Zwielichtschatten streckten ihre Finger in die Nacht, und der Himmel über der Südwache war dicht vor Wolken, die die Sterne und den Mond ausschlossen und Kühle und Feuchtigkeit vor der Dämmerung versprachen. Die Hitze des Tages nahm schnell ab, und Staub und Sand ließen sich als winzige Teilchen, die wie Elfen tanzten, wieder auf der Erde nieder. Es war unwahrscheinlich, daß auch nur die kleinste Brise aus dem Runne herabwehen würde. Stille senkte sich über das Land, so weich wie Satin und so zerbrechlich wie Glas. Auf der Erde kauerte Nebel in langen Ranken, die sich durch Senken und über Grate hinwegwanden und das vergiftete Grasland um den Schattenwesenkeep in eine weite weiße See verwandelten.
Schäumend und wirbelnd begann die See unruhig zu werden. Es war eine Zeit für Geister, die auf dem Wind segelten wie Schiffe auf dem Meer, für Wesen, die einhergehen konnten, ohne bei ihrem Vorüberziehen Fußabdrücke zu hinterlassen. Es war eine Zeit, in der die Hoffnungen und Erwartungen und Ängste und Zweifel des Tages Gestalt annehmen und hervorkommen und nach einer Stimme suchen konnten, die mit ihnen sprach und sie Erlösung aus neubegründetem Glauben finden ließ. Es war eine Zeit, in der der Verstand den Weg freigeben mußte für das, was nur die Vorstellungskraft allein erfassen konnte. Es war eine Zeit für Träume.
Walker Boh berief die Seinen herauf und beobachtete, wie sie sich schnell und sicher näherten wie ein herabgleitender Falke, und als der ihn erreichte, streckte er sich, um ihm zu begegnen, erhob sich so leicht wie Luft aus seinem Körper, klammerte sich fest und wurde emporgehoben. Lautlos, unsichtbar, eins mit den Geistern der Nacht, schwebte er aus den Wäldern an den Hängen des Runne herab, eilte mit der grausamen Gewißheit des herannahenden Todes durch die dunklen Stämme und belaubten Zweige und durch alle Stille und Schwärze. Er hielt sich so ruhig wie Eis im Winter, während er auf die jenseitigen, verdorrten, kahlen Ebenen hinausschwebte, durch den Nebel auf den wartenden schwarzen Obelisken zu. Er bewegte sich auf die Art der Druiden fort, auf die Art, die Allanon ihn gelehrt hatte, als ein entkörperlichter Geist. Seine Erinnerungen wanden sich um ihn herum und zerrten an ihm, jene Allanons und jene des Mannes, der er gewesen war. Er erinnerte sich sofort an beide und sah sich wieder als einen Geächteten, der nicht hatte glauben wollen und gegen die Umwandlung angekämpft hatte, die die Druidenmagie unweigerlich bewirkt hatte. Und Walker Boh sah sich auch wieder als Druidenschatten, der die Ereignisse in Bewegung gesetzt hatte, die in dieser Umwandlung gipfeln würden, indem sie Brin Ohmsford das Vermächtnis hinterließen, das schließlich in ihm seine Erfüllung finden würde. Es war seltsam, mehr als eine Person zu sein, und doch war es auch richtig. Er war niemals in Frieden mit sich selbst gewesen, und seine Unzufriedenheit lag zum großen Teil in einem Gefühl der Unvollkommenheit begründet. Jetzt war er vollständig, ein Mann, der aus vielen anderen entstanden war. Er lernte noch immer, zu sein, was er geworden war, sich mit dem, was er war, wohl zu fühlen, aber er begann allmählich, sich eins zu fühlen, und er glaubte zumindest, es zu sein.
Der Boden unter ihm war schwarz und abgebrannt und versengt, und so kahl, leer und zerstört, wie er war, fehlte ihm jedes Leben. Die Schattenwesen hatten das bewirkt, aber er wußte noch nicht, welche Art Gift es war. Heute nacht, dachte er, würde er es vielleicht erfahren.
Die Südwache ragte vor ihm auf. Ihr schwarzer Turm erhob sich hoch über ihm, und dessen messerscharfe Spitze strebte dem Himmel entgegen. Er konnte das Leben darinnen spüren. Er konnte seinen Puls spüren. Die Südwache lebte. Es war Magie in ihren Mauern, Magie, die sie gestaltet hatte und die sie jetzt unterhielt und beschützte. Die Magie war mächtig, aber auch zurückhaltend. Er konnte das spüren. Er konnte ihre verzweifelten Bemühungen spüren, befreit zu werden. Tief in dem schwarzen Stein kauerte sie wie ein gefangenes Tier. Schattenwesen gingen innerhalb und außerhalb umher. Vor dem dunklen, hütenden Wachturm waren sie kaum sichtbar. Die Magie floh vor ihnen.
