Die Dämmerung ging in Nacht über, als Par und Damson den Fuß der Drachenzähne und den Pfad erreichten, der sich durch die Klippen aufwärts zum Kennon wand. Mondlicht floß von Norden herab, und der Himmel voller Sterne war klar und hell. Die Hitze des Tages war abgekühlt, und Wind blies aus den Bergen herab.
Irgendwo in den Bäumen des Waldes hinter ihnen schrie eine Eule und wurde dann still.
Da es ausreichend hell war, den Pfad zu begehen, und sie gut erholt waren, eilten der Talbewohner und das Mädchen weiter. Die Nacht war gut für ihre Reise geeignet, sogar in den Bergen, und sie gewannen viel Zeit, während sie von den unteren Hängen in den Paß hinaufkletterten. Während sie weiterzogen, stieg die Nacht herab, und die Stille vertiefte sich. Der Wald und seine Bewohner blieben in einem Teich der Dunkelheit hinter ihnen zurück, die Felsen schlössen sich um sie herum und wurden zu Silhouetten, die sich gezackt und starr vom Himmel abhoben. Ihre Schuhe schabten und knirschten auf dem losen Gestein, und ihr Atem wurde mühsamer, aber jenseits dieser unmittelbaren Geräusche war die Welt ruhig und leer.
Die Zeit verging, und Mitternacht näherte sich. Sie waren jetzt bereits ein gutes Stück in den Paß hineingelangt und näherten sich seinem Scheitelpunkt, von wo aus der Pfad wieder abwärts in das dahinterliegende Tal führen würde. Das Licht vor ihnen schien heller als das Licht hinter ihnen, was sich weder der Talbewohner noch das Mädchen erklären konnten, und sie wechselten mehrmals fragende Blicke. Erst als sie tief in den Berggipfeln den Scheitelpunkt erreicht hatten und der Weg vor ihnen als langer, breiter Gang durch den Fels verlief, erkannten sie, daß das, was sie sahen, nicht das Licht des Mondes war, sondern der Widerschein von Wachfeuern, die direkt vor ihnen brannten.
Überrascht wechselten sie einen vorsichtigen Blick. Warum brannten hier Wachfeuer? Und wer hatte sie errichtet?
Sie gingen vorsichtiger voran als zuvor, hielten sich tief in den Schatten auf der dunklen Seite des Passes und blieben häufig stehen, um auf das zu lauschen, was vielleicht vor ihnen wartete. Dennoch übersahen sie beinahe die Wächter, die mehrere hundert Meter weiter vor ihnen auf einem Hügel postiert waren, so aufgestellt, daß sie einen guten Blick auf jedermann hatten, der vorbeizuschlüpfen versuchte. Die Wächter waren Soldaten, und sie trugen Föderationsuniformen. Par und Damson verschmolzen sofort mit den Schatten und blieben außer Sicht.
»Was tun sie hier?« flüsterte das Mädchen in Pars Ohr.
Der Talbewohner schüttelte den Kopf. Für ihn war kein Grund ersichtlich, warum sie hier waren. Die Geächteten waren weit weg vom Kennon. Der Firerim Reach lag weit im Osten. Jenseits lag nur das Tal, und in dem Tal war nichts gewesen, seit...
Sein Geist gefror, und seine Augen weiteten sich.
...seit Paranor verschwunden war.
Er atmete tief ein und hielt den Atem an und dachte an die Aufgabe, die Allanon für Walker Boh gehabt hatte. War es möglich, daß Walker Boh es geschafft hatte...?
Er beendete den Gedanken nicht. Er erlaubte es sich nicht. Er wußte, er traf übereilte Schlüsse, wußte, daß die Anwesenheit der Soldaten in dem Paß vielerlei Gründe haben konnte.
Dennoch flüsterte ihm etwas in seinem Innern zu, daß er recht hatte. Die Soldaten waren dort, weil Paranor zurückgebracht worden war.
Er beugte sich hastig zu Damson hinab. Sie sah ihn überrascht an, als sie die Erregung in seinen Augen wahrnahm. »Damson. Wir müssen an diesen Wächtern vorbeigelangen. Oder zumindest...« Seine Gedanken rasten. »Zumindest müssen wir weit genug in die Felsen hineingelangen, um sehen zu können, was dahinter ist, was sich dort unten in dem Tal befindet. Können wir das schaffen? Gibt es einen Weg? Einen anderen Weg?«
Er sprach so schnell, daß sich seine Worte überschlugen. Walker Boh, dachte er. Der Dunkle Onkel. Er hatte Walker fast vergessen, hatte ihn fast aufgegeben, seit sie sich am Hadeshorn getrennt hatten. Aber Walker war unberechenbar. Und Allanon hatte an ihn geglaubt, jedenfalls genug, um zu beschließen, daß er die Aufgabe haben sollte, Paranor zu finden.
Schatten! Sein Herz schlug so schnell, daß es in seiner Brust umherzuspringen schien. Was wäre wenn...?
