15

Als es so hell wurde, daß er sehen konnte, folgte Par seinem Bruder. Die Sonne ging früh auf, der Tag war klar und strahlend, und die Spur, die Coll hinterließ, war wieder leicht zu erkennen. Par verdoppelte seine Bemühungen und strengte sich stärker an als zuvor. Er war entschlossen, Coll dieses Mal nicht entkommen zu lassen.

Sie befanden sich jetzt tief im Runnegebirge, waren von den Wänden seiner Schluchten umgeben, während sie dem Mermidon in südlicher Richtung folgten, und es war wenig Raum zum Ausweichen. Dennoch wich Coll immer wieder vom Ufer des Flusses ab, als suche er nach einem Weg hinaus. Manchmal kam er fast eine halbe Meile weit, bevor die Berge ihm wieder den Weg versperrten. Einmal gelang es ihm, einen niedrigen Grat zu erklettern und ihm mehrere Meilen weit zu folgen, bevor er an einer Klippe endete und Coll erneut seitwärts ausweichen mußte. Par war jedesmal gezwungen, ihm zu folgen, damit er seine Spur nicht verlor, denn er befürchtete, daß Coll vielleicht kehrtmache, während er einfach weiter am Ufer entlangwanderte. Die Anstrengung dieser Verfolgung kostete ihn alle Kraft, und die schwüle, windstille Luft machte ihn benommen. Der Tag verging, die Sonne begann unterzugehen, und er hatte Coll noch immer nicht gefunden.

Für seine Abendmahlzeit ging er fischen. Er benutzte den Haken und die Angelleine aus dem Handelskontor, kochte und aß seinen Fang und ließ das, was übriggeblieben war – eine mehr als großzügige Portion – auf einem Felsen liegen, der mehrere Dutzend Meter von seinem Schlafplatz entfernt war. Er war den größten Teil der Nacht wach, hörte und sah Dinge, die nicht da waren, und döste selten und unregelmäßig ein. Er sah Coll nicht einmal. Als er erwachte, war der Fisch fort – aber wahrscheinlich war er von wilden Tieren gefressen worden. Er glaubte es nicht, aber er hatte keine Möglichkeit, sich darüber Gewißheit zu verschaffen.

Während der nächsten drei Tage setzte er die Verfolgung fort, bahnte sich seinen Weg flußabwärts und kam dem Regenbogensee und der Südwache beständig näher. Furcht beschlich ihn, daß er Coll nicht erreichen würde, bevor es zu spät war. Irgendwie gelang es seinem Bruder, ihm immer ein Stück voraus zu sein, selbst mit seiner verminderten Fähigkeit, planvoll zu überlegen, selbst in seinem halben Schattenwesenzustand. Coll dachte nicht klar, suchte sich auch nicht den leichtesten oder schnellsten Weg aus und machte sich nicht die Mühe, seine Spuren zu verwischen. Er tat nichts anderes, als gerade außer Reichweite zu bleiben. Es war frustrierend und besorgniserregend zugleich. Es schien unvermeidbar, daß er zu spät zu Coll gelangte, um ihm noch helfen zu können – oder vielleicht auch zu spät, um sich selbst helfen zu können, wenn die Schattenwesen ihn entdeckten. Wenn Felsen-Dall Coll zuerst fand, was konnte Par dann tun? Das Schwert von Shannara benutzen? Er hatte dies bereits einmal getan, ohne daß es etwas genützt hätte. Die Magie des Wunschgesangs einsetzen? Er hatte auch das schon versucht und festgestellt, daß sie auf gefährliche Weise unberechenbar war. Dennoch würde er vielleicht keine andere Wahl haben. Er würde den Wunschgesang benutzen müssen, wenn das die einzige Möglichkeit war, seinen Bruder zu befreien. Welchen Preis er dann bezahlen mußte, spielte keine Rolle.

Er dachte jetzt oft darüber nach, wie sich der Wunschgesang entfaltet hatte und was anscheinend mit ihm geschah, wenn er ihn heraufbeschwor. Er versuchte darüber nachzudenken, was er tun konnte, um sich zu schützen, um die Magie unter Kontrolle zu halten, um zu verhindern, daß sie ihm ganz entglitt. Die Macht baute sich in einer Weise auf, die er nicht verstehen konnte, und entwickelte sich wie schon vor Jahren bei Wil Ohmsford, manifestierte sich auf vielfältig erschreckende Art, was vermuten ließ, daß sich etwas Fundamentales auch in Par ändern würde. Als er das Ausmaß dieser Entwicklung überdachte, erschrak er. Es war einst die Magie Jair Ohmsfords gewesen, ein Wunschgesang, der Bilder aus der Luft formen konnte, Bilder, die real schienen, aber doch nur im Geiste jener existierten, die zuhörten. Jetzt schien es eher die Magie von Jairs Schwester Brin zu sein, eine Magie, die Dinge in Wahrheit verwandeln konnte, die sie unwiderruflich verändern konnte. Aber bei Par konnte sie auch etwas schaffen. Sie konnte Dinge aus dem Nichts zaubern; das Feuerschwert in der Grube oder die Splitter aus Metall und Wind im Wachturm in Tyrsis. Wo war eine Macht wie diese hergekommen? Was konnte die Ursache dafür sein, daß sich die Magie so drastisch verändert hatte?