Ein Teil des Nebels, ein Teil der Nacht, so leise wie schwebende Asche, so näherte er sich den Mauern. Offensichtlich spürten die Schattenwesen sein nahes Vorüberziehen und Weitergehen nicht. Er kam zu den Toren des Keep und glitt schnell davon. Sie waren zu gut bewacht, als daß er sich hindurchwagen konnte. Sogar als Geist konnte er das nicht. Er wartete, bis eines der dunklen Wesen durch einen Riß in der Steinhülle hineinglitt, und folgte ihm. Er spürte, wie das Gewicht des Turmes sich dabei um ihn verdichtete wie ein greifbares Wesen. Er schlang seine Arme um sich gegen das Böse, das durch die Luft wirbelte, und spürte es als eine Mischung aus furchtbarem Zorn und Haß und Verzweiflung. Wo, fragte er sich überrascht, kam das her?
Er zögerte bei der Wahl seiner Richtung und folgte der Magie dann impulsiv zu ihrem Ursprung. Nur einen Moment lang, nur einen Blick darauf werfen. Die Magie drang von unten herauf, von tief aus der Erde unter dem Keep. Sie war ganz Dunkelheit und blinde Wut. Er glitt die Gänge der Festung entlang und achtete darauf, die Mauern nicht zu berühren, nichts von Substanz zu berühren, denn auch in Geistergestalt konnte er vielleicht erspürt werden. Die Wachen waren hier mächtig, mächtiger, als jene von Uhl Belk in Eldwist gewesen waren, mächtiger sogar als jene der Druiden in der Halle der Könige. Die Magie war unglaublich mächtig, eine großartige, zerstörerische Macht, die alles vernichten konnte.
Alles, korrigierte er sich, außer den Banden, die sie sicherten und sie den Schattenwesen unterworfen hatten.
Er stieg eine Treppe abwärts, wand sich durch die Schwärze und hörte das erste Mal das Geräusch von etwas, das mahlte und sich aufblähte, von etwas, das arbeitete. Es klang wie ein angeketteter Drache. Es hatte den Geschmack und Geruch von Schweiß. Es hob und senkte sich wie ein Blasebalg in einer Schmiede – und doch war es nicht so einfach. Hieraus bezog die Magie ihr Leben, wie er spürte. Hier wurde sie geboren.
Dann erreichte er Wächter, an denen selbst ein Geist nicht unentdeckt vorbeigelangen konnte, und er mußte ausweichen. Er befand sich nah an dem, was in den Kellern der Südwache gefangen war, nah am Ursprung der Magie, an dem Geheimnis, das die Schattenwesen so sorgfältig verborgen hielten. Aber er konnte nicht näher herankommen, und so würde das Geheimnis bestehenbleiben.
Er stieg die Treppe wieder hinauf, eilte wie ein kurzes Aufflackern eines Gedankens und nicht mehr durch die Düsterkeit. Er kam auf seinem Weg noch an weiteren Schattenwesen vorüber, und einer oder zwei verlangsamten ihre Schritte, bevor sie weitergingen, aber keiner entdeckte ihn. Er begab sich jetzt auf die Suche nach Par, denn er wußte, daß der Talbewohner ein Gefangener war, und wollte herausfinden, wo er festgehalten wurde und ob er noch immer er selbst war. Denn es bestand Grund zu der Annahme, daß er es vielleicht nicht mehr sein könnte. Es bestand Grund zu der Annahme, daß er verwandelt worden und verloren war.
Walker Bohs Herz war hart wie Stein, während er über diese Möglichkeit nachdachte. Die Zeichen waren da, daß es geschah. Es hatte mit der Verwandlung von Pars Magie begonnen, mit der Entwicklung des Wunschgesangs zu mehr, als er gewesen war, als Par seine Reise zum Hadeshorn und zu Allanon angetreten hatte. Es war mit dem Zusammenbruch seines Vertrauens, daß er den Wunschgesang gebrauchen konnte, und mit dem Gefühl weitergegangen, daß die Magie sich irgendwie von ihm entfernt hatte. Es würde hier enden, im Schattenwesenkeep, wenn Par ihren Zweck annahm und akzeptierte, einer von ihnen zu sein.