Damsons Hand auf seinem Arm erschreckte ihn. »Komm mit mir.«
Sie gingen den Weg durch den Paß bis zu einem Einschnitt wieder zurück, von dem aus ein enger Pfad aufwärts führte. Langsam begannen sie zu klettern. Der Pfad drehte und wand sich, führte manchmal zu sich selbst zurück und bildete manchmal so steile Winkel, daß sie gezwungen waren, auf Händen und Knien weiterzukriechen, sich aufwärts zu ziehen, indem sie Felsen und Gestrüppteile ergriffen. Die Minuten vergingen, und sie kletterten noch immer, schwitzten jetzt stark, atmeten durch den Mund, und die Muskeln begannen zu schmerzen. Par fragte nicht, wohin sie strebten. Diese Berge waren jahrelang die Festung der Geächteten gewesen. Niemand kannte sie besser. Damson wußte sicherlich, was sie tat.
Schließlich flachte der Pfad wieder ab und bog nach vorn auf den Widerschein der Wachfeuer zu. Sie befanden sich nahe der Gipfel weit oberhalb des Passes. Der Wind blies hier frostig und scharf, und die Geräusche waren gedämpft. Sie gingen geduckt weiter, als die Felsen auf beiden Seiten des Weges eine schmale Klippe freigaben. Der Wind schlug heftig gegen sie, und das Licht der Feuer breitete sich vor dem Schirm der Nacht aus wie ein umnebelter Sonnenuntergang im Herbst.
Der Pfad endete an einem Hang, der an einer Klippe Hunderte von Fuß tief abfiel. Auf halber Höhe unter ihnen lag der nördliche Eingang zum Kennonpaß. Dort brannten Dutzende von Wachfeuern im Schutz der Felsen. Schlafende Gestalten lagen überall und ihre Pferde waren an einer Pfahlreihe angepflockt. Zahlreiche Wächter patrouillierten um das Lager. Die Föderation hatte den Paß vollständig blockiert.
Mit ein wenig Angst davor, was er finden würde – oder nicht finden würde – hob Par seinen Blick über das Föderationslager hinweg zu dem Tal dahinter. Einen Moment lang konnte er nichts sehen, denn er war von den Feuern, die er betrachtet hatte, noch geblendet und die Dunkelheit, in die er hineinstarrte, war für ihn nur ein schwankender Vorhang, der den gesamten Horizont verbarg. Er wartete darauf, daß sich seine Augen der Dunkelheit anpaßten, und hielt den Blick derweil auf das Tal gerichtet. Langsam begann es Gestalt anzunehmen. In dem sanfteren Licht des Mondes und der Sterne hoben sich die Silhouetten von Bergen und Wäldern vom Horizont ab. Seen und Flüsse schimmerten als undeutliche Silberblitze, und das trübe, tiefe Grau der nächtlichen Wiesen und grasbewachsenen Hügel bildete ein Mosaik aus Licht und Schatten vor der Schwärze.
»Par!« flüsterte Damson plötzlich, und ihre Finger legten sich fester um seinen Arm. Sie lehnte sich erregt gegen ihn und wies mit dem Finger hastig ins Tal.
Und da war Paranor.
Sie hatte es zuerst gesehen – weit draußen im Tal, in Mondlicht gebadet stand es dort auf einem großen Hügel. Par hielt den Atem an und beugte sich vor. Er beugte sich so weit wie er konnte über den Rand des Hanges hinaus, um sich zu vergewissern, daß er sich nicht täuschte, daß er sich nicht irrte...
Nein. Es gab keinen Zweifel. Es war tatsächlich der Druidenkeep, zurückgekehrt aus der Zeit und aus der Geschichte, zurückgekehrt aus Träumen davon, was einst in der Welt der Menschen gewesen sein mochte. Par konnte es noch immer nicht glauben. Kein Lebender hatte Paranor jemals gesehen. Par selbst hatte nur davon gesungen, hatte sich aus den Geschichten, die er davon gehört hatte, eine Vorstellung gemacht, aus den Geschichten von Generationen von Ohmsfords, die jetzt alle schon lange tot waren. Es war all diese Jahre verschwunden gewesen, so lange verschwunden, daß es für die meisten nur eine Legende war, und plötzlich war es hier, zurückgekehrt in die Vier Länder – hier, so real wie das Leben. Mit Mauern und Wallanlagen, Türmen und Brustwehren, die sich mitten in dem Gürtel von Wäldern, die es schützend umgaben, phönixgleich aus der Erde erhoben.
Paranor. Irgendwie hatte Walker Boh einen Weg gefunden, es zurückzubringen.
Pars Lächeln breitete sich von einem Ohr zum anderen aus, während er nach Damson griff und sie umarmte, bis er fürchten mußte, sie könnte zerbrechen. Sie umarmte ihn ebenso fest und lachte dabei weich. Dann trennten sie sich, schauten ein letztes Mal hinab auf die dunkle Masse der Festung und schlichen dann an der Klippe entlang in den Schutz der Felsen zurück.