Aber am meisten ängstigte ihn die Tatsache, daß die Antwort auf alle seine Fragen über den Ursprung der Magie immer dieselbe war: ein schwaches und heimtückisch selbstsicheres Flüstern in seinem Geist, die Worte von Felsen-Dall, als er dem Ersten Sucher in dem Gewölbe mit dem Schwert von Shannara gegenübergestanden hatte.

Du bist ein Schattenwesen, Par Ohmsford. Du gehörst zu uns.

An einem Nachmittag, sechs Tage nachdem die Verfolgung begonnen hatte, vier Tage nach dem Diebstahl des Skree war die Nachmittagshitze so gewaltig, daß sie die Luft zu färben und die Lungen zu verbrennen schien. An diesem Nachmittag führte Colls Spur abrupt in den Fluß hinein und verschwand.

Par blieb am Ufer des Flusses stehen und untersuchte ungläubig den Boden. Er verfolgte die Spur zurück, um sicherzugehen, daß er nicht irregeführt worden war, und setzte sich dann auf einen schattigen Fleck unter einer weit ausladenden Pappel, um seine Gedanken zu sammeln.

Coll war in den Fluß gegangen.

Par starrte über das Wasser hinweg, über den trägen, breiten Fluß zu dem gegenüberliegenden, von Bäumen gesäumten Ufer hinüber. Der Mermidon wand sich an der Stelle, wo sie sich jetzt befanden, aus dem Runne heraus, und floß dem Regenbogensee zu. Die Berge erstreckten sich am Ostufer weiter gen Süden, aber die Westseite flachte sich zu dem hügeligen Grasland und einzelnen Hartholzhainen hin ab. Wenn Coll klar hätte denken können, hätte er sich vielleicht entschlossen, den Fluß dort zu überqueren, wo man leichter hinübergelangte. Aber Coll stand unter dem Zwang des Spiegeltuchs. Par gelangte zu der Erkenntnis, daß es nichts gab, worin er sich sicher sein konnte. Auf jeden Fall mußte er ebenfalls hinübergelangen, nachdem Coll den Fluß überquert hatte.

Er legte seine Kleidung ab, nahm die Angelleine und etwas totes Holz, um sich ein Behelfsfloß zu bauen, band seine Kleidung, die Decke, das Gepäck und das Schwert von Shannara darauf fest und glitt auf den Fluß. Das Wasser war kalt und tröstend. Er stieß sich vom Ufer ab und ließ sich in einem Winkel zum entgegengesetzten Ufer mit dem Fluß treiben. Er beeilte sich und legte ungefähr eine Meile flußabwärts wieder an. Er kletterte ans Ufer, trocknete sich ab, zog sich an, band sich das Schwert und seine Ausrüstung auf den Rücken und machte sich daran, Colls Spur wiederzufinden.

Aber die Spur war nirgendwo zu sehen.

Er suchte flußaufwärts und flußabwärts, bis es dunkel war, und entdeckte nichts. Coll war verschwunden. Par saß im Dunkeln, schaute über die Fläche des Flusses hinweg, über seine glitzernde Oberfläche und fragte sich, ob sein Bruder ertrunken war. Coll war unter normalen Umständen ein guter Schwimmer, aber vielleicht hatte ihn schließlich die Kraft verlassen. Par zwang sich, etwas zu essen, nahm einen Schluck aus dem Wasserschlauch, rollte sich in seine Decke und versuchte zu schlafen. Der Schlaf wollte nicht kommen. Gedanken an Coll und Erinnerungen an die Vergangenheit zerrten an ihm und peinigten ihn. Das Gewicht von allem, was seit Beginn der Träume auf ihn zugekommen war, lastete auf ihm, und Par wurde von widersprüchlichen Gefühlen bedrängt. Was sollte er jetzt tun? Was war, wenn Coll wirklich fort war?

Der Sonnenaufgang kam als ein tiefes, rotes Glühen im Osten herauf, wurde aber überschattet von einer Wolkenansammlung im Westen. Die Wolken rollten über den Horizont und kamen auf Callahorn zu wie eine Wand. Das Tageslicht war fahl und schwach, und die Luft wurde totenstill. Par erhob sich und brach erneut auf. Er eilte am Fluß entlang gen Süden und suchte noch immer nach seinem Bruder. Er war müde und entmutigt und nahe daran, endgültig aufzugeben. Er fragte sich noch immer, was er tat, ob er einem Geist nachjagte, ob er ein Schattenwesen jagte, ob er vorgeführt wurde wie ein stummes Tier. Woher wußte er, daß es wirklich Coll war? Vielleicht hatte Damson recht. War es nicht denkbar, daß das Schattenwesen ihn in irgendeiner Weise getäuscht hatte? Was war, wenn Felsen-Dall ihn mit dem Schwert betrogen hatte oder seine Magie so verändert hatte, daß es ihn täuschte? Angenommen, dies alles war nur eine Art wohldurchdachter Falle. Wie konnte er das feststellen?

Nach einer Weile gab er alles Denken auf, denn es gab nichts mehr, was er nicht bereits erwogen hatte, und es hatte keinen Sinn, daß er sich verausgabte. Er ging einfach weiter und folgte dem Fluß, der sich südwärts durch die Hügellandschaft wand. Mechanisch untersuchte er den Boden, und in seinem Innern begann sich alles in schwarzem Schweigen zu verschließen.