Was er war, dachte Walker Boh düster.
Und doch auch wieder nicht.
Spiele in Spielen. Er kannte einige ihrer Regeln, aber noch nicht alle.
Auf der stetigen Suche nach dem Talbewohner erklomm er die Treppen des Keep, suchte schnell und lautlos unten in den dunklen Gängen und in den noch dunkleren Räumen. Er erinnerte sich daran, wie Par ihn davon überzeugt hatte, zum Hadeshorn zu kommen und mit dem Schatten Allanons zu sprechen. Er erinnerte sich daran, wie Par geglaubt hatte. Die Magie ist ein Geschenk. Die Träume sind wahr. Nun, ja und nein. Es war so. Und es war nicht so. Wie bei so vielen Dingen lag die Wahrheit irgendwo dazwischen.
Alte Erinnerungen kamen zurück, und er sah sich selbst als Allanon, der Cogline die Gänge Paranors hinabführte, als der Druidenkeep noch in den Nebeln zwischen den Welten verschlossen und von der Magie in Unterbereiche verbannt war. Er spürte die Mischung aus Angst und Entschlossenheit an Cogline und fand in jenen Empfindungen erneut den Konflikt in sich selbst widergespiegelt. Cogline hatte diesen Konflikt verstanden. Er hatte versucht, Walker zu helfen, als er lernen mußte, dieses Gewicht auszubalancieren. Mensch und Druide – die Teile, die ihn gestaltet hatten, würden für immer miteinander kämpfen, denn die Forderungen und Bedürfnisse beider lagen in ständigem Krieg. Es würde sich niemals ändern. Das beinhaltete der Handel, den er mit sich selbst abgeschlossen hatte, als er zustimmte, das Vermächtnis anzunehmen. Der letzte der alten Druiden und der erste der neuen – welcher war er? Beide, dachte er. Und er dachte auch, daß dies vielleicht der Weg war, der auch für Allanon und Bremen und Galaphile und all die anderen gewesen war.
Er stieg hoch in den dunklen Turm hinauf, und plötzlich erklang das kaum wahrnehmbare Flüstern einer vertrauten Gegenwart. Es kam von einer Stelle unten in dem Gang, der ihm gegenüberlag, nachdem er die Treppe hinter sich gelassen hatte, und berührte ihn wie eine unterschwellige Bedrohung. Er ging vorsichtig darauf zu, weil auch noch eine zweite Gegenwart spürbar war, ebenfalls eine vertraute Gegenwart. Er roch FelsenDall, wie er einen Sumpf gerochen hätte: weit und unergründlich. Der Anführer der Schattenwesen erfüllte die Luft mit seiner dunklen Magie, und ihr Duft war giftiger Wohlgeruch. Unmittelbar unter ihrem Schleier und jetzt kaum erkennbar kauerte unterdrückt und zornig Pars eigene Magie.
Walker ging zu der Tür, hinter der sie sich gegenüberstanden, hielt draußen inne, wo er nicht erspürt werden konnte, und beugte sich nah heran, um zuzuhören.
»Es wäre hilfreich«, sagte Felsen-Dall leise, »wenn du nicht solche Angst vor dem Wort hättest.«
Schattenwesen.
»Was du bist, wird dadurch, wie man dich nennt, nicht verändert werden. Oder dadurch, wie du dich selbst nennst. Deine Angst, die Wahrheit über dich selbst zu akzeptieren, bedroht dich.«
Schattenwesen.
Par Ohmsford hörte das Flüstern in seinem Geist als unendliche Wiederholung, die ihn jetzt nicht mehr im Wachen, sondern auch im Schlaf jagte. Und Felsen-Dall hatte recht – er konnte seiner Angst davor und der wachsenden Gewißheit, daß er genau solch ein Wesen war, nicht entkommen. Er hatte dagegen von Anfang an gekämpft, denn das war der Feind, den zu vernichten der Schatten Allanons die Kinder von Shannara ausgesandt hatte.
