaubt werden, daß sie sein Schicksal bestimmten. Er würde das tun. Er würde entscheiden, wie er leben wollte, ob mit der Macht der Magie oder ohne sie, und indem er dies tat, würde er nur sich selbst gegenüber verantwortlich sein.

Cogline und Ondit blieben bei ihm. Sie waren genauso erschöpft wie er, hatten aber Angst um ihn und waren entschlossen, ihn nicht allein dem gegenübertreten zu lassen, was vor ihm lag. Walker mußt Coglines Stimme hören, hin und wieder als Antwort auf seine eigene hören, als Vorsichtsmaßnahme und Rückversicherung, um seine Wehklagen des Abscheus zu dämpfen. Ondit war die Struppige, düstere Gewißheit, daß sich einige Dinge niemals ändern würden, eine so solide und verläßliche Gegenwart, wie der Tagesanbruch nach der Nacht, das Versprechen, daß es auch aus den schlimmsten Alpträumen ein Erwachen geben könnte. Zusammen unterstützten sie ihn in einer Weise, die er nicht annähernd beschreiben konnte und die sie umgekehrt auch nicht annähernd verstehen konnten. Es genügte, daß sie wußten, daß dieser Bund bestand.

Drei weitere Tage vergingen, bevor die Veränderung schließlich zum Ende gelangte und die Umwandlung abgeschlossen war. Plötzlich hörten die Hände auf, zu gestalten, die Augen verschwanden und das Flüstern verklang. In Walker Boh wurde plötzlich alles still. Er schlief endlich und träumte nicht, und als er erwachte, wußte er, daß er, obwohl er auf eine Art verwandelt worden war, die er nur annähernd zu begreifen begann, dennoch tief in sich selbst dieselbe Person geblieben war, die er immer gewesen war. Er hatte sich das Herz eines Mannes bewahrt, der den Druiden und ihren Magien mißtraute, und während die Druiden jetzt in ihm lebten und sich zu allem äußerten, wie er sein Leben führte, würden sie trotzdem von einem Glauben regiert werden, der vor ihrer Ankunft dagewesen war und ihren Aufenthalt überleben würde. Walker erhob sich in der Einsamkeit seines Schlafraums. Er war in der Dunkelheit, die der fensterlose Raum schuf, allein und das erste Mal, seit er sich erinnern konnte, in Frieden mit sich selbst. Er hatte die lange furchtbare Reise zur Erledigung der Aufgabe, die ihm übertragen worden war, beendet und schließlich auch die Prüfung der Umwandlung, die ihm auferlegt worden war. Vieles war unerledigt geblieben und ziemlich viel war verloren worden, aber wichtiger als alles andere war, daß er überlebt hatte.

Er ging dann hinaus zu Cogline und sah ihn in der Nähe sitzen. Die Moorkatze lag zusammengerollt zu seinen Füßen. Sorgenlinien waren in das Gesicht des alten Mannes gegraben und Unsicherheit in seinen Augen widergespiegelt. Er trat zu ihm und hob ihn hoch, als sei er ein Kind – durch die Umwandlung war er selbst unglaublich stark geworden, er war von den Händen und den Augen und den Stimmen verändert worden, bis er zehn Männern entsprach. Er legte seinen gesunden Arm um den zerbrechlichen Körper und umfaßte sanft seinen alten Mentor.

»Es geht mir wieder gut«, flüsterte er. »Es ist vorbei, und ich bin sicher.«

Und der alte Mann umfaßte ihn und weinte an seiner Schulter.

