Walker Boh dachte zwei Tage lang nach, bevor er erneut versuchte, der Belagerung Paranors durch die Schattenwesen zu entkommen.
Vielleicht hätte er es auch dann nicht versucht, aber er merkte, daß er in einen gefährlichen Bewußtseinszustand hinüberglitt. Je mehr er über verschiedene Fluchtmöglichkeiten nachdachte, desto mehr hatte er das Gefühl, noch weiter darüber nachdenken zu müssen. Jeder Plan hatte seine Fehler, und jeder Fehler wurde verstärkt, wenn er zur Überprüfung um und um gewendet wurde. Nichts, was er ersann, schien genau das Richtige, und je härter er daran arbeitete, eine todsichere Methode für eine erfolgreiche Flucht zu ersinnen, desto mehr begann er an sich zu zweifeln. Schließlich wurde es offensichtlich, daß er alles Vertrauen verlieren und schließlich gänzlich handlungsunfähig werden würde, wenn er sich erlaubte, so weiterzumachen.
Es war alles Teil eines Spiels, das die Schattenwesen mit ihm spielten, fürchtete er.
Seine erste Begegnung mit den Vier Reitern hatte ihn physisch zerschlagen zurückgelassen, aber es waren nicht jene Verletzungen, die ihn besorgt machten. Es war der psychische Schaden, der nicht heilen wollte und der in ihm verblieben war wie ein Fieber. Walker Boh hatte sein Leben immer unter Kontrolle gehabt und war immer in der Lage gewesen, die Ereignisse um sich herum zu beeinflussen und Zwänge im Zaum zu halten. Er hatte dies überwiegend dadurch erreicht, daß er sich innerhalb der vertrauten Grenzen des Darklin Reach isoliert hatte, wo die zu erwartenden Gefahren und Probleme, die zu lösen waren, bekannt und innerhalb seiner außergewöhnlichen Fähigkeiten überschaubar blieben. Er hatte Gewalt über die Magie, Intelligenz, gekoppelt mit außerordentlichem Einblick, und andere verschiedenartige Fähigkeiten, die von der Erfahrung durch unmittelbare Erkenntnis bis zum Erlernten reichten – und den Fähigkeiten eines jeden, gegen den er sie einsetzte, weit überlegen waren.
Aber das hatte sich geändert. Er hatte den Darklin Reach verlassen und war in die Außenwelt gekommen. Dies war jetzt seine Heimat. Die Hütte am Hearthstone war zu Asche zerfallen, das Leben, das er gekannt hatte, war in einer anderen Zeit verschollen. Er hatte einen Weg beschritten, der sein Dasein so sicher wie der Tod verwandelt hatte. Er hatte Allanons Aufgabe angenommen und sie bis zum Schluß verfolgt. Er hatte den Schwarzen Elfenstein wiederentdeckt und Paranor zurückgebracht. Er war der erste der neuen Druiden geworden. Er war ein völlig anderer als der Mensch, der er noch vor wenigen Wochen gewesen war. Diese Verwandlung hatte ihm neuen Einblick gewährt, Kraft, Wissen und Macht. Aber sie hatte ihn auch neuen Verantwortlichkeiten, Erwartungen, Herausforderungen und Feinden überantwortet. Es würde noch zu entscheiden sein, ob ersteres ausreichte, letzteres zu bewältigen. Zumindest im Moment war diese Angelegenheit noch nicht entschieden. Walker Boh könnte scheitern und für immer verloren sein – oder er könnte einen Weg finden, wieder in Sicherheit zu gelangen. Er war ein Mensch, der am Abgrund hing.
Die Schattenwesen wußten das. Sie hatten ihn bedrängt, seit sie entdeckt hatten, daß Paranor zurückgebracht worden war. Walker war in seiner Rolle als Druide noch immer ein Kind, und jetzt war der Zeitpunkt, an dem er sicherlich am verwundbarsten war. Ihn zu belagern, ihn zu bedrängen, seine Entwicklung zu behindern, ihn wenn möglich zu töten, ihn aber auf alle Fälle zu schwächen – das war der Plan.