Im Westen verdunkelten sich plötzlich die herannahenden Wolken und ein heftiger Wind eilte ihnen warnend voraus. Vögel flogen schreiend in die Berge im Osten.

Vor ihm, nur wenige Meilen flußabwärts, tauchte die Südwache auf, deren schwarzer Obelisk sich von dem Horizont abhob. Par beobachtete, wie sie ständig größer wurde, während er sich ihr näherte, eine Festung, die dem herannahenden Sturm standhielt. Sein Blick glitt über ihre Mauern und Türme, während er sich einer Ansammlung von Bäumen und Felsen näherte, um dort Deckung zu finden. Nichts zeigte sich. Nichts bewegte sich.

Und dann stieß er plötzlich und unerwartet erneut auf Colls Spur. Er fand sie am Ufer des Flusses, mindestens sieben oder acht Meilen südwärts der Stelle, wo Coll verschwunden war. Er war sich sicher, daß es Coll war, bevor er noch einen Schuhabdruck gefunden hatte, der ihm dies bestätigte. Die Spur führte westlich in die Berge und in den aufkommenden Sturm hinein.

Aber die Spur war bereits Stunden alt. Coll war gestern ans Ufer gekommen und sofort weitergegangen. Par lag mindestens einen Tag zurück.

Dennoch begann er der Spur zu folgen. Er war dankbar, daß er überhaupt eine Spur gefunden hatte und erleichtert, daß sein Bruder noch lebte. Mühsam schleppte er sich vom Fluß landeinwärts. Das Licht schwand jetzt schnell, als sich der Sturm näherte, die Luft wurde glänzend und feucht, und die Gräser peitschten wild gegen seine Beine. Wolken tobten aufgewühlt über ihm und füllten den Himmel vollständig aus. Par schaute zurück zu der Stelle, von der aus er die Südwache zuletzt gesehen hatte, aber der Turm der Schattenwesen war in der Dämmerung verschwunden.

Regen begann in dicken Tropfen zu fallen, sie trafen erst kühl auf seiner erhitzten Haut auf, dann aber bald stechend, als der Wind scharf herabfegte und sie ihm ins Gesicht blies.

Nur Momente später hatte er den Kamm eines Hügels überschritten und sah Coll.

Sein Bruder lag bewegungslos mit dem Gesicht nach unten auf einem Fleck staubigen Grases unter einer kahlen, sturmgeschüttelten Eiche, die in einem flachen Tal aufragte. Auf den ersten Blick schien er tot zu sein. Par eilte mit schmerzendem Herzen vorwärts. Nein, war alles, was er denken konnte. Nein. Dann sah er, daß Coll sich rührte, sah, wie er seinen Arm leicht bewegte und seine Lage veränderte. Ein Bein folgte, wurde hochgezogen, dann wieder heruntergenommen. Coll war nicht tot, er war nur erschöpft. Er hatte sich völlig verausgabt.

Par kam von dem Hügel herab in die Gewalt eines Sturms, der heulte und sich aufbäumte, während er aus dem alles umhüllenden Schwarz herausschoß. Der Klang seiner Schritte wurde von einem Schrei übertönt. Er senkte den Kopf und stolperte vorwärts. Coll war wieder ruhig geworden. Er hörte Par nicht. Par würde ihn erreichen, bevor Coll wußte, daß er da war.

Und was dann, fragte Par sich plötzlich. Was würde er dann tun?

Er griff wohlüberlegt über seine Schulter und zog das Schwert von Shannara aus der Scheide. Irgendwie mußte er eine Möglichkeit finden, die Magie des Talismans erneut heraufzubeschwören und seinen Bruder festzuhalten, um sich seinen Weg zu ihm hindurch bahnen zu können und ihn zu zwingen, die Wahrheit zu sehen, den Umhang der Schattenwesen zu zerreißen und ihn zu seinem eigenen Besten zu befreien.

Zumindest hoffte er, daß das gelänge. Er atmete den Geruch und den Geschmack des Sturms ein. Jetzt würde er seine Gelegenheit bekommen. Coll war sicherlich nicht mehr so stark wie zuvor. Und er selbst würde nicht unvorbereitet sein.

Als er sich Coll näherte, unter die windgepeitschten, skelettartigen Zweige der Eiche gelangte, polterte ein Donnern – das erste dieses Sturms – aus dem Schwarz. Coll schrak bei seinem Klang hoch, rollte sich auf den Rücken und schaute nach oben in das Gesicht seines Bruders.

Par blieb verunsichert stehen. Coll sah ihn aus den Schatten der samtschwarzen Kapuze des Spiegeltuchs heraus an, doch seine Augen waren leer und ohne Verstehen. Eine Hand hob sich schwach, um den Umhang enger um den zusammengekauerten Körper zu ziehen. Er wimmerte und zog seine Knie hoch.

Par hielt den Atem an und näherte sich Coll noch einen Schritt und noch einen. Der Wind fuhr gegen ihn, fuhr unter seine Kleidung und peitschte sein Haar von einer Seite zur anderen. Er hielt das Schwert von Shannara so ruhig, wie er konnte, an seinen Körper gepreßt, konnte es jetzt aber nicht mehr verbergen und hoffte, daß Coll sich nicht nur darauf konzentrierte.

Ein gezackter Blitzstrahl schoß über den Himmel, gleich gefolgt von einem ohrenbetäubenden Donnerschlag, der von Horizont zu Horizont widerhallte.