Sie sprachen dann miteinander, wie sie es seit jeher getan hatten, zwei Männer, die mehr an Überraschungen im Leben erfahren hatten, als ihr Anteil hätte sein sollen, und die durch den gemeinsamen Bund der Druidenmagie und durch die Schicksale, die sie in diese Zeit und an diesen Ort geführt hatten, vereint waren. Sie sprachen über Walkers Umwandlung, über die Gefühle, die dies hervorgerufen hatte, über das Wissen, das es gebracht hatte, und über die Bedürfnisse, die es vielleicht befriedigen könnte. Sie waren wieder eine Einheit, Menschen aus Fleisch und Blut, und Paranor war zurückgekehrt. Es war der Anfang einer neuen Ära in der Welt der Vier Länder, und sie erlebten vom ersten Augenblick an diese Zeit, in der entschieden werden würde, wie sich diese Ära entwickeln würde. Walker Boh war auch jetzt noch nicht sicher, wie er die Druidenmagie handhaben sollte – oder ob er es überhaupt sollte. Die Bedrohung durch die Schattenwesen mußte bedacht werden, aber die Art und das Ausmaß dieser Bedrohung blieben ein Mysterium. Walker war das Wissen der Druiden überlassen worden, aber nicht das Wissen, was er damit tun sollte – besonders gegen die Schattenwesen.

»Meine Umwandlung hat mir gewisse Einsichten verschafft, die ich vorher nicht hatte«, vertraute Walker Cogline an. »Eine ist die Tatsache, daß sich der Gebrauch der Druidenmagie als notwendig erweisen wird, wenn die Bedrohung durch die Schattenwesen einem Ende zugeführt werden soll. Aber wessen Einsicht ist diese – meine oder Allanons? Kann ich ihr vertrauen, frage ich mich? Ist sie eine Wahrheit oder eine Fiktion?«

Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Ich denke, das mußt du selbst herausfinden. Ich glaube, Allanon will es so. Ist es nicht immer den Ohmsfords überlassen geblieben, die Wahrheit der Dinge selbst herauszufinden? Du hast es einmal das Spielen von Spielen genannt. Aber ist es nicht in Wahrheit viel mehr als das? Ist es nicht die Natur des Lebens? Erfahrung erwächst aus dem Handeln, man kann sie nicht weitergeben. Experimente und Entdeckungen. Suchen und finden. Es sind nicht die Machenschaften der Druiden, die uns zu unseren Handlungen zwingen, es ist unser eigenes Bedürfnis, wissen zu wollen. Das ist der eigentliche Weg, auf dem wir lernen. Ich glaube, das muß auch dein Weg sein, Walker.«

Was zuerst getan werden sollte, so beschlossen sie, war herauszufinden, was aus den anderen Nachkommen von Shannara geworden war – aus Par, Coll und Wren. Hatten sie die Aufgaben erfüllt, die ihnen zugeteilt worden waren? Wo waren sie, und welche Geheimnisse hatten sie in den Wochen entdeckt, die seit ihrem Treffen am Hadeshorn vergangen waren?

»Par wird das Schwert von Shannara gefunden haben oder es suchen«, erklärte Walker. Sie saßen im Studierzimmer der Druiden, hatten die Geschichte vor sich ausgebreitet, gingen sie dieses Mal auf die Besonderheiten hin durch, an die Walker sich von seinen vorangegangenen Lesungen her erinnerte, und die er mit dem Wissen, das er durch seine Umwandlung erlangt hatte, jetzt anders verstand. »Par wurde zu seiner Suche regelrecht getrieben. Er war eisenhart und entschlossen. Was auch immer wir anderen zu tun beschlossen haben, er hätte nie aufgegeben.«

»Wren auch nicht, denke ich«, sagte der alte Mann nachdenklich. »Sie war ebenso fest entschlossen, obwohl das nicht so offensichtlich war.« Er begegnete offen Walkers Blick. »Der Schatten Allanons hat gespürt, was jeden von euch antreibt, und ich denke, daß keiner von euch jemals die Chance hatte, fortzugehen.«

Walker lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Sein hageres Gesicht wurde überschattet von dem glatten, dunklen Haar und dem Bart, und seine Augen leuchteten so durchdringend, daß ihnen scheinbar nichts verborgen bleiben konnte. »Seit der Zeit Shea Ohmsfords haben sich die Druiden uns zu eigen gemacht, nicht wahr?« sann er kühl und abweisend. »Sie haben in uns etwas gefunden, das gefesselt werden konnte, und sie haben uns seitdem gefangengehalten. Wir sind Diener ihrer Bedürfnisse – und Paladine für die Rassen.«

Cogline spürte, wie sich die Luft in dem Raum regte, eine greifbare Antwort auf den Fluß der Magie, der Walkers Stimme entstieg. Er hatte es mehr als einmal gespürt, seit Walker aus dem Keep entkommen war. Es war ein Zeichen der ihm gegebenen Macht. Mehr Druide als Mensch, war Walker eine Manifestation der dunklen Künste und des Wissens, das der alte Mann einst, vor langer Zeit, studiert hatte und zugunsten von Formen der altweltlichen Wissenschaften verworfen hatte. Eine verpaßte Gelegenheit, dachte er. Aber der gesunde Verstand hatte sich behauptet. Er fragte sich, ob Walker in seiner Entwicklung Frieden finden würde.