Und der Plan funktionierte. Walker war nach seinem ersten, mißlungenen Fluchtversuch nach Paranor zurückgekehrt und war sich mehrerer, sehr unerfreulicher Wahrheiten bewußt geworden. Erstens besaß er nicht genug Macht, um sich in einer direkten Konfrontation zu befreien. Die Vier Reiter waren ihm mehr als gewachsen, und ihre Magie entsprach der seinen. Zweitens konnte er nicht unentdeckt an ihnen vorbeigelangen. Drittens, und als schlimmster Punkt, besaßen sie weitaus mehr Erfahrung als er – und sie fürchteten ihn nicht. Sie hatten ihn gesucht. Sie hatten dies offen, ohne jede Verstellung getan. Sie hatten ihn bedroht und hatten ihn dazu herausgefordert, herauszukommen und sie zu bekämpfen. Sie umkreisten Paranor in offenkundiger Geringschätzung dessen, was er tun könnte. Er war ein Gefangener in seiner eigenen Festung, reduziert auf den Versuch, einen Plan zu ersinnen, der ihm die Freiheit bescheren würde, und die Vier Reiter wetteten darauf, daß ihm dies nicht gelingen würde. Und er sah sich gezwungen, zuzugeben, daß sie möglicherweise recht hatten.
»Du denkst zuviel darüber nach«, riet Cogline ihm schließlich, als er ihn wieder auf den Mauern vorfand, wo er auf die Geister hinabstarrte, die unter ihm kreisten. Er sah hager und blaß aus, abgezehrt und ausgelaugt. »Sieh dich an, Walker. Du schläfst kaum. Du achtest nicht auf deine Erscheinung – du hast seit deiner Rückkehr nicht mehr gebadet. Du ißt nicht.«
Mit einer schwachen Bewegung rieb sich der alte Mann über die Barthaare am Kinn. »Denk nach, Walker. Das ist es doch, was sie bezwecken. Sie haben Angst vor dir! Wenn dem nicht so wäre, würden sie einfach die Tore durchbrechen und diese Angelegenheit beenden. Aber das wird nicht nötig sein, wenn sie dich dazu bringen, daß du an dir selbst zweifelst, in Panik gerätst und Vorsicht und Vernunft außer acht läßt, die dich so weit gebracht haben. Wenn das geschieht, werden sie gewonnen haben. Früher oder später, denken sie, wirst du etwas Dummes tun, und dann werden sie dich haben.«
Es war die längste Rede, die Cogline seit seiner Rückkehr gehalten hatte. Walker sah ihn an, musterte das uralte, wettergegerbte Gesicht, den spindeldürren Körper, die Arme und Beine, die wie Stöcke aus seinen Gewändern herausragten. Cogline hatte ihn bei seiner Rückkehr mit beruhigenden Worten empfangen, aber er hatte ansonsten weitgehend in sich gekehrt und entfernt gewirkt – genauso wie er es jene wenigen Tage lang gewesen war, bevor Walker das erste Mal einen Ausbruch versucht hatte. Etwas war mit Cogline vorgegangen, ein geheimer Konflikt, aber Walker war damals, wie auch jetzt, zu sehr mit seinen eigenen Problemen beschäftigt gewesen, als daß er ihn dazu aufgefordert hätte, zu offenbaren, was es war.
Dennoch ließ er sich von dem alten Mann von den Brustwehren ins Innere der Festung und zu einer warmen Mahlzeit führen. Er aß mit Begeisterung, trank ein wenig Bier und beschloß, daß ein Bad immerhin eine gute Idee war. Er saß in dem dampfenden Wasser, das ihn innerlich und äußerlich reinigte und spürte, wie die Hitze seinen Körper und Geist tröstete und entspannte. Ondit leistete ihm Gesellschaft. Er hatte sich neben der Wanne zusammengerollt, als wolle er an der Wärme teilhaben. Während Walker sich abtrocknete und wieder anzog, dachte er über die außergewöhnliche Ruhe der Moorkatze nach, jene Maske, die alle Katzen kennzeichnete, wenn sie die Welt um sich herum betrachteten und auf ihre eigene, unergründliche Weise abwogen. Ein wenig von dieser Ruhe könnte nützlich sein, dachte er.