Coll kam auf die Knie. Seine Augen waren vor Erschrecken weit aufgerissen. Eine Sekunde lang lockerten seine Hände ihren Griff um den Umhang, ließen ihn zurückfallen, und sein Gesicht nahm fast wieder sein altes Aussehen an. Coll Ohmsford war auf einmal wieder da, schaute zu seinem Bruder herüber, als sei er niemals fortgewesen. Erkennen lag in seinem Gesicht, eine wie betäubte, dankbare Erleichterung, die Schmerz und Verzweiflung beseitigte. Par spürte eine Woge der Hoffnung in sich aufsteigen. Er wollte seinen Bruder rufen und ihm versichern, daß alles wieder gut würde. Er wollte ihm sagen, daß er jetzt in Sicherheit war.

Aber im nächsten Moment war Coll fort. Sein Gesicht verschwand wieder in dem Schattenwesen, das von dem Spiegeltuch geschaffen worden war, und ein verzerrtes, verschlagenes Gesicht nahm seinen Platz ein. Mit entblößten Zähnen kauerte sich sein Bruder zusammen und knurrte.

Er wird erneut fliehen, dachte Par bekümmert.

Aber statt dessen eilte Coll auf ihn zu. Er war aufgesprungen und hatte die Entfernung zwischen ihnen überwunden, fast bevor Par zur Abwehr das Schwert von Shannara heben konnte. Colls Hände schlössen sich über Pars, packten das Heft des Schwerts und zogen daran, um es freizubekommen. Par hielt es fest. Er wankte vor und zurück, während er mit seinem Bruder um die Kontrolle über die Klinge kämpfte. Unterdessen strömte Regen auf sie herab, ein Wolkenbruch von solcher Wildheit, daß Par fast nichts mehr sehen konnte. Coll kämpfte aufrecht gegen ihn und drängte sich so nahe heran, daß Par den Herzschlag seines Bruders spüren konnte. Ihre Hände waren über ihren Köpfen ineinander verschlungen, während sie an dem Schwert zogen, es hierhin und dorthin schwangen, daß das Metall naß glitzerte.

Ein Blitz traf im Norden mit einem Aufflammen intensiven Lichts, dem ein gewaltiger Donnerschlag folgte. Der Boden wurde erschüttert.

Par versuchte, die Magie des Schwerts anzurufen, aber er konnte es nicht. Sie war zuvor ziemlich leicht hervorgekommen – warum rührte sie sich jetzt nicht? Er versuchte an dem Wahnsinn seines Bruders vorbeizukämpfen, an dem Zorn seines Angriffs vorbei. Er versuchte, seine Angst auszuschließen, daß nichts helfen würde, daß die Macht geheimnisvoll wieder verloren worden war. Über das rutschige, windgepeitschte Gras hinweg kämpften die Ohmsfordbrüder und stritten um den Besitz des Schwerts von Shannara. Ihr Stöhnen und Schreien ging im Geräusch des Sturms unter. Wieder und wieder versuchte Par erfolglos, die Magie heraufzubeschwören. Verzweiflung packte ihn. Er würde auch diesen Kampf verlieren, denn Coll war größer als er, und seine Größe und sein Gewicht würden ihn überwältigen. Schlimmer noch, sein Bruder schien stärker zu werden, während seine eigene Kraft nachließ. Coll war ihm vollständig überlegen, trat und kratzte und kämpfte, als sei er völlig wahnsinnig geworden.

Aber Par wollte nicht aufgeben. Er klammerte sich verzweifelt an das Schwert und war entschlossen, es um keinen Preis loszulassen. Er ließ sich von seinem Bruder zurückschieben, ließ sich rücksichtslos abdrängen, ließ sich hierhin und dorthin stoßen und hoffte dabei, daß die Anstrengung Coll ermüden würde, so daß er langsamer wurde, daß sie ihn soweit schwächen würde, daß er eine Möglichkeit finden konnte, Coll bewußtlos zu schlagen. Wenn ihm das gelang, hatte er vielleicht eine Chance.

Schnell und erschreckend flammten erneut Blitze auf. In ihrem kurzen Aufleuchten erblickte Par einen Moment lang schattenhafte Gestalten, die sich auf dem Hügel über dem Tal versammelten. Es waren Dutzende, und alle waren verzerrt und gekrümmt und gebeugt, und ihre Augen schimmerten wie Blut.

Dann waren sie wieder fort, von der dunklen Sturmnacht verschluckt. Verwirrt blinzelte Par den Regen fort, der ihm in die Augen lief und versuchte, hinter Colls kämpfender Gestalt etwas zu erkennen. Was hatte er gerade dort draußen gesehen? Erneut flammte ein Blitz auf, gerade als Coll wie wild zuschlug und ihn auf das nasse Gras warf. Dieses Mal sah er nichts, sondern kämpfte darum, den Atem in seinen Lungen zu halten, als er auf dem Boden auftraf. Coll warf sich heulend auf Par, aber der nutzte den Schwung seines Bruders gegen ihn selbst, indem er den anderen über seinen Kopf schleuderte und sich freiwand. Benommen stand er auf und sah sich suchend um. Die Dunkelheit war so dicht, daß er kaum die verwüstete Eiche sehen konnte. Und von dem Hügel war überhaupt nichts zu sehen.