»Hast du es gesehen?« rief Par aus, als sie wieder in Sicherheit waren. Er umarmte sie erneut. »Walker hat es geschafft! Er hat Paranor zurückgebracht! Damson, es geschieht! Die Aufgaben, die Allanon uns gegeben hat, können erfüllt werden! Wenn ich wirklich das Schwert von Shannara besitze, und wenn Wren die Elfen gefunden hat...!« Er hielt inne. »Ich frage mich, was wohl Wren widerfahren ist? Ich wünschte, ich wüßte ein wenig mehr, verflixt! Und wo ist Walker? Glaubst du, er ist dort unten in der Festung? Hat die Föderation deshalb den Paß gesperrt – um ihn dort zu halten?« Seine Hände tanzten erregt auf ihrem Rücken. »Und was ist mit den Druiden? Was glaubst du, Damson? Hat er sie gefunden?«
Sie schüttelte den Kopf und grinste ihn an. »Das werden wir noch einige Zeit nicht wissen, fürchte ich. Wir hängen noch immer auf der falschen Seite des Passes fest.« Ihr Lächeln verblaßte, und sie löste sich sanft aus seinen Armen. »Wir kommen nicht an den Soldaten vorbei, Par. Es sei denn, du willst deine Magie gebrauchen, um uns zu verbergen. Was meinst du? Willst du das tun? Könntest du es tun?«
Kälte brach in seiner Magengrube aus. Der Wunschgesang wieder. Vor ihm gab es kein Entkommen. Er konnte fühlen, wie sich seine Magie in Erwartung der Möglichkeit bewegte, daß sie vielleicht erneut gebraucht werden würde, daß sie vielleicht erneut freigelassen werden würde...
Damson sah die Veränderung in seinem Gesicht und zog ihn schnell hoch. »Nein, du wirst die Magie nicht gebrauchen. Nicht wenn du es nicht mußt, und du mußt es nicht. Wir können einen anderen Weg einschlagen – östlich unter den Bergen hindurch und dann nach Norden über den Rabb. Eine etwas längere Reise vielleicht, aber genauso sicher.«
Er nickte, und Erleichterung durchdrang ihn. Ihr Gefühl hatte sie nicht getrogen. Er hatte Angst, die Magie zu benutzen. Er traute ihr nicht mehr. »In Ordnung«, stimmte er zu und zwang sich zu einem Lächeln. »So werden wir es machen.«
»Dann komm.« Sie zog an seiner Hand. »Laß uns den Weg zurückgehen, auf dem wir gekommen sind. Wir können einige Stunden schlafen und dann erneut aufbrechen.« Sie lächelte strahlend. »Denke immer daran, Par. An Paranor!«
Sie gingen den kleinen Pfad entlang zurück, gelangten aus den Felsen auf den Hauptweg und begann dann, gen Süden zu ziehen. Sie eilten voran und bebten noch immer vor Aufregung wegen dem, was sie entdeckt hatten. Sie wollten diese Neuigkeit bald anderen übermitteln. Aber nachdem der erste Ansturm der Euphorie verklungen war, stiegen in Par andere Gedanken hoch. Vielleicht war es verfrüht, die Rückkehr Paranors zu preisen. Der Schatten Allanons hatte niemals erklärt, welcher Zweck erfüllt sein würde, wenn seine Aufgaben ausgeführt wären. Paranor war zurückgekehrt, aber welchen Unterschied machte das aus? Waren auch die Druiden zurückgekehrt? Und wenn, würden sie wirklich bei dem Kampf gegen die Schattenwesen helfen?
Oder würden sie sich, wie Felsen-Dall zu bedenken gegeben hatte, als die wahren Feinde der Rassen erweisen?
Während sie dem dunklen Gürtel der unter ihnen gelegenen Wälder zueilten, verdüsterte sich Pars Stimmung beständig. Walker hatte Allanons Motive mit Vorsicht betrachtet. Er war der erste gewesen, der vor den Druiden gewarnt hatte. Was war wohl geschehen, daß er seine Meinung geändert hatte? Warum hatte er zugestimmt, Paranor zurückzubringen? Par wünschte mit ihm sprechen zu können, und sei es nur einen Moment lang. Er hätte gern mit fast jedem der ursprünglichen Gesellschaft, die mit ihm zum Hadeshorn gekommen war, gesprochen. Er hatte es satt, sich in dieser Angelegenheit allein und verlassen zu fühlen. Er war es leid, Fragen ohne Antworten zu haben.
Zwei Stunden später erreichten sie den Fuß der Drachenzähne und tauchten wieder in den Schutz der Bäume ein. Der Widerschein der Wachfeuer der Föderation war schon lange hinter ihnen hinter den Felsen verblaßt, und die Begeisterung darüber, daß sie Paranor entdeckt hatten, hatte sich in hartnäckigen Zweifel verwandelt. Par behielt seine Gedanken für sich, aber die Blicke, die Damson ihm immer wieder zuwarf, zeigten, daß sie sein Schweigen richtig deutete. Es schien Par, daß sie sich inzwischen so nah waren und sich so genau kannten, daß zwischen ihnen keine Worte nötig waren. Damson konnte seine Gedanken lesen. Sie wußte, was er dachte. Er konnte es in ihren Augen sehen.