Dann schweiften seine Gedanken plötzlich ab.
Was stimmte mit Cogline nicht?
Er ließ seine eigenen Sorgen in dem Badewasser zurück und ging hinaus, um den alten Mann zu suchen. Er fand ihn in der Bibliothek, wo er erneut die Druidengeschichten las. Cogline schaute auf, als er hereinkam. Er schien erschreckt durch sein Erscheinen oder durch das, was es bedeuten mochte – Walker konnte nicht sagen, was von beidem es war.
Walker setzte sich neben ihn auf eine geschnitzte, gepolsterte Bank. »Alter Mann, was beunruhigt dich?« fragte er leise. Er streckte die Hand aus, um sie beruhigend auf die dünne Schulter des anderen zu legen. »Ich sehe die Sorge in deinen Augen. Erzähle es mir.«
Cogline zuckte übertrieben die Achseln. »Ich mache mir Sorgen um dich, Walker. Ich weiß, wie seltsam dir alles erscheint, seit... nun, seit all das begann. Es kann nicht leicht sein. Ich denke immer, daß es etwas geben muß, was ich tun kann, um dir zu helfen.«
Walker schaute fort. Seit dem Schwarzen Elfenstein, dachte er. Seit Allanon ein Teil von mir geworden ist, in mich eingedrungen ist durch die Magie, die verblieben war, um Paranor in Sicherheit zu halten, bis die Druiden zurückkehren würden. »Seltsam« ist kaum das richtige Wort dafür.
»Du brauchst dir keine Sorgen um mich zu machen«, antwortete er mit ironischem Lächeln. Zumindest nicht darüber. Die in die Vergangenheit und in die Gegenwart eingebundenen Kämpfe waren vergangen, als Walker Allanon in sich aufgenommen hatte, und das Leben und das Wissen der Druiden war zu seinem eigenen geworden. Er dachte daran, wie die Magie durch ihn hindurchgepeitscht war und allen Widerstand verbrannt hatte, bis er keine andere Wahl mehr gehabt hatte, als sie als seine eigene zu akzeptieren.
»Walker.« Cogline sah ihn jetzt konzentriert an. »Ich glaube nicht, daß Allanon dir das alles zugemutet hätte, wenn er nicht geglaubt hätte, daß du mit genügend Macht daraus hervorgehst, um dich der Schattenwesen erwehren zu können.«
»Du hast mehr Vertrauen als ich.«
Cogline nickte ernst. »Das war schon immer so, Walker. Wußtest du das nicht? Aber mein Vertrauen wird eines Tages auch das deine sein. Es braucht einfach Zeit. Mir wurde diese Zeit gewährt, und ich habe sie dazu genutzt, zu lernen. Ich lebe jetzt schon eine lange Zeit, Walker. Eine lange Zeit. Vertrauen ist ein Teil dessen, was mir die Kraft verleiht, weiterzumachen.«
Walker nahm seine Hand fort. »Ich hatte Vertrauen in mich selbst. Ich hatte es, als ich wußte, wer und was ich war. Aber das hat sich geändert, alter Mann. Ich bin jemand und etwas völlig anderes, und du verlangst von mir, Vertrauen zu einem Fremden zu haben. Das ist schwer für mich.«
»Ja«, stimmte Cogline zu. »Aber es wird geschehen – wenn du ihm die Zeit gewährst.«
»Ich kann die Zeit gewähren«, sagte Walker Boh schließlich.
Er ging wieder hinaus. Ondit folgte ihm, ein schwarzer Schatten, der in der Dämmerung von Lampenschein zu Lampenschein huschte, den Kopf rhythmisch schwingend, den Schwanz hinund herschwenkend. Walker war sich seiner bewußt, ohne an ihn zu denken, denn seine Gedanken waren erneut auf die Schattenwesen außerhalb der Festung gerichtet.
Es mußte einen Weg geben.