Coll griff ihn erneut an, aber dieses Mal war Par vorbereitet. Er durchbrach die Abwehr des anderen und schlug Coll mit dem Schwertheft fest auf den Kopf. Coll fiel wie betäubt auf die Knie und tastete suchend vor sich in der Luft, als greife er nach etwas, was nur er sehen konnte. Rote Tropfen liefen sein Gesicht von der Stelle hinab, an der der Schlag seine Haut hatte aufplatzen lassen. Es war Blut, das ausströmte und sich hellrot färbte, als es sich mit dem Regen vermischte. Seine Gesichtszüge begannen sich zu verändern, er verlor das Aussehen eines Schattenwesens und wurde wieder menschlich. Zitternd vor Verzweiflung und Erschöpfung wollte Par zuschlagen, aber er hielt inne, als er sah, wie sich der Blick des anderen plötzlich fragend auf ihn richtete.

Es war sein Bruder, der ihn ansah. Es war Coll.

Er fiel in dem nassen Gras und Schlamm auf die Knie und sah Coll an. Die Lippen seines Bruders bewegten sich, doch die Worte, die er sprach, gingen im Heulen des Windes und im Regen verloren. Er zitterte vor Kälte, begann unter der schimmernden Decke des Spiegeltuchs langsam den Kopf zu schütteln und wand sich in den dunklen Falten, als sei es das Schwerste, was er jemals hatte tragen müssen. Coll. Par sprach seinen Namen aus. Colls Hände hoben sich, packten die Falten seines Umhangs, zerrten daran und fielen dann hinab. Coll.

In dem verzweifelten Versuch, seinem Bruder zu helfen, bevor die Chance vertan war, stieß Par das Schwert von Shannara in die Erde und griff daran vorbei nach Colls Händen. Coll widersetzte sich nicht, aber seine Augen waren noch immer leer und stumpf. Par führte Colls Hände zum Knauf des Schwerts, legte die kalten zitternden Finger an ihren Platz und hielt sie mit seinen eigenen Händen zusätzlich fest. Bitte, Coll. Bitte bleib bei mir. Coll sah ihn an, sah ihn wirklich und schaute doch gleichzeitig durch ihn hindurch. Das Schwert von Shannara verband sie und hielt sie fest, hielt ihre Finger ineinander verschlungen, gegen die in das Heft eingeschnitzte erhobene Fackel und gegeneinander gepreßt.

Par sah in der regenüberströmten Oberfläche der Klinge, welche Verwirrung sich in seinem Gesicht spiegelte. »Coll!« schrie er.

Die Augen seines Bruders öffneten sich ruckartig. Bitte laß die Magie kommen, betete Par. Bitte!

Colls Blick war auf ihn gerichtet und suchte nach mehr.

»Coll, hör mir zu! Par! Dein Bruder Par!«

Coll blinzelte. Eine Spur des Erkennens war zu sehen. Ein helles Schimmern. Unter seinen eigenen Händen konnte Par fühlen, wie sich Colls Finger um das Schwertheft krampften.

Coll!

Licht flackerte schnell und blendend die Länge der glatten Klinge hinab, eine weiße Raserei, die im Handumdrehen alles umhüllte. Feuer folgte kühl und strahlend, während es aus dem Schwert in Pars Körper brannte. Er spürte, wie es sich ausbreitete und wirkte, ihn aus sich hinaus und in den Talisman hineinzog, wo er Coll wartend vorfand und dann mit ihm zu einer Einheit verbunden wurde. Er spürte, wie er sich durch das Metall hindurch und wieder hinaus zu irgendeinem weit dahinterliegenden Ort bewegte. Die Welt, aus der er herausgezogen worden war, verschwand – die Nässe und der Schlamm, die Dunkelheit und die Geräusche. Es gab Reinheit, und es gab Stille. Es gab nichts anderes.

Da waren nur Coll und er selbst. Nur sie beide.

Auf einmal wurde er sich der schimmernden, schwarzen Fläche des Spiegeltuchs bewußt, das Kopf und Schultern seines Bruders umhüllte und sich wand wie eine Schlange. Der Umhang lebte. Er wand sich hierhin und dorthin und wehrte sich heftig gegen das Ziehen von etwas Unsichtbarem, von etwas, das es zu zerreißen drohte.

Par konnte es zischen hören.

Das Schwert von Shannara. Die Magie des Schwerts.

Er ließ seine Gedanken tief in den Geist seines Bruders hineinfließen, hinunter in die Dunkelheit, die sich dort breitgemacht hatte und jetzt darum kämpfte, bleiben zu können. Hör mir zu, Coll. Lausche der Wahrheit. Er zwang den Geist seines Bruders, sich zu öffnen und schlug die Magie der Schattenwesen, die er dort wartend vorfand, zurück, ungeachtet seiner eigenen Sicherheit, nur getrieben von dem Bedürfnis, seinen Bruder zu befreien. Die Magie des Schwerts beschützte und unterstützte ihn. Hör mir zu. Seine Stimme drang wie eine Peitsche in den Geist seines Bruders. Er sammelte seine Worte und gab ihnen Gestalt und Form, Bilder, die der Intensität des Wunschgesangs entsprachen, wenn der die Geschichten der dreihundert vergangenen Jahre erzählte. Die Wahrheit, wer und was er geworden war, stürmte auf Coll ein, wurde weder verlangsamt noch abgelenkt, als sie in ihn hineinfloß. Coll sah, wie er zugrunde gerichtet worden war. Er sah, was der Umhang ihm angetan hatte. Er sah, wie er gegen seinen Bruder aufgehetzt worden war, wie er gesandt worden war, um eine düstere Absicht zu erfüllen, deren sich keiner von ihnen bewußt war. Er sah alles, was durch die Magie der Schattenwesen so sorgfältig verborgen worden war.