Als sie den Wald betraten, übernahm sie wieder die Führung, ging gen Osten am Fuß der Berge entlang voraus, führte sie über schwierigeren Untergrund an einen Platz, wo die Bäume weiter auseinanderstanden und grasbewachsene Lichtungen und kleine Flüsse freigaben und wo man ein Lager errichten konnte. Die Nacht war von leisen, zarten Geräuschen erfüllt, kleinen Lauten der Zufriedenheit, die durch keinen Eindringling gestört wurden. Der Wind hatte aufgehört, und die Luft vor ihnen machte ihren Atem sichtbar, während sie weitergingen. Der Mond war unter den Horizont verschwunden, und nur das Sternenlicht zeigte ihnen noch den Weg.
Sie gingen nicht mehr weit, nicht weiter als eine Meile, bevor sich Damson auf einer Lichtung neben einer kleinen Quelle niederließ. Für einige Stunden würde das ihr Ruheplatz sein, meinte sie. Sie müßten vor Tagesanbruch erneut aufbrechen. Sie wickelten sich in Decken, die der Maulwurf ihnen aus einem seiner unterirdischen Lager mitgegeben hatte, legten sich nah aneinander in die Dunkelheit und schauten in die Bäume hinauf. Par barg das Schwert von Shannara in einer Armbeuge, so daß es der Länge nach an seinem Körper anlag, und fragte sich erneut, welchem Zweck sein Talisman wohl diente und wie er dies jemals herausfinden sollte.
Und fragte sich immer noch, ganz tief im Innern, ob es wirklich das war, wofür er es hielt.
»Ich denke, es ist in Ordnung«, flüsterte Damson unmittelbar bevor er einschlief. »Ich glaube nicht, daß du dir Sorgen machen mußt.«
Er verstand nicht genau, was sie sagte, und obwohl er versucht war, es zu tun, fragte er sie nicht.
Er erwachte, als es noch dunkel war. Der Sonnenaufgang warf einen schwachen Silberschimmer kaum sichtbar durch die Baumwipfel. Die Stille hatte ihn geweckt, die plötzliche Abwesenheit aller Geräusche – die Vögel und Insekten waren ruhig geworden, die Tiere waren wie zu Eis erstarrt und die Welt unmittelbar um ihn herum schien leer und tot zu sein. Er setzte sich abrupt auf, als erwache er aus einem bösen Traum. Aber es war die Stille, die seinen Schlummer unterbrochen hatte, und der Gedanke, daß kein Traum jemals so erschreckend sein konnte, überwältigte ihn.
Schatten umhüllten die Lichtung und tiefe, zerfließende Teiche von Feuchtigkeit. Dunkelheit hing in der Luft wie Rauch, und ein schwacher Hauch von Nebel war durch die Bäume zu sehen. Pars Hände lagen auf dem Schwert von Shannara, und er hielt das Heft vor sich umklammert, als wollte er seine Angst abwehren. Er schaute sich hastig um, sah nichts, schaute sich weiterhin um und sprang dann wachsam auf. Damson war jetzt auch wach. Sie erhob sich mit verschlafenem Blick aus ihrer Decke und unterdrückte ein Gähnen.
Still wie der Tod, dachte Par. Er sah sich ängstlich um.
Was stimmte nicht? Warum war es so still?
Dann bewegte sich in den tiefsten Schatten der Lichtung etwas, da war ein für das bloße Auge kaum wahrnehmbares Verschieben der Dunkelheit, die Art Bewegung, die entsteht, wenn Wolken über die Vorderseite des Mondes ziehen. Nur daß keine Wolken und kein Mond da waren, nichts als der Nachthimmel und die verblassenden Sterne.
Damson setzte sich neben ihm auf. »Par?« flüsterte sie fragend.
Er wandte seinen Blick nicht von der Bewegung ab. Sie begann Gestalt anzunehmen, die Schatten verschmolzen allmählich zu Umrissen von dem, was Momente zuvor nichts als Nacht gewesen war.
Eine Gestalt erschien, verkrümmt und geduckt, ganz schwarz und gesichtslos unter dem Umhang und der Kapuze, die sie einhüllten.
Par erstarrte. Es war etwas Vertrautes an diesem Eindringling, etwas, das er fast benennen konnte. Es war die Art, wie er sich bewegte oder sich hielt oder atmete. Aber wie konnte das sein?
Die Gestalt kam näher. Sie ging nicht wie ein Mensch oder ein Tier gehen würde, sondern bewegte sich wie etwas, was weder eins von beiden und doch auch gleichzeitig beides war. Sie bahnte sich geduckt ihren Weg aus der tiefen Dunkelheit heraus und kam auf sie zu. Das Geräusch ihres Atems wurde plötzlich hörbar. Kch, kch, ein kratzendes Husten, ein Zischen. In schwarzem Umhang und mit Kapuze stand sie in dem seidigen Schutz der Nacht verborgen da, bis sie ganz plötzlich den Kopf hob und das Licht den schwachen Schimmer ihrer roten Augen auffing.