Kraft allein war nicht genug. Die Macht der Druidenmagie war beeindruckend, aber sie war selbst für die Druiden, die gekommen und gegangen waren, in sich selbst niemals genug gewesen. Wissen war ebenfalls notwendig. Geschicklichkeit. Verstand. Unvorhersagbarkeit. Dieses letztere vielleicht mehr als alles andere – etwas nicht Greifbares, das das besondere Wirkungsfeld Überlebender war. Hatte er sie? fragte er sich plötzlich. Was hatte er außer dem, was die Druidenmagie ihm gegeben hatte, auf was er sich berufen konnte? Er hatte viel aus der Tatsache gemacht, daß nichts von dem, was ihm von den Druiden angetan worden war, etwas daran ändern würde, wer er war. Aber war das so? Und wenn es so war, auf welchen Teil von sich selbst konnte er sich denn jetzt berufen, um wieder an sich zu glauben?
Und war das nicht der Schlüssel zu allem? Daß er fest genug an sich selbst glaubte, um nicht zu verzweifeln?
Er stieg wieder auf die Festungsmauern, und Ondit folgte ihm auch dorthin. Die Nacht war klar und sternenhell, und die Luft roch sauber und frisch. Er atmete sie tief ein, während er auf den Mauern entlangging und nicht auf das hinabschaute, was dort wartete, sondern seine Gedanken frei und unbelastet entgleiten ließ. Er merkte, daß er über Quickening nachdachte, die Tochter des Königs vom Silberfluß, jenem Elementargeist, der alles gegeben hatte, um einem Land aus Stein das Leben wiederzugeben, um der Erde eine Chance der Heilung zu geben. Er stellte sich ihr Gesicht vor und lauschte in seiner Erinnerung auf ihre Stimme. Er spürte ihr leichtes Gewicht, als er sie dieses letzte Mal zum Rande des Eldwist getragen hatte, das Gefühl der Sicherheit, das von ihr ausgegangen war, das Gefühl der Macht. Im Sterben hatte sie ihr Versprechen eingelöst. So hatte sie es gewollt. Und sie hatte ihm einen Teil ihres Lebens hinterlassen, einen Sinn für Zweck und Bedürfnis, einen Vorsatz, daß er in seinem Leben das tun würde, was sie nur im Tod hatte tun können.
Er blieb stehen und schaute hinaus in die Nacht. Wie weit war er gereist, dachte er in wahrem Erstaunen. Welch eine lange Reise war es gewesen. Alles zu dem Zweck, diesen Punkt zu erreichen, an diesem Ort und in dieser Zeit anzukommen.
Er unterbrach seine Überlegungen, wandte sich dem Inneren der Festung zu, den Mauern und Türmen, die über ihm aufragten und sich dunkel in die Nacht erhoben. Sollte hier sein Leben enden, fragte er sich plötzlich. Sollte hier schließlich die Reise enden?
Es wäre ein nutzloser Kampf gewesen, wenn es so sein würde.
Er wandte sich um und schaute über die Mauer hinab. Einer der Reiter ritt unmittelbar unter ihm vorbei, eine schwache Lumineszenz vor dem Dunkel. Tod, dachte er, aber es war schwer, das genau zu sagen. Es machte ohnehin keinen Unterschied. Namen ungeachtet, Identitäten außer acht gelassen, sie bedeuteten alle in der einen oder anderen Form Tod. Schattenwesen, Mörder, denen über ihre Fähigkeit, zu vernichten, hinaus jeglicher Sinn und Zweck fehlte. Warum hatten sie es zugelassen, daß sie so werden konnten? Welche Wahl hatte sie so werden lassen?
Er beobachtete, wie dieser Reiter verschwand und wartete auf den nächsten. Jede Nacht patrouillierten sie und versammelten sich in der Dämmerung wieder vor den Toren, um ihre Herausforderung erneut zu verkünden...
Er fing sich. Alle zusammen. Vor den Toren.
Ein Hoffnungsschimmer flammte in seinem Geist auf. Was wäre, wenn er dieser Herausforderung annahm?
Mit grimmigem Gesicht stieß er sich von der Mauer ab und stieg auf der Suche nach Cogline in die Festung hinab.