Er sah auch, was notwendig war, um sich davon zu befreien.

Die Qual dieser Enthüllungen war intensiv und eindringlich. Par konnte sie durch seinen Bruder hindurchhallen spüren, und Wogen dieser Qual wurden auf ihn selbst zurückgeworfen. Das Leben seines Bruders wurde vor ihm bloßgelegt, eine strenge und unerbittliche Reihe von Wahrheiten, die ihn bis ins Mark trafen. Par kämpfte gegen seinen Schrecken und seinen Schmerz an und stellte sich ihnen unerschütterlich entgegen, weil es für seinen Bruder notwendig war, daß er ungebeugt blieb. Er konnte Colls stummen Schrei der Qual darüber, was ihm offenbart wurde, hören und sah diese Qual in Colls Augen gespiegelt. Diese Erfahrung war tief und hart. Er wandte sich nicht ab. Er wurde nicht weich. Die Wahrheit war das weiße Feuer des Schwerts von Shannara, das brannte und reinigte und das ihre einzige Hoffnung war.

Coll wich zurück und schrie auf einmal, und das Geräusch brachte sie aus der weißen Stille heraus in die Schwärze zurück, in den heulenden Zorn des Sturms, wo sie beide in Schlamm und Gräsern unter der uralten Eiche knieten, während sich über ihnen dunkle, aufgewühlte Wolken auftürmten. Eine wirbelnde, verschwommene Düsternis war überall um sie herum zu spüren, als wäre das letzte bißchen Tageslicht ausgelöscht worden. Regen blies in ihre Gesichter, so daß sie nicht mehr sehen konnten als jeweils einen Schimmer des anderen, während sie vereint die schimmernde Länge des Schwerts umklammerten. Hell und versengend schössen Blitze heran, und dann brach der Donner mit ungeheurer Wucht herein.

Coll Ohmsfords Hand wand sich von dem Schwert frei und zog damit auch Pars Finger fort. Coll erhob sich mit einem Ausdruck der Betroffenheit auf dem Gesicht. Aber Par sah sein Gesicht, das Gesicht seines Bruders, und nichts von der Schauerlichkeit der Schattenwesen, die es hatten beanspruchen wollen. Coll griff hastig hinter sich und löste das Spiegeltuch. Er riß es fort und warf es zu Boden. Der Spiegeltuch landete inmitten der Nässe und des Schmutzes und begann sofort zu dampfen. Es erschauerte und wand sich und begann dann Blasen aufzuwerfen. Grüne Flammen entsprangen seinen schimmernden Falten und brannten lichterloh. Das Feuer breitete sich unerbittlich aus, und innerhalb von Sekunden war das Spiegeltuch zu Asche zerfressen.

Par stand mühsam auf und sah seinen Bruder an, sah in Colls Augen, wonach er gesucht hatte. Coll war zu ihm zurückgekehrt. Das Schwert von Shannara hatte ihm die Wahrheit über das Spiegeltuch offenbart: daß es von Schattenwesen verhext worden war, daß es geschaffen worden war, um ihn zu zerrütten, daß die einzige Möglichkeit, sich jemals davon zu befreien, darin bestand, den Umhang abzulegen und fortzuwerfen. Das alles hatte Coll getan. Das Schwert hatte ihm die Kraft dazu gegeben.

Aber selbst in diesem Moment freudigster Erregung, als der Kampf gewonnen und Coll zu ihm zurückgekehrt war, spürte Par, wie sich etwas Quälendes in ihm rührte. Es hätte mehr dort sein sollen, flüsterte eine Stimme. Die Magie hätte mehr tun können. Erinnerst du dich an die Geschichten von vor fünfhundert Jahren? Erinnerst du dich an den ersten Ohmsford? Erinnerst du dich an Shea? Die Magie hatte für Shea etwas anderes getan, als er sie angerufen hatte. Sie hatte ihm die Wahrheit über sich selbst gezeigt, hatte zuerst alles offenbart, was er zu verbergen, zu verschleiern versucht hatte. Was er vergessen wollte, und was er für nicht existent erklärt hatte. Es hatte Shea Ohmsford die Wahrheit über sich selbst gezeigt, die härteste Wahrheit von allen, damit der in der Lage war, danach jede andere Wahrheit zu ertragen, die verlangt wurde.

Warum war ihm selber nichts von dieser Wahrheit gezeigt worden? Warum hatte alles nur Coll allein betroffen?

Blitze flammten erneut auf, und Pars Gedanken ließen die Bewegung der dunklen Gestalten auf den Hügeln um sie herum ein, Gestalten, die dieses Mal so deutlich sichtbar waren, daß kein Irrtum darüber möglich war, was sie waren. Par wandte sich um, sah sie zusammengekauert, verzerrt und dunkel überall warten und sah ihre roten Augen glühen. Er spürte, wie Coll näher herankam, spürte, wie sein Bruder seinen Rücken schützte. Coll sah sie jetzt auch.