Par spürte, wie sich Damsons Finger um seinen Arm schlössen.
Es war ein Schattenwesen.
Eine qualvolle Einsicht überkam den Talbewohner, als er seinen Feind erkannte. Er mußte nach allem erneut kämpfen. Er mußte den Wunschgesang erneut anrufen. Es war kein Ende abzusehen, dachte er betrübt. Wo auch immer er hinging, sie fanden ihn. Jedes Mal, wenn er geglaubt hatte, er habe die Magie das letzte Mal gebraucht, wurde er gezwungen, sie noch einmal einzusetzen. Und noch einmal danach. Immer wieder.
Das Schattenwesen trat weiter vor. Es war nur ein Klumpen aus schwarzem Stoff und sich dahinschleppenden Gliedern. Das Wesen schien sich kaum fortbewegen zu können, und es klammerte sich an seinen Umhang, als könnte es es nicht ertragen, ihn loszulassen. Der Umhang war ebenfalls ein seltsames Ding – glänzend schwarz und so sauber wie neuer Stoff. Trotz der abgerissenen, verdreckten Erscheinung des Wesens, das ihn trug. Par spürte, wie sich die Magie des Wunschgesangs in ihm aufbaute und sich ungebeten von selbst erhob. Er war wie der Kern eines Feuers, das nicht unterdrückt bleiben würde. Er ließ sie kommen, wohl um die Nutzlosigkeit wissend, sie aufhalten zu wollen, wohl erkennend, daß er keine andere Wahl hatte. Er versuchte nicht einmal, nach einem Fluchtweg zu suchen. Fortzulaufen war nach alledem sinnlos. Das Schattenwesen würde sie einfach wieder aufspüren. Es würde immer wieder kommen, bis es endgültig aufgehalten würde.
Bis er es töten würde.
Er zuckte bei diesen Worten zusammen und dachte: Nicht schon wieder – und sah das Gesicht des Soldaten in dem Wachturm vor sich, sah alle ihre Gesichter, all die Toten in all diesen Begegnungen...
Das Wesen blieb stehen. In seinem Umhang schüttelte es heftig den Kopf, als sei es von Dämonen besessen, die niemand anders sehen konnte. Es machte ein Geräusch, das auch ein Weinen sein konnte.
Dann hob sich sein Gesicht ins Licht, und Par Ohmsford spürte, wie die Welt unter ihm versank.
Er sah auf Coll.
Entstellt, verzerrt, verletzt und beschmutzt, war das Gesicht vor ihm immer noch das von Coll.
Einen Moment lang glaubte er, wahnsinnig zu werden. Er hörte Damsons ungläubiges Keuchen, spürte, wie er unfreiwillig einen Schritt zurückwich, und beobachtete, wie sich die Lippen seines Bruders, in dem verzerrten Versuch, Worte hervorzubringen, teilten.
»Par?« hörte er.
Er stieß einen leisen, verzweifelten Schrei aus, brach sofort ab und zwang sich selbst mit äußerster Anstrengung zur Ruhe. Nein. Nein, das war schon einmal versucht worden. Und mißlungen. Dies war nicht Coll. Dies war nur ein Schattenwesen, das vorgab, sein Bruder zu sein, ein Trick, um ihn zu täuschen...
Warum?
Er suchte nach einer Antwort. Um ihn in den Wahnsinn zu treiben. Natürlich. Um ihn zu dem zu machen... um ihn zu zwingen, zu...
Er biß die Zähne zusammen. Coll war tot! Er hatte ihn sterben sehen, vernichtet im Feuer der Magie des Wunschgesangs – Coll! Er war doch einer von ihnen geworden, ein Schattenwesen wie dieses...
Etwas flüsterte ganz tief in ihm, eine Warnung, die keine erkennbare Gestalt annahm, Worte, die ihn warnten, ohne daß er ihre Bedeutung verstand. Vorsicht, Talbewohner! Paß auf!
Seine Hände umklammerten noch immer das Schwert von Shannara. Ohne nachzudenken, noch immer in Entsetzen verloren, hielt er die Klinge und die Scheide vor sich wie einen Schild.
Sofort war das Schattenwesen über ihm. Er überwand die Entfernung zwischen ihnen im Handumdrehen und bewegte sich weitaus schneller, als es für einen so verkrüppelten Körper hätte möglich sein sollen. Es sprang ihn an, stieß einen ärgerlichen Schrei aus, und Colls Gesicht hob sich plötzlich groß und furchteinflößend vor ihm, bis es sich unmittelbar vor seinem eigenen befand und er seinen üblen Geruch wahrnehmen konnte. Verkrümmte Hände schlössen sich um den Griff des Schwertes von Shannara und versuchten es fortzuziehen. In einem Gewirr von Armen und Beinen gingen der Talbewohner und das Schattenwesen zu Boden. Par hörte Damson aufschreien, und dann rollte er von ihr fort und kämpfte um den Besitz des Schwertes. Seine Hände klammerten sich verzweifelt um das Heft und versuchten vergeblich, die Überhand zu gewinnen und die Klinge freizuwinden. Er befand sich seinem Gegner während des Kampfes von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Er konnte in die Tiefen der Augen seines Bruders sehen...