Er erhob sich vom Rand seines Bettes und trat zum Fenster, um in die Nacht hinauszusehen. Der Himmel war bewölkt, und das Land lag neblig und still da wie ein zerrissener, schattenhafter Spielplatz für die Phantome seines Geistes. Er zerfiel, und er wußte das. Er konnte es geschehen spüren. Seine Gedanken waren zerstreut und zusammenhanglos, sein Denken geriet ständig an Hindernisse, und seine Konzentration war bis zur Nutzlosigkeit zerrüttet. Es wurde jeden Tag schlimmer, und die ihn umgebende Dunkelheit erfüllte ihn wie eine Schale, die bald überzulaufen drohte. Er schien dem nicht entkommen zu können. Seine Nächte waren von Träumen durchsetzt, wie er sich selbst als Schattenwesen begegnete, und seine Tage waren zerrissen und ermüdend und aller Hoffnung beraubt. Die Verzweiflung richtete ihn zugrunde, und er glitt stetig in den Wahnsinn ab.
Die ganze Zeit über kam Felsen-Dall immer wieder zu ihm, um mit ihm zu sprechen, um seine Hilfe anzubieten. Er wisse, wie schlimm es sei, versicherte er dem Talbewohner. Er kannte die Forderungen der Magie. Hin und wieder hatte er Par gewarnt, daß er sich dem stellen müsse, wer und was er sei, und die Schritte unternehmen müsse, die notwendig waren, um sich selbst zu schützen. Wenn es ihm nicht gelänge, dies zu tun – und nicht gelänge, es sofort zu tun –, wäre er verloren.
Die Gestalt in dem schwarzen Umhang trat neben ihn, und einen Moment lang hatte Par das Bedürfnis, Trost in der schattenhaften Kraft des anderen zu suchen. Der Drang war so groß, daß er sich auf die Lippen beißen mußte, um es nicht zu tun.
»Hör mir zu, Par«, drängte die flüsternde Stimme leise und beschwörend. »Jene Wesen in der Grube in Tyrsis waren wie du einst. Sie hatten die Magie zur Verfügung – nicht wie deine, denn ihre Magie war von schwächerer Art, aber doch ähnlich wie deine, weil sie ebenfalls real war. Sie verleugneten, wer und was sie waren. Wir versuchten sie zu erreichen, oder zumindest so viele, wie wir finden konnten. Wir drängten sie zu akzeptieren, daß sie Schattenwesen waren, und die Hilfe anzunehmen, die wir ihnen bieten konnten. Sie haben es abgelehnt.«
Eine Hand legte sich leicht auf Pars Schulter, und er schreckte zurück. Die Hand regte sich nicht. »Die Föderation hat sie alle gefunden, hat sie mit nach Tyrsis genommen und in die Grube gebracht und sie eingesperrt wie Tiere. Das hat sie vernichtet. In der Dunkelheit gefangen, aller Hoffnung und Vernunft beraubt, wurden sie schnell zu Opfern. Die Magie vereinnahmte sie und machte sie zu den Monstern, die du vorgefunden hast. Jetzt leben sie ein furchtbares Dasein. Wir, die wir Schattenwesen sind, können zwischen ihnen einhergehen, denn wir können sie verstehen. Aber sie können niemals wieder befreit werden, und die Föderation wird sie dort lassen, bis sie sterben.«
Nein, dachte Par. Nein, ich glaube dir nicht. Ich tue es nicht.
Aber er war sich nicht sicher, genauso, wie er sich im Moment mit vielem nicht sicher war. Zu vieles war geschehen, als daß er hätte sicher sein können. Er wußte, daß er von Magie vereinnahmt wurde, aber er wußte nicht, wessen Magie es war. Er hatte beschlossen, daß er Felsen-Dall hinhalten müßte, bis er es herausfinden konnte, aber er hatte bisher keinerlei Fortschritte gemacht. Er war gefangen wie die Wesen in der Grube, und obwohl Felsen-Dall ihm wiederholt Hilfe angeboten hatte, konnte er nicht akzeptieren, daß die Hilfe des Ersten Suchers das sein sollte, was er brauchte.
Dämonen wirbelten vor seinen Augen umher, scharfsichtige Monster, die spotteten und lachend davontanzten. Sie folgten ihm überallhin. Sie lebten mit ihm wie Parasiten. Die Magie nährte sie und gab ihnen Leben.
Unten in den Tiefen der Südwache ging das Summen beständig und unerbittlich weiter.
Er wirbelte von dem Fenster und der Berührung des großen Mannes fort. Er wollte sein Gesicht in den Händen verbergen. Er wollte weinen oder schreien. Aber er hatte beschlossen, nichts zu zeigen, und wollte dieses Versprechen halten. So vieles war ihm widerfahren, dachte er. So vieles, von dem er sich wünschte, es wäre ihm nie widerfahren. Einiges davon begann zu verblassen, und seine schwachen Erinnerungen verloren sich im Nebel der Verwirrung. Einiges blieb wie der herbe Geschmack von Metall auf seiner Zunge. Es fühlte sich an, als würde innerlich alles so aufgewühlt wie windgetriebene Wolken, die Gestalt annehmen und wieder andere Gestalt annehmen und sich darin niemals länger als einen Augenblick zeigen.