Eine seltsame Mischung aus Verzweiflung und Zorn überwältigte Par Ohmsford. Die Schattenwesen hatten sie gefunden.

Bald darauf stieg Felsen-Dall von den Hügeln herab. Seine groben, harten Gesichtszüge hoben sich dem Regen entgegen, doch seine Augen blieben so kalt wie Stein und so rot wie Blut. Ein Dutzend Schritte vor ihnen blieb er stehen. Wortlos hob er seine behandschuhte Hand und winkte. Die Geste sagte alles. Sie mußten mit ihm kommen. Sie gehörten ihm. Sie waren jetzt sein Eigentum.

Par hörte die Stimme des Ersten Suchers in seinem Geist, hörte sie so deutlich, als hätte der andere gesprochen. Er schüttelte kurz den Kopf. Er würde nicht mitkommen. Weder er noch Coll. Niemals wieder.

»Par«, hörte er seinen Bruder sanft seinen Namen aussprechen. »Ich bin bei dir.«

Ein plötzliches Kratzen der Klinge erklang, als Coll das Schwert von Shannara langsam aus der Erde zog. Par sah sich um. Coll hielt den Talisman in beiden Händen und wandte sich den Schattenwesen zu.

Wild entschlossen, daß nichts sie wieder trennen sollte, rief Par Ohmsford die Magie des Wunschgesangs herauf. Sie reagierte sofort, denn sie war bestrebt, freigelassen zu werden, war eifrig bedacht, eingesetzt zu werden. Es war etwas Erschreckendes in der unersättlichen Intensivität ihres Kommens. Par erschauerte unter den Gefühlen, die sie durch ihn hindurchsandte, unter dem Hunger, den sie in ihm auslöste. Er mußte sie kontrollieren, warnte er sich, und begann zu zweifeln, daß ihm das gelingen würde.

Über die sie trennende Dunkelheit hinweg konnte Par FelsenDall lächeln sehen. Überall auf den Graten der Hügel konnte er die Schattenwesen herabsteigen sehen, hörte das Kratzen von Klauen und durch das schnelle Heulen des Windes das Knirschen der Zähne und sah das Schimmern roter Augen, die den Regen zum Dampfen brachten. Wie viele waren es, fragte er sich. Zu viele. Sogar für die lebhafte Magie des Wunschgesangs zu viele. Verzweifelt sah er sich um und suchte nach einer Stelle, an der sie durchbrechen konnten. Sie würden irgendwann davonlaufen müssen. Sie würden versuchen müssen, den Fluß oder die Wälder zu erreichen, irgendeinen Ort, an dem sie eine Chance hatten, sich zu verbergen.

Als ob es einen solchen Ort gäbe! Als ob es überhaupt eine Chance für sie gäbe!

Vor Zorn überschäumend sammelte sich die Magie als weißes Glühen in seinen Fingerspitzen. Par spürte, wie sich Coll an ihn drängte, und sie standen Rücken an Rücken den Schattenwesen gegenüber, deren Kreis sich um sie schloß.

Blitze flammten auf, und Donner rollte durch die Dunkelheit und prallte in das Tosen des Windes. In der Ferne schwankten Bäume, und Blätter, die von ihren Zweigen gerissen worden waren, und zerstreuten sich wie erschreckte Gedanken. Lauf, dachte Par. Lauf jetzt, solange du es noch kannst.

Und dann flammte am Fuß der uralten Eiche ein Licht auf, eine sichere und stetige Helligkeit, die aus der Luft zu wachsen schien. Sie drang in die Dunkelheit vor, schwang sanft hin und her, und drang durch den Vorhang aus Regen doch kaum mehr als das Flackern einer Kerze. Die Bewegung der Schattenwesen gefror in der Stille. Der Wind wurde zu einem dumpfen Wehen. Par sah, wie das Lächeln von Felsen-Dalls Gesicht verschwand. Der Blick aus seinen kalten Augen wanderte zu der Stelle, von der her sich das Licht näherte, wo es allmählich die kleine, schmale Gestalt preisgab, die das Licht mit sich führte.

Es war ein Junge, der eine Lampe trug.

Der Junge kam auf Par und Coll zu, ohne seinen Schritt zu verlangsamen. Er hielt die Lampe vor sich, um den Weg zu beleuchten. Seine Augen waren dunkel und eindringlich, das Haar feucht an die Stirn geklebt und die Gesichtszüge glatt und eben und ruhig. Par spürte die Magie des Wunschgesangs vergehen. Er fühlte sich von diesem Jungen nicht bedroht. Er hatte keine Angst. Er schaute eilig zu Coll hinüber und sah Verwunderung in den dunklen Augen seines Bruders.

Der Junge erreichte sie und blieb stehen. Er hatte für die Monster, die in der Dunkelheit außerhalb des Lichtkreises seiner Lampe unheilvoll knurrten, keinen einzigen Blick übrig. Seine Augen blieben fest auf die Brüder gerichtet.

»Ihr müßt jetzt mit mir kommen, wenn Ihr in Sicherheit gebracht werden wollt«, sagte er ruhig.