Nein. Nein, es war nicht möglich!
Sie taumelten in die Bäume, in Gräser, die sie peitschten und ihre Hände und Gesichter zerschnitten. Die Scheide gab das Schwert frei, und jetzt war nur noch das rasiermesserscharfe Metall der Klinge zwischen ihnen und wurde durch den Kampf vor- und zurückgerissen wie ein tödliches Pendel. Par verfing sich in den Falten des seltsamen, glänzenden Umhangs. Der Stoff fühlte sich auf seiner Haut abstoßend an, wie die Berührung von etwas Lebendem. Wild um sich schlagend stieß er den Stoff von sich. Er trat aus, und das Schattenwesen grunzte, als Pars Knie in seinen Körper prallte. Aber es wollte nicht loslassen und ließ die Hände mit tödlichem Griff um die Klinge geklammert. Par war zornig. Das Schattenwesen schien keine andere Absicht zu haben, als sich an dieses Schwert zu klammern. Sein Blick war auf die Klinge fixiert und sein Gesicht war schlaff und leer. Pars Hände packten fester zu und gerieten mit den Fingern seines Gegners in Berührung. Er spürte rauhe, schwitzende Haut. Ihre Finger verflochten sich ineinander, während jeder von ihnen versuchte, den Griff des anderen zu lösen, während ihre Körper sich hin- und herwarfen und sich wanden.
Par keuchte. Ein prickelndes Gefühl bemächtigte sich seiner Finger und breitete sich in seinen Armen aus. Er schreckte überrascht zurück – und spürte, wie das Schattenwesen ebenfalls zurückschreckte. Ein Glühen durchdrang ihn, eine seltsame Hitze, die von seinen Handflächen ausströmte.
Sein Blick fiel nach unten.
Die Klinge des Schwertes von Shannara hatte sich verändert und strahlte ein schwaches, blaues Glühen aus.
Pars Augen weiteten sich. Was ging hier vor? Schatten! War es die Magie? Die Magie des Schwertes von...
Der Talisman flackerte heftig, und das blaue Licht verwandelte sich in weißes Feuer, das so heiß brannte wie die Mittagssonne. In ihrem erschreckenden Glühen sah er, wie sich das Gesicht des Schattenwesens wandelte und alle Schlaffheit verschwand, während sich die Gesichtszüge erschreckt festigten. Par zog wild an der Klinge, aber das Schattenwesen hielt sie noch immer fest.
Aus scheinbar sehr weiter Entfernung hörte er Damson einmal seinen Namen rufen.
Dann durchdrang ihn das Licht des Schwertes, das weiße Feuer flammte kühl, aber eindringlich wie Blut durch die Glieder seines Körpers, während es Besitz von ihm ergriff. Es umrundete ihn und zog ihn dann fort, aus sich selbst heraus in die Klinge und dann in den Körper des Schattenwesens. Er kämpfte darum, der Entführung zu entkommen, stellte aber fest, daß er dagegen machtlos war. Er betrat die Gestalt in dem dunklen Umhang und spürte, wie der andere bei seinem Eindringen erschauerte. Par versuchte aufzuschreien, aber er konnte es nicht. Er versuchte freizukommen, aber er scheiterte. Zornig und verzweifelt zugleich drang er in das Schattenwesen hinab. Das Schattenwesen war überall um ihn herum, war vor ihm, die Augen und den Mund ungläubig geöffnet, die Gesichtszüge zu etwas verzerrt...
...zu jemandem...
Coll! Oh, es war Coll!
Vielleicht hatte er die Worte geflüstert. Vielleicht hatte er sie laut herausgeschrien. Er wußte es nicht. In der dunklen Mitte der Seele seines Gegners fielen die Lügen vor der Macht des Schwertes von Shannara ab und wurden zu Wahrheit. Das war kein Schattenwesen, das er bekämpfte, kein dunkler Dämon mit dem Gesicht seines Bruders, sondern tatsächlich sein Bruder selbst. Coll, zurückgekehrt von den Toten, zurückgekehrt ins Leben, so real wie der Talisman, den sie beide umklammert hielten. Par sah, daß der andere dieselbe Erkenntnis hatte wie er und erschauerte, und er erkannte im nächsten Moment, daß es die Erkenntnis dessen war, zu was er geworden war. Er sah die Tränen seines Bruders, hörte sein verzweifeltes Klagen und sah, wie er sich zusammenkrümmte, als sei er vergiftet worden. Der Geist seines Bruders verschloß sich. Er war von der Erkenntnis über sich selbst zu niedergeschmettert, als daß er noch etwas anderes registrieren konnte. Aber Par sah auch alles übrige, alles, was sein Bruder nicht sehen konnte. Er sah die Wahrheit über den Umhang, der Coll umhüllte, jenen Gegenstand, der das Spiegeltuch genannt wurde. Von Schattenwesen gemacht war er von seinem Bruder gestohlen worden, damit er seiner Gefangenschaft in der Südwache entkommen konnte. Er sah Felsen-Dall unheilvoll lächeln und aus einem Strudel von Bildern über ihnen beiden aufragen. Aber als das Schrecklichste von allem sah er den Wahnsinn, der seinen Bruder gefangenhielt, der ihn auf die Suche nach Par getrieben hatte, auf die Suche nach dem spürbaren Grund für seinen Schmerz. Und er sah auch Colls Entschlossenheit, beidem ein Ende zu setzen...