»Du mußt zulassen, daß ich dir helfe«, flüsterte Felsen-Dall, und es war eine Dringlichkeit aus seiner Stimme herauszuhören, die Par nicht ignorieren konnte. »Laß es nicht geschehen, Par. Gib dir eine Chance. Bitte. Du mußt es tun. Du bist den Weg so lange allein gegangen. Die Magie ist eine zu große Last. Du kannst sie nicht allein weitertragen.«
Die großen Hände legten sich erneut auf seine Schultern, hielten ihn fest und erfüllten ihn mit Kraft.
Und Par spürte all seine Entschlossenheit im Handumdrehen schwinden, zerbröckeln und herabfallen wie Scherben zersprungenen Glases. Er war so müde. Er wollte, daß ihm jemand half. Irgend jemand. Er konnte nicht weitermachen. Die Dämonen flüsterten heimtückisch. Ihre Augen glänzten vor Erwartung. Er wischte erfolglos über sie hinweg, und sie lachten nur. Er biß vor Wut über sie die Zähne zusammen. Er spürte, wie die Magie sich in ihm aufbaute, und er zwang sie nur mühsam zurück.
»Laß mich dir helfen, Par«, bat Felsen-Dall und hielt ihn weiterhin fest. »Es kostet mich nicht einmal einen Moment, es zu tun. Erinnerst du dich? Laß mich nur lange genug in dich hineingelangen, daß ich erkennen kann, wo die Magie droht. Laß mich dir helfen, den Schutz zu finden, den du brauchst.«
Genug von Allanon. Genug von den Druiden und ihren War- nungen. Genug von allem. Wo sind jetzt jene, die sagten, sie wür- den mir helfen? Jetzt, wo ich sie brauche? Alle fort, alle verloren. Sogar Coll. Ich bin so müde.
»Wenn du willst«, flüsterte Felsen-Dall, »kannst du zuerst in mich hineingelangen. Es ist nicht schwer. Du kannst dich ganz leicht aus dir selbst herausbegeben, wenn du es versuchst. Ich kann es dir zeigen, Par. Sieh mich nur an. Dreh dich um und sieh mich an.«
Das Schwert von Shannara verloren. Wren und Walker und Morgan verschwunden. Wo ist Damson? Warum bin ich immer allein?
Tränen traten in seine Augen und machten ihn blind.
»Sieh mich an, Par.«
Er wandte sich langsam um und wollte hochschauen.
Aber in diesem Moment trat ein Schatten zwischen sie, schnell wie das Licht, im Handumdrehen gekommen und gegangen, und auf einmal schlug Par Ohmsford heftig zu.
Nein!
Feuer brach zwischen ihnen aus. Die Berührung hatte es hervorgebracht, und es funkelte und schoß in die Schatten hinaus. Felsen-Dall wirbelte herum, und die Züge seines grobknochigen Gesichts waren vor Wut verzerrt. Seine schwarzen Gewänder bauschten sich auf, und seine behandschuhte Hand hob sich in einem Feuer roten Zorns. Par, der noch immer nicht wußte, was geschehen war, keuchte, wich zurück und gab seine eigene Deckung auf. Er spürte, wie das blaue Feuer der Magie des Wunschgesangs sich erhob, um ihn zu beschützen. Im Handumdrehen war er in Licht gebadet, und jetzt war es an Felsen-Dall, vor ihm zurückzuweichen.
Sie standen einander in der Düsterkeit gegenüber, die Feuer ihrer Magien in ihren Fingerspitzen gesammelt und die Augen voller Zorn und Angst.
»Bleibt fort von mir!« zischte Par.
Regungslos blieb Felsen-Dall einen Moment lang riesig und dunkel und unnachgiebig vor ihm stehen. Dann zog er sein Feuer zurück, senkte seine behandschuhte Hand und verließ wortlos den Raum.
Par Ohmsford ließ das Feuer seiner Magie ebenfalls ersterben. Er stand da, starrte in die Schatten, die ihn umgaben, und fragte sich, was er getan hatte.
Rund um ihn herum tanzten die Dämonen in scheinbarer Heiterkeit. »Wie lange wird er so bleiben?« fragte Matty Roh schließlich.