Die Dämmerung kündigte sich mit einem Silberschimmer des Himmels im Osten an, was Nebel und Hitze versprach. Die Luft war sogar schon so früh still und drückend, ein Überbleibsel der gestrigen Hitze, ein Versprechen, daß dieser Sommer nicht die Absicht hatte, dem Herbst schnell zu weichen. Vögel ließen ihre Rufe in mürrischem, müdem Ton erschallen, als seien sie nicht gewillt, den Tagesanfang zu verkünden.
Die Vier Reiter hatten sich vor den Toren versammelt und in dem Grau auf ihren Alptraumreittieren aufgereiht. Die Schlangen scharrten erregt auf dem Boden, während ihre Reiter stumm vor Paranors hohen Mauern saßen. Geister ohne Stimme, Leben ohne Gleichgewicht. Als das Licht hinter den Spitzen der Drachenzähne hervordrang, drängte Krieg sein gräßliches Tier vorwärts, hob seine Hand und schlug mit hohlem Donnern gegen das Tor. Der Klang verweilte in der Stille, die folgte, ein Widerhall, der in den Bäumen und der Dämmerung verklang. Das Tor wurde erschüttert und blieb dann wieder still.
Krieg begann sich abzuwenden.
Walker Boh wartete. Er befand sich bereits außerhalb der Mauern, denn er war durch eine verborgene Tür in einem Turm kaum fünfzig Fuß entfernt hervorgetreten. Er wurde durch einen Unsichtbarkeitszauber seiner Magie umhüllt, verborgen in der Berührung und dem Aussehen und dem Geruch uralten Gesteins, so daß er einfach wie ein weiterer Teil von Paranor wirkte. Sie hatten nicht nach ihm Ausschau gehalten. Und selbst wenn sie es getan hätten, wäre er wohl nicht entdeckt worden.
Er hob seinen gesunden Arm. Die Magie war bereits heraufbeschworen und innerlich versammelt, bis sie weißheiß war. Und jetzt schleuderte er sie auf die Schattenwesen zu.
Die Magie brach Krieg explosionsartig auf und zerfetzte ihn. Das Schlangenreittier machte einen Satz und verschwand.
Walker schlug erneut zu. Die Magie prallte in die verbliebenen Reiter hinein und erwischte sie völlig unvorbereitet. Feuer brach überall auf und hüllte sie ein. Die Schlangen bäumten sich auf, schlugen entsetzt um sich und wirbelten in dem Versuch zu entkommen herum. Walker sandte das Feuer vor ihre Augen, damit sie nichts sehen konnten, und in ihre Nüstern, damit sie nichts riechen konnten, damit es ihre Sinne außer Gefecht setzte und sie in den Wahnsinn trieb. Geblendet und verwirrt prallten die Schattenwesen gegeneinander.
Ich habe sie! dachte Walker freudig erregt.
Seine Kraft ließ schnell nach, aber er gab nicht auf. Er ließ den Unsichtbarkeitszauber fallen, sparte seine Kräfte soweit wie möglich auf und setzte den Angriff heftig fort, zwang die Magie, zu Feuer zu werden, und zwang das Feuer, zu verschlingen. Einer der Reiter brach aus, dampfend und spuckend wie fortgetretene, glühende Kohlen. Es war Seuche. Der seltsame Körper war in einem summenden Schwarz der Dunkelheit zerrissen und hatte alle Gestalt und Kontur verloren. Hungersnot war zu Boden gegangen, Pferd und Reiter wanden sich auf der Erde, in dem verzweifelten Versuch, die Flammen zu löschen, die sie verschlangen. Tod wirbelte in reinem Wahnsinn unkontrolliert umher.
Dann geschah das Unvorstellbare. Durch Rauch und Flammen, von dort zurückgekommen, wohin er getroffen und vernichtet geflohen war, erschien Krieg auf seinem Schlangenreittier erneut.
Und Krieg war wieder eins geworden.
Walker betrachtete die Szene ungläubig. Er hatte den Körper des Reiters in der Mitte zertrennt, hatte die obere Hälfte herunterfallen sehen, und jetzt war Krieg als Ganzes wieder da, als sei überhaupt nichts mit ihm geschehen.