»Wir sind nur Menschen«, sagte er vorsichtig.

Und Walker erwiderte lächelnd: »Wir sind nur Narren.«

Sie sprachen bis spät in die Nacht hinein miteinander, aber Walker blieb unentschlossen, was er als nächstes tun sollte. Die anderen aus seiner Familie suchen, ja – aber wo sollte er beginnen, und wie sollte er es angehen? Der Gebrauch seiner Magie war offensichtlich eine neue Möglichkeit, aber würde ihn dieser Gebrauch den Schattenwesen verraten? Wußten seine Feinde, was bereits geschehen war: daß er ein Druide geworden war, und daß Paranor zurückgebracht worden war? Wie stark war die Magie der Schattenwesen? Wie weit reichte sie? Er sollte dies nicht so bald ausprobieren, sagte er sich immer wieder. Er mußte erst noch seine eigene Magie kennenlernen. Er erforschte sie noch. Er sollte nicht übereilt entscheiden, was er tun wollte.

Die Diskussion dauerte an, und allmählich begann Walker zu erkennen, daß jetzt etwas anders war zwischen Cogline und ihm. Er dachte zuerst, daß sein Widerwille, einen Kurs für sein Vorgehen zu bestimmen, einfach Unschlüssigkeit war – obwohl ihm dies nicht sehr ähnlich sah. Er erkannte bald, daß etwas gänzlich anderes die Ursache war. Während sie miteinander sprachen, wie sie es seit jeher getan hatten, war eine Distanz zwischen ihnen, die niemals zuvor dagewesen war, nicht einmal, als er auf den alten Mann wütend gewesen war und ihm mißtraut hatte. Die Beziehung zwischen ihnen hatte sich verändert. Walker war kein Schüler mehr und Cogline nicht mehr der Lehrer. Walkers Umwandlung hatte ihn mit einem Wissen und einer Macht ausgestattet, durch die er Cogline weit überlegen war. Walker war nicht mehr der Dunkle Onkel, der sich draußen im Darklin Reach verbarg. Die Zeiten des Lebens abseits der Rassen, wo er sein Geburtsrecht leugnete, waren vorbei. Walker Boh war dem überlassen, was er und wer er geworden war – ein Druide, der einzige Druide, vielleicht das einzige wirklich mächtige lebende Individuum überhaupt. Was er tun würde, konnte das Leben aller beeinflussen. Walker wußte das. Und da er dies wußte, akzeptierte er, daß seine Entscheidungen seine eigenen sein mußten und niemals wieder geteilt werden konnten, weil niemand, nicht einmal Cogline, das Gewicht solch furchtbarer Verantwortung tragen sollte.

Als sie sich schließlich trennten, um schlafen zu gehen, da sie erneut erschöpft waren von ihren Bemühungen, stellte Walker fest, daß er von sehr verschiedenartigen Gefühlen bestürmt wurde. Er war so weit über den Menschen hinausgewachsen, der er gewesen war, daß er auf vielerlei Arten kaum wiederzuerkennen war. Er war sich bewußt, daß der alte Mann hinter ihm hersah, als er sich den Gang hinab zu seinem Schlafraum zurückzog und konnte das Gefühl nicht abschütteln, daß sie sich mit jedem Schritt auch auf andere Weise voneinander entfernten.

Cogline. Der Druide, der niemals einer gewesen war, war zum Begleiter geworden für jenen Druiden, der sein würde – was empfand er wohl?

Walker wußte es nicht. Aber er akzeptierte widerwillig, daß von dieser Nacht an die Dinge zwischen ihnen niemals wieder die gleichen sein würden wie früher.