Dann schlug Coll unkontrolliert um sich und riß sich los. Als sich seine Hände vom Heft des Schwerts von Shannara lösten, verschwanden die Bilder sofort, und das weiße Feuer erstarb. Par stolperte rückwärts, und sein Kopf traf mit voller Wucht auf dem Fuß eines Baumes auf. Durch einen wirbelnden, düsteren Dunst beobachtete er, wie sich sein Bruder, von Schattenwesen vereinnahmt, noch immer in den verhaßten Umhang gehüllt, wie ein Geist der Unterwelt erhob. Einen Moment lang kauerte er da, die Hände gegen seinen von der Kapuze verhüllten Kopf gepreßt, als wolle er die noch immer darin verschlossenen Bilder zerschmettern. Er schrie gegen seinen Wahnsinn an, und im nächsten Moment war er fort, in die Bäume geflohen. Er schrie, während er lief, bis die Schreie nur noch ein Echo in dem entsetzten Geist seines Bruders waren.
Und dann war Damson da, half Par auf und hielt ihn fest, bis sie sicher war, daß er allein stehen konnte. Ihre Augen drückten Bemühen und Angst aus, und er nahm wahr, wie sie ihren Körper bewegte, um ihn zu schützen. Sanfte Strahlen des Morgenlichts sprenkelten ihre Gesichter, während sie sich aneinander klammerten. Zusammen schauten sie hinaus in die Dunkelheit des Waldes, als könnten sie dort noch einen letzten Blick auf das Wesen erhaschen, das vor ihnen floh.
»Es war Coll.« Par hauchte die Worte, als wären sie ein Fluch. »Damson, es war Coll!«
Sie starrte ihn ungläubig an und wagte nichts zu erwidern.
»Und dies!« Er hielt das Schwert von Shannara hoch, das er noch immer mit seinen zerkratzten, wunden Händen umklammert hielt. »Dies ist das Schwert!«
»Ich weiß«, flüsterte sie, denn sie war sich dieser zweiten Behauptung weitaus sicherer. »Ich habe es gesehen.«
Er schüttelte verwirrt den Kopf und versuchte noch immer zu verstehen. »Ich weiß nicht, was geschehen ist. Etwas hat die Magie ausgelöst. Ich weiß nicht, was es war. Aber es war da, in dem Schwert verborgen.« Er wirbelte herum, um sie anzusehen. »Ich konnte es nicht allein hervorbringen, aber als wir beide während des Kampfes die Klinge berührten...« Seine Finger legten sich fest um ihren Arm. »Ich habe ihn gesehen, Damson – so deutlich, wie ich dich sehe. Es war Coll.«
Damson versteifte sich. »Par, Coll ist tot.«
»Nein.« Der Talbewohner schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nein, er ist nicht tot. Ich sollte das nur denken. Aber es war nicht Coll, den ich in der Grube getötet habe. Es war jemand oder etwas anderes. Das« – er deutete auf die Bäume – »war Coll. Das Schwert hat es mir gezeigt, Damson. Das Schwert hat mir die Wahrheit gezeigt. Coll war in der Südwache gefangen und ist entkommen. Aber er ist durch diesen schwarzen Umhang, den er trägt, verwandelt worden. Darin ist eine Art feindselige Magie, etwas, das jeden zerstört, der ihn trägt. Es ist Coll, aber er verwandelt sich in ein Schattenwesen!«
»Par, ich habe sein Gesicht auch gesehen. Und es sah ein wenig wie Coll aus, aber nicht so sehr, daß...«
»Du hast nicht alles gesehen«, unterbrach er sie. »Ich aber wohl, weil ich das Schwert gehalten habe, und das Schwert von Shannara enthüllt die Wahrheit! Erinnerst du dich an die Legenden?« Er war so erregt, daß er schrie. »Damson, dies ist das Schwert von Shannara! Es ist es! Und das war Coll!«
»Bestimmt. Ja.« Sie nickte schnell und versuchte, ihn zu beruhigen. »Es war Coll. Aber warum hat er uns gejagt? Warum hat er dich angegriffen? Was hat er vorgehabt?«
Par kniff die Lippen zusammen. »Ich weiß es nicht. Ich hatte nicht genug Zeit, es herauszufinden. Und Coll weiß auch nicht, was vorgeht. Ich konnte einen Moment lang sehen, was er dachte – als wäre ich in seinem Geist gewesen. Er hat erkannt, was ihm angetan wurde, aber er wußte nicht, was er dagegen tun kann. Darum ist er davongelaufen, Damson. Er war entsetzt über das, was aus ihm geworden war.«
Sie sah ihn an. »Wußte er, wer du warst?«
»Ich weiß es nicht.«
»Oder wie er sich selbst helfen kann? Wußte er genug, um den Umhang abzulegen?«
Par atmete tief durch. »Das glaube ich nicht. Ich bin nicht einmal sicher, daß er es kann.« Sein Gesicht zeigte Betroffenheit. »Er wirkte so verloren, Damson.«
Sie legte dann ihre Arme um ihn, und er hielt sie, als sei sie ein Felsen, ohne den ihn das Meer seiner Unsicherheit fortschwemmen würde. Der Sonnenaufgang erhellte den Himmel im Osten. Vögel erwachten mit freudigen Rufen, und ein dünner Film von Feuchtigkeit glitzerte auf dem Gras.