Felsen-Dall erhob sich wie ein dunkler Geist, warf den Schutz seiner Gewänder ab, so daß seine Arme frei waren, und der schwarze Handschuh wurde sichtbar, als sollte er das Licht fortziehen. »Du gehörst nicht hierher!« zischte er mit seiner unbewegten Stimme. »Du hast hier keine Macht!«

Der Junge wandte sich ein wenig ab. »Ich habe Macht, wo immer ich es will. Ich bin der Träger des Lichts der Welt, jetzt und für immer.«

Felsen-Dalls Augen glühten. »Deine Magie ist alt und verbraucht! Verschwinde, solange du es noch kannst!«

Par schaute von einem Gesicht zum anderen. Was ging hier vor? Wer war dieser Junge?

»Par!« hörte er Coll seufzen.

Und er sah, wie sich der Junge plötzlich in einen alten Mann verwandelte, der zerbrechlich und vom Alter gebeugt war und die Lampe weit von sich hielt, als könnte sie ihn verbrennen.

»Und deine Magie«, flüsterte der alte Mann Felsen-Dall zu, »ist gestohlen und wird dich schließlich verraten.«

Er wandte sich erneut an Par und Coll. »Kommt jetzt, laßt uns fortgehen und habt keine Angst. Es gibt kleine Dinge, die ich noch immer für Euch tun kann, und dies ist eines davon.« Aus faltigem Gesicht musterte er sie. »Ihr habt doch keine Angst, nicht wahr? Vor einem alten Mann? Vor einem alten Freund so vieler Mitglieder eurer Familie? Kennt Ihr mich? Ihr kennt mich, nicht wahr? Natürlich. Natürlich kennt Ihr mich.« Er streckte eine Hand aus und streifte sie. Seine Haut fühlte sich an wie altes Papier oder trockene Blätter. Und irgend etwas funkelte, während er dies tat. »Sprecht meinen Namen aus«, sagte er.

Und plötzlich wußten sie es. »Ihr seid der König vom Silberfluß«, flüsterten sie gemeinsam, und das Lampenlicht streckte sich aus und umschloß auch sie.

Im selben Augenblick griffen die Schattenwesen an. Sie kamen als schwarze Flut von dem Abhang herab, und ihre Schreie und ihr Geheul erschütterten die seltsame Stille, die der König vom Silberfluß mit sich gebracht hatte. Sie kamen zähneknirschend und mit ausgestreckten Klauen heran und zerrissen wütend Luft und Erde. Noch vor ihnen kam Felsen-Dall heran, in etwas Unbeschreibliches verwandelt, und er kam so schnell, daß er den Abstand zwischen sich und den Ohmsfords in Sekundenschnelle überbrückt hatte. Eisenbänder wickelten sich um Pars Kehle und Colls Brust, zogen sich fest zu und drohten sie zu ersticken. Sie hatten ein Gefühl, als würden sie gänzlich in die Schwärze eingesogen, als würden sie in eine Grube versinken, die zu tief war, um gemessen werden zu können. Einen Augenblick lang waren sie verloren, und dann erreichte sie die Stimme des Königs vom Silberfluß wieder und sammelte sie ein, barg sie wie die Hände einer Mutter, die ihr Kind umfaßt, befreite sie von den Eisenbändern und trug sie aus der Schwärze hinauf.

Felsen-Dalls Stimme war das Kratzen von Eisen auf Stein, und die Stimme des Königs vom Silberfluß verklang wieder. Erneut schloß sich die Dunkelheit um sie, und die Bänder packten sie. Par kämpfte verzweifelt darum, freizukommen. Er konnte das furchtbare Schwanken der Magien spüren, die beide Gegner losgelassen hatten, die Kräfte des Ersten Suchers und die des uralten Geists, während sie um die Kontrolle über ihr Leben kämpften, um Coll und ihn. Sein Bruder war von ihm getrennt worden, denn er konnte nicht mehr spüren, daß er sich an ihn drängte. Einen Moment lang konnte er Coll sehen, konnte die vertrauten Gesichtszüge erkennen, und dann war auch das fort.

»Par, ich muß dir sagen...« hörte er seinen Bruder aufschreien.

Die Magie des Wunschgesangs baute sich in ihm auf, und die Worte seines Bruders verklangen in deren Ansturm.

Die Lampe des Königs vom Silberfluß schnitt in die Dunkelheit der Schattenwesen und zwang sie fort. Par griff nach dem Licht, streckte seine Hände danach aus. Aber die Dunkelheit wogte wieder heran wie ein Schrei der Verzweiflung und der Verärgerung. Sie trennte Par von dem Licht und schloß ihn aus.

Erschreckt ließ Par seine Magie frei. Sie drang aus ihm heraus wie eine Flut im Frühlingssturm, wie ein reißender Strom, der nicht gebremst werden kann. Par spürte die Magie weißheiß und wild überall ausbrechen und alles verbrennen. Sie fegte wütend über ihn hinweg, und Par konnte nichts mehr tun, um ihr Einhalt zu gebieten.

Er spürte, wie er sich veränderte, spürte, wie er seinen Körper verließ, wie er sein Gesicht zur Seite wandte und verbarg, wer und was er war. Die Veränderung war erschreckend und real. Es war, als würde er seine Haut abstoßen.

Er sah die Lampe des Königs vorn Silberfluß verschwinden. Er sah, wie sich die Dunkelheit um ihn schloß.

Dann gaben seine Kräfte nach, er verlor das Bewußtsein und sah überhaupt nichts mehr.

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