Dann schlief er ein, und seine Träume waren dürftig und von Gesichtern und Stimmen erfüllt, die er nicht erkennen konnte. Die Dämmerung war schon fast hereingebrochen, als er erwachte und eine Dringlichkeit ihn ergriff und ihm heimtückisch etwas zuflüsterte. Er wurde aus dem Schlaf getrieben wie ein Schwimmer aus dem Wasser, der die Oberfläche durchstößt und in tiefen Zügen Luft schöpft. Einen Moment lang war er wie gelähmt und vor Unsicherheit wie erstarrt, während sein Herz in seiner Brust pochte und seine Augen und Ohren darum kämpften, die Dunkelheit um ihn herum zu durchdringen. Schließlich konnte er sich bewegen, schwang die Beine vom Bett und fühlte sich beruhigt durch das Gefühl festen Gesteins unter seinen Füßen. Er erhob sich und wurde sich der Tatsache bewußt, daß er noch immer die dunklen Gewänder trug. Er war zu müde gewesen, die Kleidung abzulegen.

Etwas rührte sich unmittelbar vor seiner Tür, ein leises Tappen, ein Reiben an dem alten Holz.

Ondit.

Er ging zur Tür und öffnete sie. Die große Katze stand unmittelbar davor und sah zu ihm auf. Sie beschrieb vorsichtig einen Kreis von ihm fort und kam wieder zurück, wobei sie den großen Kopf mit glühenden Augen schwingen ließ.

Ondit will, daß ich ihm folge, dachte Walker. Etwas stimmt nicht.

Er wickelte sich in einen schweren Umhang und trat aus seinem Schlafraum in die grabähnliche Stille der Festung. Steinmauern dämpften das Geräusch seiner Füße, während er die alten Gänge hinabeilte. Ondit ging in der Dunkelheit voraus. Geschmeidig und finster tappte er lautlos durch die Schatten. Ohne ihre Schritte zu verlangsamen, durchquerten sie jenen Raum, in dem Cogline schlief. Dort lag das Problem offenbar nicht. Die Nacht verblaßte um sie herum, während sie weitergingen, und die Dämmerung erhob sich im Osten als silberner Schimmer, der als frostiges, trübes Licht durch die Fenster der Festung hereinsickerte. Walker bemerkte es kaum, denn sein Blick war auf die Bewegungen der Moorkatze gerichtet, während sie durch die sich überschneidenden Schatten glitt. Seine Ohren bemühten sich, etwas zu hören und vielleicht einen Hinweis darauf zu finden, was sie erwartete. Aber die Stille blieb ungebrochen.

Sie kletterten vom Hauptgang zu den Toren der Festungsmauer hinauf und traten ins Freie. Die Dämmerung war kühl und fühlte sich leer an. Nebel lag über dem ganzen Tal, erklomm die Wand der Drachenzähne im Osten und erstreckte sich westlich bis zum Streleheim als Decke, die alles Dazwischenliegende verbarg. Paranor lag eingewickelt in ihre oberen Falten, seine hohen Türme waren aus einem Nebelmeer herausragende Inseln. Der Nebel wirbelte umher, aufgerührt von den Winden, die von den Bergen herabwehten. Und in dem schwachen Licht der frühen Dämmerung wurden seltsame Umrisse und Formen lebendig.

Ondit tappte den Weg hinab, schnüffelte in die Luft, während er weiterging, und sein Schwanz schlug erregt hin und her. Walker folgte ihm. Sie umrundeten die westliche Brustwehr, ohne ihren Schritt zu verlangsamen. Sie sahen nichts und hörten nichts. Sie überquerten freiliegende Treppen und kamen an Turmeingängen vorbei. Sie bewegten sich wie Geister auf der Jagd.

An der westlichen Festungsmauer verlangsamte Ondit plötzlich seinen Schritt. Die Haare im Nacken der Katze stellten sich aufrecht, und ihre dunkle Schnauze verzog sich zu einem Fauchen. Walker trat neben sie und legte schnell eine beruhigende Hand auf das rauhe Rückenfell. Ondit schaute jetzt hinaus in die Dunkelheit. Sie standen direkt über dem Westtor des Schlosses.