Morgan Leah schüttelte den Kopf. Walker Boh hatte sich seit mehr als einer Stunde nicht mehr bewegt. Er war in eine Art Trance verfallen, in einen Halbschlaf, den er selbst herbeigeführt hatte. Er saß mit geschlossenen Augen in seinen dunklen Umhang eingehüllt da, und sein Atem ging langsam und kaum wahrnehmbar. Er hatte ihnen gesagt, sie sollten Wache halten und auf seine Rückkehr warten. Er hatte ihnen nicht gesagt, wohin er ging. Tatsächlich schien es nicht so, als sei er überhaupt irgendwohin gegangen, aber Morgan wußte es besser.
Sie waren in einem Fichtenhain hoch in den Wäldern, die die Klippen des Runne begrenzten, versammelt – Morgan, Matty, Damson Rhee, Coll Ohmsford und Walker Boh. Und in der nahen Dunkelheit schimmerten wachsam Ondits Augen. Die Nacht war tief und still, den Himmel bedeckte eine Wolkendecke von Horizont zu Horizont, und die Luft war frisch von dem Geruch eines Nordwinds aus den Wäldern. Fünf Tage waren vergangen, seit Walker Morgan gefunden und ihn vor den Schattenwesen, die ihn eingekreist hatten, gerettet hatte. Er hatte die dunklen Wesen überlistet, indem er eines von ihnen mit dem Bild Morgans umkleidete, worauf die anderen es in Stücke gerissen hatten. Das hatte die Schattenwesen davon überzeugt, daß der Eindringling, den sie verfolgt hatten, vernichtet war, und sie waren wieder in die Südwache zurückgeschwebt. Gestern waren der Talbewohner und die beiden Frauen erschienen und hatten den Regenbogensee auf einem kleinen Skiff überquert. Walker und Morgan hatten sie an der Mündung des Mermidon abgefangen und hergebracht.
»Was glaubt Ihr, wo er ist?« fragte Matty mit ängstlicher und unsicherer Stimme.
»Ich weiß es nicht«, gestand Morgan.
Er beugte sich vor, um besser sehen zu können, wich aber schnell wieder zurück, als er Ondit grollen hörte. Er sah Matty an und zuckte die Achseln. Die anderen beiden saßen schweigend und gesichtslos in der Dunkelheit. Sie waren jetzt besser ausgeruht und genährt, als sie in letzter Zeit gewesen waren, aber sie fühlten sich dennoch von dem langen Überlebenskampf ausgelaugt und abgezehrt. Was sie noch aufrechthielt, war ihre gemeinsame Entschlossenheit, Par Ohmsford zu finden, und das Gefühl, das Walker Boh ihnen vermittelte, daß ihre Reise dem Ende zuging.
»Er sucht nach Par«, sagte Damson plötzlich flüsternd in die Stille.
Das tat er natürlich. Er folgte der zweiten Spur des Skree zur Südwache, um zu sehen, ob der Talbewohner dort gefangen war. Coll war sich immer sicher gewesen, daß sich sein Bruder in den Händen der Schattenwesen befand, und die anderen waren sich inzwischen auch sicher. Aber Walker suchte noch nach mehr, wie Morgan spürte. Er wollte noch nicht darüber sprechen und hatte es sorgfältig für sich behalten. Aber er wußte etwas, was er ihnen nicht sagte, aber das war nun einmal die Art der Druiden, und Walker war jetzt einer von ihnen. Ein Druide. Morgan atmete tief und entspannt durch und schaute in die Dunkelheit. Wie seltsam. Walker Boh war genau das Wesen geworden, das er einst verabscheut hatte. Wer hätte das geglaubt? Nun, sie waren schließlich alle aus anderen Welten hierhergekommen, dachte er einsichtig. Sie hatten alle andere Leben gelebt.
Er sah Walker gerade an, als sich dessen Augen wieder öffneten, und das erschreckte ihn so, daß er zur Seite sprang. Das blasse Gesicht hob sich geisterhaft weiß aus der Kapuze des Umhangs, und der hagere Körper zitterte.
»Er lebt«, flüsterte der Dunkle Onkel und kam wieder zu sich, während sie ihn ansahen. »Felsen-Dall und die Schattenwesen haben ihn gefangengenommen.«
Er erhob sich zögernd und schlang die Arme um sich, als friere er. Die anderen standen mit ihm auf und wechselten unsichere Blicke. Ondit kam aus der Dunkelheit heran.