Er griff an. Rasch verringerte er die Entfernung zwischen ihnen, den geschützten Körper eifrig vorgebeugt, Metall im schwachen Licht der Dämmerung schimmernd. Walker konnte das Donnern der klauenbewehrten Füße hören, das Kratzen des Atems, das Quietschen der Rüstung und das Pfeifen von Luft, die auswich, als er herankam.
Das war nicht möglich!
Instinktiv verlagerte Walker die Magie und sammelte sie zu einem letzten Ausbruch. Sie erwischte den Reiter und sein Tier in einem Feuerwirbelwind und schob sie beiseite, stieß sie von dem Weg, der die Festung umgab, hinunter und in die Bäume hinab, wo sie krachend verschwanden.
Aber es war keine Zeit, den Angriff weiter zu verfolgen. Die anderen Reiter hatten sich ebenfalls erholt. Tod wandte sich ihm in seinem grauen Umhang zu, die schimmernde Sense hielt er gesenkt. Seuche folgte ihm und zischte dabei wie ein Sack voller Schlangen. Sein Körper nahm Gestalt an, während er herankam. Walker schnitt die Beine der Schlange Tods unter ihr weg, wodurch beide übereinanderfielen. Zu diesem Zeitpunkt war Seuche bereits fast über ihm. Er sprang katzenschnell beiseite. Aber die ausgestreckten Finger des Reiters streiften ihn dennoch, als er vorbeiging.
Sofort wogte eine Welle der Übelkeit durch Walker hindurch. Schwach und benommen fiel er auf die Knie. Nur eine Berüh- rung war alles gewesen! Er fuhr zu Seuche herum und schoß eine neuerliche Feuerlanze auf den dunklen Rücken des Schattenwesens ab. Seuche brach in einem Schwärm schwarzer Fliegen auseinander.
Alles schien Walker Boh zu langsam abzulaufen. Er beobachtete, wie Hungersnot schwer und träge taumelnd heraneilte. Er versuchte zu reagieren, aber seine Kraft schien ihn verlassen zu haben. Er war sich des Tagesanbruchs bewußt, eines neuen Lichts, das den östlichen Horizont erhellte und sich in dichten, klebrigen Bahnen über die schleppenden Gewänder der weichenden Nacht ergoß. Er konnte die Luft spüren, konnte sie schmecken und riechen, die Gerüche frischer Blätter und Gräser, die sich mit Staub und Hitze vermischten. Paranor war ein scheußlicher Steinschatten an seinem Ellenbogen, so nah, daß er ihn berühren konnte, und doch unerreichbar weit entfernt.
Er hätte seinen Umhang aus Unsichtbarkeit nicht fallenlassen sollen. Er hatte jeden Vorteil verloren, den er besessen hatte.
Er sandte Feuerlanzen auf Hungersnot und wehrte seinen Angriff damit ab. Der skelettartige Körper des Reiters wurde gebeugt und brach durch den Stoß auseinander.
Tot, aber nicht wirklich, dachte Walker, und fühlte sich fiebrig und heiß werden.
Die Reiter schwärmten aus allen Richtungen zurück, Schlangen erhoben sich und kamen auf ihn zu. Warum wollten sie nicht sterben? Wie konnten sie erneut auf ihn zukommen? Die Fragen rollten unbeholfen von seiner Zunge, und er war sich plötzlich bewußt, daß er sie laut ausgesprochen hatte, daß sich eine Art Delirium in ihm ausbreitete. Er war unglaublich schwach, als er wieder auf die Mauer zustolperte, während er all seine Kraft sammelte, um dem erneuten Angriff entgegenzutreten. Sein Plan zerfiel. Er hatte etwas falsch eingeschätzt. Was war es?
Er hob seinen Arm und sandte das Feuer in alle Richtungen. Er schmetterte es auf seine Angreifer in dem verzweifelten Versuch, sie in Schach zu halten. Aber seine Kraft war jetzt erschöpft, bei seinem ersten Angriff verausgabt, von Seuche ausgelaugt. Die Magie erreichte kaum, daß das Schattenwesen, das durch ihre Wand hindurchbrach und auf ihn zukam, seinen Schritt verlangsamte. Krieg warf eine Keule mit gezackten Kanten nach ihm, und er beobachtete, wie sie auf ihn zuwirbelte, aber fühlte sich unfähig zu handeln. Im letzten Moment sammelte er genug Energie, um sie abzuwenden, aber dennoch traf ihn das Eisen blitzartig und wirbelte ihn mit solcher Wucht rückwärts gegen das Gestein Paranors, daß ihm der Atem ausging.