Walker spähte in den Nebel. Jetzt konnte auch er es spüren.

Etwas war dort draußen.

Die Sekunden vergingen, und nichts zeigte sich. Walker begann ungeduldig zu werden. Vielleicht sollte er hinausgehen und nachschauen.

Dann verzog sich der Nebel plötzlich. Er schien sich zurückzuziehen, als würde er abgedrängt, und die Reiter erschienen. Es waren vier, und sie wirkten in dem schwachen Licht unheimlich und geisterhaft. Sie kamen langsam heran, zielbewußt und so grau wie die Düsterkeit, die ihr Herannahen verborgen hatte. Vier Reiter auf ihren Reittieren, aber keiner war menschlich, und die Tiere, die sie ritten, waren widerliche Mißgebilde, ganz Schuppen und Klauen und Zähne. Vier Reiter, jeder deutlich anders als die anderen, jeder mit einem Reittier, das ein Spiegel seiner selbst war.

Walker Boh wußte sofort, daß sie Schattenwesen waren. Er wußte auch, daß sie seinetwegen gekommen waren.

Kühl und leidenschaftslos betrachtete er sie.

Der erste war groß und hager und leichenhaft. Die Knochen drückten durch seine straffgespannte Haut nach außen, der skelettartige Umriß war vornübergebeugt wie eine Katze auf der Jagd. Als Gesicht grinste ihn ein Schädel an, dessen Kinn schlaff herunterhing und dessen Augen herausstarrten. Sie waren zu weit geöffnet und zu leer, um sehen zu können. Er trug keine Kleidung, und sein nackter Körper war weder der eines Mannes, noch der einer Frau, sondern etwas zwischen beidem. Sein Atem bewölkte die Luft vor ihm mit einem scheußlichen, grünen Nebel.

Dem zweiten fehlte jeglicher Anschein einer Identität. Er hatte die Gestalt eines Menschen, aber keine Haut oder Knochen. Er war statt dessen eine wirbelnde Wolke Dunkelheit, die in dieser Gestalt summte und schrie, die Wolke hatte das Aussehen von Fliegen oder Moskitos, die hinter Glas gefangen sind, so dicht versammelt, daß sie das Licht ausschließen. Die häßlichen Töne, die dieser Reiter ausstieß, schienen davor zu warnen, daß er in seiner geisterhaften Form ein Übel verbarg, das zu furchtbar war, als daß man es sich hätte vorstellen können.

Der dritte war deutlicher erkennbar. Von Kopf bis Fuß bewaffnet, drohte er mit Dornen, messerscharfen Kanten und Waffen. Er trug Streitkolben und Messer, Schwerter und Streitäxte mit sich und einen großen Speer, der mit Schädeln und zu einer Kette zusammengefügten Fingerknochen versehen war. Ein Helm verbarg sein Gesicht, aber die durch den Visierschlitz spähenden Augen glühten so rot wie Feuer.

Der letzte Reiter trug einen Umhang mit Kapuze und war so unsichtbar wie die Nacht. Kein Gesicht war unter der tarnenden Kapuze zu erkennen. Keine Hände zeigten sich, die die Zügel seines kräftigen Reittieres hätten halten können. Er ritt vornübergelehnt wie ein sehr alter Mann, ganz gebeugt und knorrig, ein Wesen, das vom Alter und von der Zeit gezeichnet war. Aber es war kein Anzeichen von Schwäche an ihm, nichts, das hätte vermuten lassen, daß er etwas anderes war, als das, was er zu sein schien. Dieser Reiter ritt stetig und sicher voran, und wenn er gezeichnet war, dann nicht vom Alter und von der Zeit, sondern von der Bürde, die er für die von ihm genommenen Leben trug.

Über seinen Rücken war eine Sense geschlungen.

Walker Boh fror, als er sie erkannte. In ganz alten Druidengeschichten aus der alten Welt der Menschen wurden diese Vier erwähnt. Er wußte, wer sie waren und von wem sie geschaffen worden waren. Jetzt hatten Schattenwesen ihre Gestalt angenommen und die Identität der dunklen Wesen von früher vereinnahmt.