»Was hast du gesehen?« fragte Coll. »Hattest du eine Vision?«
Walker Boh schüttelte den Kopf. Er griff abwesend hinab, um Ondits breiten Kopf zu streicheln, als sich die Katze an ihm rieb. »Nein, Coll. Ich habe einen Druidentrick angewandt und meinen Körper in geistiger Gestalt verlassen, um in den Schattenwesenkeep einzudringen. Sie konnten mich auf diese Weise nicht so leicht erspüren. Ich habe Par im Turm eingesperrt vorgefunden. Felsen-Dall war bei ihm. Der Erste Sucher versuchte Par gerade davon zu überzeugen, daß er ihm die Kontrolle über die Magie des Wunschgesangs übertragen soll. Er sagt, daß Par ein Schattenwesen sei wie er selbst.«
»Das hat er Par schon zuvor gesagt«, berichtete Damson ruhig.
»Es ist eine Lüge«, fauchte Coll erregt.
Aber Walker Boh schüttelte den Kopf. »Vielleicht nicht. Es ist einiges wahr an dem, was er sagt. Ich kann es in den Worten spüren. Aber die Wahrheit ist hier eine schwer faßbare Angelegenheit. Es ist mehr daran, als gesagt wird. Par ist verwirrt und verärgert und ängstlich. Er ist nahe daran zu akzeptieren, was der Erste Sucher ihm erzählt. Er war nahe daran, sich dem anderen zu überantworten.«
»Nein«, flüsterte Damson mit bleichem Gesicht.
Walker atmete die Nachtluft ein und seufzte. »Nein, wahrhaftig. Aber die Zeit wird knapp für ihn. Seine Kraft schwindet. Ich habe eine kleine Einmischung riskiert, um die Akzeptanz zu unterbinden, und daher wird es im Moment nicht geschehen. Aber wir müssen schnell zu ihm gelangen. Das Geheimnis, wie die Schattenwesen vernichtet werden können, liegt in Par. Das war schon immer so. Felsen-Dall ignoriert bei seinen Bemühungen, Par für sich zu gewinnen, alles andere. Er weiß von meiner Rückkehr, von Wrens Rückkehr, von unserer Flucht vor den Schattenwesen. Er weiß, daß wir ihm beständig näher kommen. Die Schattenwesen sind bedroht, aber er konzentriert sich nur auf Par. Par ist der Schlüssel. Wenn wir ihn von seiner Angst vor dem Wunschgesang befreien können, haben wir vielleicht alle Teile des Puzzles beisammen. Allanon hat uns ausgesandt, die Talismane zu finden, und das haben wir getan. Er hat uns ausgesandt, die Elfen und Paranor zurückzubringen, und wir haben auch das getan. Wir haben alles, was wir brauchen, um die Schattenwesen zu bekämpfen. Wir müssen nur noch entdecken, wie wir es einsetzen müssen. Die Antworten liegen dort unten.«
Er schaute durch den Wald zu der Stelle im Tal hinab, an der der dunkle Obelisk der Südwache vor dem Horizont aufragte.
»Das Schwert von Shannara wird Par befreien«, versprach Coll und trat entschlossen vor. »Ich weiß, daß es das tun wird.«
Walker schien ihn nicht gehört zu haben. »Da ist noch etwas. Die Schattenwesen halten in den Kellern des Keep etwas verschlossen, etwas Lebendiges, das von der Magie gefangen ist und gegen seinen Willen festgehalten wird. Ich weiß nicht, was es ist, aber ich spüre, daß es mächtig ist und daß wir einen Weg finden müssen, es zu befreien, wenn wir diesen Kampf gewinnen wollen. Was auch immer es ist, die Schattenwesen bewachen es mit ihrem Leben. Seine Wächter sind sehr stark.«
Er schaute sie wieder an. »Die Schattenwesen sind Elfengeborene und gebrauchen Elfenmagie aus der Feenzeit. Ihre Stärken und Schwächen kommen alle daher. Par ist vielleicht fast einer von ihnen, weil er von Elfenblut abstammt. Ich bin nicht sicher. Aber ich denke, die Frage, zu was er werden wird, ist noch nicht geklärt.«
»Er würde sich niemals gegen uns wenden«, flüsterte Damson und schaute fort.
»Was werden wir tun, Walker?« fragte Coll leise. Er hielt das Schwert von Shannara in beiden Händen, und sein breites Gesicht wirkte wie aus Granit gemeißelt.