Der Schlag rettete ihm das Leben.
Als er sich an das Gestein der Mauern Paranors klammerte, um sich abzufangen, fand er die Fuge der verborgenen Tür. Einen Moment lang klärte sich sein Geist, und er erinnerte sich daran, daß er sich einen Fluchtweg gelassen hatte, falls die Dinge schlecht stünden. Er hatte es im Kampfgetümmel, im Griff des Fiebers und des Deliriums vergessen. Er hatte noch immer eine Chance. Die Vier Reiter steuerten auf ihn zu. Sie kamen jetzt unglaublich schnell näher. Die Finger seiner Hand eilten taub und blutig die Fuge der verborgenen Tür entlang. Wenn er nur zwei Hände, zwei Arme hätte! Wenn er nur gesund wäre! Der Gedanke war im Handumdrehen da und wieder fort, die Verzweiflung, die ihn hervorgerufen hatte, wurde von seinem Zorn gebannt.
Ein Kreischen von Metall und Klauen erklang.
Seine Finger schlössen sich um den Türring.
Die Tür schwang nach innen auf und trug ihn mit sich wie ein gestaltloses Bündel Gewänder. Während sie dies tat, warf er Feuerfragmente in den Spalt hinter ihm, die so scharf waren wie Rasiermesser. Er hörte sie gegen seine Verfolger prallen und glaubte die Schattenwesen irgendwo in seinem Geist schreien zu hören.
Dann befand er sich in modriger, kühler Dunkelheit. Die Geräusche und der Zorn wurden mit dem Zufallen der Tür ausgeschlossen, der Kampf war vorüber.
Cogline fand ihn in dem Gang unter den Brustwehren der Festung, zu einer Kugel zusammengerollt und so erschöpft, daß er ihn nicht dazu bringen konnte, sich zu bewegen. Mit erheblicher Anstrengung brachte der alte Mann Walker zu seinem Bett und legte ihn hinein. Er zog ihn aus, benetzte ihn mit kühlem, sauberem Wasser, gab ihm Medizin und wickelte ihn zum Schlafen in Decken. Er sagte Worte zu Walker, aber Walker konnte sie anscheinend nicht entschlüsseln. Walker erwiderte etwas, aber was er sagte, war undeutlich. Er wußte, daß er lebte, daß er überlebt hatte, um einen weiteren Tag zu überstehen, und das war das einzig Wichtige.
Zitternd, schmerzerfüllt und bis auf die Knochen ermüdet von seinem Kampf, ließ er sich umsorgen, bis Cogline ihn in der Dunkelheit zum Ausruhen zurückließ. Er war sich bewußt, daß Ondit sich neben ihm zusammenrollte und Wache hielt, was auch immer ihm drohen mochte. Die Moorkatze war bereit, Cogline zu rufen, wenn es nötig sein würde. Er schluckte gegen die Trockenheit in seiner Kehle an, und sagte sich, daß die Krankheit vergehen würde, daß er wieder gesund sein würde, wenn er erwachte. Er war entschlossen, daß es so sein müßte.
Er schloß die Augen, und während sie sich schlössen, klammerte sich sein Geist an einen letzten, heilenden Gedanken.
Der Kampf war an diesem Tag verloren worden. Die Vier Reiter waren erneut über ihn gekommen. Aber er hatte etwas aus seiner Niederlage gelernt – etwas, was sich letzten Endes als ihr Verderben erweisen würde.
Er atmete tief und ruhig ein und ließ den Atem wieder ausströmen. Schlaf rauschte in warmen, entspannenden Wellen durch seinen Körper.
Wenn er den Schattenwesen das nächste Mal gegenübertreten würde, versprach er sich, bevor er entglitt und seinen Schwur mit Schichten eiserner Entschlossenheit umgab, würde er ihnen ein Ende bereiten.