Seine Brust verkrampfte sich. Vier Reiter. Die Vier Reiter der Legenden, die Mörder sterblicher Menschen. Sie kamen aus einer so lange zurückliegenden Zeit, daß sie fast vergessen waren. Aber er hatte die Erzählungen gelesen, sagte er sich wiederholt, und er wußte, was die Vier bedeuteten.

Hungersnot. Seuche. Krieg. Tod.

Walker nahm seine Hand von Ondits Fell, und die Katze begann tief in ihrer Brust zu grollen. Schattenwesen, dachte Walker in einer Mischung aus Ehrfurcht und Angst, geschaffen, um etwas zu sein, was niemals war, nur eine Manifestation von Unwirklichem, von den verschiedenen Arten zu töten. Jetzt waren sie gekommen, um ihn zu vernichten.

Er fragte sich erneut, wer und was die Schattenwesen waren, was die Quelle der Macht war, daß sie alles sein konnten, was sie sich erwählten. Seine Umwandlung hatte ihm darein keinen Einblick gewährt. Er wußte jetzt genauso wenig über ihre Ursprünge wie zu Beginn der Entwicklungen. Ja, sie waren so finster, wie der Schatten Allanons warnend vorhergesagt hatte. Ja, sie waren ein Übel, das Magie als Vernichtungswaffe gebrauchte. Aber wer waren sie? Woher waren sie gekommen? Wie konnten sie vernichtet werden?

Wo bloß konnte er Antworten auf seine Fragen finden?

Er beobachtete, wie die Vier Reiter näherkamen, taumelnd und sich auf ihren Reittieren windend, auf Wesen, die vage an Pferde erinnerten, aber als sehr viel mehr gedacht waren. Atem dampfte in der Morgenluft wie giftiger Dunst. Klauen kratzten und knirschten auf dem Fels. Köpfe hoben sich, und Mäuler entblößten sich und gaben gekrümmte, gelbliche Zähne frei. Stetig strebten die Reiter weiter voran.

Als sie die Tore erreicht hatten, hielten sie inne. Sie machten keinerlei Anstalten, hindurchzureiten. Sie zeigten keinerlei Interesse daran, weiter vorzudringen. Sie stellten sich in einer Linie vor dem Tor auf und warteten. Walker wartete mit ihnen. Die Minuten vergingen, und das Licht wurde allmählich heller. Die Düsterkeit nahm Reinheit an, als die Dämmerung näherkam.

Dann überstieg die Sonne schließlich die Berge im Osten. Sie legte ein schwaches Schimmern über die dunklen Felsspitzen, und an den Toren drängte der Reiter Hungersnot plötzlich vorwärts. Als er nahe an das Tor herangekommen war, hob er seine skelettartige Hand und klopfte. Das Geräusch war ein schwach hörbarer, widerhallender, hohler Schlag – das Erschauern, das das Leben verursacht, wenn es den Körper schließlich verläßt. Walker krümmte sich, obwohl er es nicht wollte.

Hungersnot wich dann zurück, und, einer nach dem anderen, wandten sich die Reiter nach rechts und schwärmten in einer schmalen Linie aus, um die Festungsmauern zu umkreisen. Sie ritten darum herum, kamen nacheinander unter Walker vorbei, während er beobachtete, wie sie zurückkehrten und wieder verschwanden, wobei sie sich sorgfältig voneinander entfernt hielten, so daß sich immer einer an jeder Mauer befand, oder immer einer an jeder Ecke des Schlosses.

Es war eine Belagerung, erkannte Walker. Das Anklopfen war eine Drohung gewesen, und wenn er nicht herausging, um darauf zu antworten, würden sie ihn innerhalb der Mauern gefangenhalten. Felsen-Dall und die Schattenwesen hatten entdeckt, daß Paranor zurückgekehrt war und daß Walker die Hülle Allanons angenommen hatte. Als Antwort waren die Reiter gesandt worden.

Walker verschränkte seine Arme in dem Umhang. Wir werden sehen, wer wen gefangenhält, dachte er finster.

Er stand noch eine Weile länger da, sah auf die Gestalten hinab und ging dann davon, um Cogline zu wecken.

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