»Ich muß ihm nachgehen«, sagte Par an ihrer Schulter, obwohl er spürte, wie sie sich bei diesen Worten versteifte. »Ich muß versuchen, ihm zu helfen.« Er schüttelte verzweifelt den Kopf. »Ich weiß, damit werde ich mein Versprechen, Padishar zurückzuholen, brechen. Aber Coll ist mein Bruder.«
Sie änderte ihre Haltung, um in sein Gesicht zu sehen. Ihr Blick suchte den seinen und wich nicht aus. »Du hast dich bereits entschieden, nicht wahr?« Sie wirkte erschreckt. »Es ist vielleicht eine Falle, meinst du nicht?«
Er lächelte verbittert. »Das weiß ich.«
Sie blinzelte aufgeregt. »Und ich kann nicht mit dir kommen.«
»Auch das weiß ich. Du mußt zum Firerim Reach weiterziehen und Hilfe für deinen Vater holen. Das verstehe ich.«
Tränen traten ihr in die Augen. »Ich möchte dich nicht verlassen.«
»Ich möchte dich auch nicht verlassen.«
»Bist du sicher, daß es Coll war? Absolut sicher?«
»So sehr, wie ich sicher bin, daß ich dich liebe, Damson.«
Sie legte ihre Arme wieder um ihn. Sie sagte nichts, aber sie barg ihr Gesicht an seiner Schulter. Er konnte sie weinen spüren. Er konnte spüren, wie er innerlich zerbrach. Die Begeisterung darüber, daß sie Paranor gefunden hatten, war vergangen, die Entdeckung selbst war fast vergessen. Das Gefühl des Friedens und der Zufriedenheit, das er kurzzeitig erlebt hatte, als er aus Tyrsis freigekommen war, lag in der Vergangenheit vergraben.
Er machte sich erneut frei. »Ich werde zu dir zurückkommen«, sagte er leise. »Wo auch immer du sein wirst, ich werde dich finden.«
Sie biß sich auf die Unterlippe und nickte. Dann durchsuchte sie ihre Kleidung und zog kurz darauf eine dünne, flache Metallscheibe mit einem Loch darin hervor, durch das ein Lederband gezogen war. Sie löste die Scheibe von ihrem Hals, betrachtete sie einen Moment lang und sah ihn dann an.
»Dies hier wird Skree genannt«, sagte sie. »Es ist eine Art Magie, eine Straßenmagie. Sie wurde mir vor langer Zeit gegeben.« Feuer brannte in dem Blick, den sie ihm zuwarf. »Sie kann nur einmal benutzt werden.«
Dann nahm sie die Scheibe in beide Hände und brach sie so leicht entzwei wie einen morschen Stock. Sie gab ihm die abgetrennte Hälfte. »Nimm sie und binde sie dir um den Hals. Lege sie niemals ab. Die Hälften werden einander wiederfinden. Wenn das Metall glüht, will es uns sagen, daß wir einander nahe sind. Je heller es wird, desto näher werden wir uns sein.«
Sie drückte ihm die abgebrochene Hälfte der Scheibe in die Hände. »So werde ich dich wiederfinden, Par. Und ich werde niemals aufhören, dich zu suchen.«
Er schloß seine Finger um die Scheibe. Ihm war, als habe sich eine Grube unter ihm geöffnet und wolle ihn verschlingen. »Es tut mir leid, Damson«, flüsterte er. »Ich will das nicht tun. Ich würde mein Versprechen halten, wenn ich es könnte. Aber Coll lebt, und ich kann nicht...«
»Nein.« Sie legte einen Finger auf seine Lippen, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Sage nichts mehr. Ich verstehe es. Ich liebe dich.«
Er küßte sie und preßte sie an sich. Dabei prägte er sich die Berührung und das Gefühl ihres Körpers ein, bis er sicher war, daß ihm die Erinnerung eingebrannt war. Dann ließ er sie los, holte die Schwertscheide, hob seine Decke auf, rollte sie zusammen und schlang sie sich um die Schulter.
»Ich werde zu dir zurückkommen«, wiederholte er. »Ich verspreche es.«
Sie nickte wortlos und konnte ihren Blick nicht abwenden, daher wandte er sich schließlich von ihr ab und eilte durch die Bäume davon.