»Wir gehen zu ihm hinunter, Talbewohner«, antwortete der andere. »Wir gehen zu ihm, bevor es zu spät ist.«
»Nicht wir alle«, wandte Morgan hastig ein und blickte zu den Frauen.
Walker sah ihn an. »Sie haben sich entschlossen zu gehen, Hochländer.«
Morgan weigerte sich nachzugeben. Er wollte nicht, daß Damson und Matty in das Schattenwesenversteck hinabgingen. Die Männer besaßen alle Magie irgendeiner Art, um sich zu schützen. Die Frauen hatten nichts. Das schien falsch.
»Ihr könnt uns nicht zurücklassen«, wandte Damson schnell ein, und er sah Matty zustimmend nicken.
»Es ist zu gefährlich«, hörte er sich einwenden. »Wir können Euch dort nicht beschützen. Ihr müßt hierbleiben.«
Sie sahen ihn an, und er hielt ihrem Blick stand. Einen Moment lang sagte niemand etwas, sie standen zu dritt dicht beieinander in der Dunkelheit, und keiner wagte es, mehr zu sagen.
Dann hob Walker auf einmal die Hand, winkte Damson und Matty zu sich heran und bedeutete Morgan und Coll mit derselben Bewegung, sie sollten zurücktreten. Er war größer, als Morgan in Erinnerung gehabt hatte, und auch breiter, als sei er gewachsen und habe an Gewicht zugenommen. Das war natürlich nicht möglich, aber es schien so. Es schien, als sei er mehr als ein Mann. Er füllte den Raum zwischen ihnen gewaltig und ehrfurchtgebietend aus, und die Nacht um sie herum war plötzlich still vor Erwartung.
»Ich kann Euch keine Magie geben, mit deren Hilfe Ihr kämpfen könntet«, sagte er sanft zu den Frauen, »aber ich kann Euch Magie geben, mit deren Hilfe Ihr Euch vor den Angriffen der Schattenwesen schützen könnt. Bleibt jetzt ruhig stehen. Bewegt Euch nicht.«
Er streckte dann die Hand aus und durchschnitt damit die Luft über ihnen. Sie wurde von einer Helligkeit erfüllt, die sich auszubreiten und herabzusenken schien wie Staub, brannte und wieder verging, während sie die Frauen berührte. Walker führte seine Hand an einer Seite aufwärts und an der anderen wieder hinab, überzog sie von Kopf bis Fuß mit dieser Helligkeit, ließ sie kurzzeitig schimmern und kleidete sie dann erneut in Dunkelheit.
»Wenn Ihr entschlossen seid zu gehen«, sagte er, »dann wird Euch das helfen, sicher zu sein.«
Er versammelte sie wieder alle um sich, wie ein Vater kleine Kinder in seiner Umarmung versammelt. Er wirkte plötzlich müde und verloren, aber auch entschlossen. »Wir werden tun, was wir tun müssen und können«, belehrte er sie. »Alles, wofür wir gekämpft haben, jeder Weg, den wir beschritten haben, jedes Leben, das auf diesem Weg aufgegeben wurde, war dafür. So wurde es mir nach der Rückkehr Paranors von Allanon gesagt und noch einmal nach meiner eigenen Umwandlung, nachdem Cogline sein Leben für meines gegeben hatte. Das Ende der Schattenwesen oder unser Ende wird dort stattfinden. Niemand muß gehen, der es nicht will. Aber jeder wird gebraucht.«
»Wir werden gehen«, sagte Damson schnell. »Wir alle.«
Die anderen, sogar Morgan Leah, nickten zustimmend.
»Fünf also.« Walker lächelte leicht. »Wir werden zuerst versuchen, Par zu befreien, um ihm wieder den Gebrauch seiner Magie zu ermöglichen. Wenn wir damit Erfolg gehabt haben, werden wir in die Keller hinabsteigen. Wir sollten jetzt aufbrechen, damit wir in der Dämmerung in die Südwache hineingelangen können.« Er hielt inne, als suche er nach etwas, was er noch sagen wollte. »Paßt auf euch auf. Bleibt dicht bei mir.«
In der Dunkelheit des Hains sahen die fünf einander an und besiegelten schweigend den Pakt. Sie würden zu beenden versuchen, was so viele vor so langer Zeit begonnen hatten, und wenn sie es sich vielleicht auch anders gewünscht hatten, waren sie doch die einzigen, die noch übriggeblieben waren, um es zu tun.
Als stumme Schatten glitten die drei Männer, die zwei Frauen und die Moorkatze aus dem Wald hinaus und den Berghang hinab in das herannahende Licht.