Während Walker Boh darum kämpfte, sich von den Vier Reitern vor Paranor zu befreien, überzeugte Wren Elessedil das Hohe Konzil der Elfen davon, daß sie sich um die Föderationsarmee kümmern mußten, die nach Norden kam, um sie zu vernichten. Gleichzeitig führte Morgan Leah Damson und eine kleine Gruppe Geächteter an, um Padishar Creel aus Tyrsis zu befreien und folgte Par Ohmsford seinem Bruder Coll.
Es war eine beschwerliche, mühselige Unternehmung. Nachdem Damson und er sich getrennt hatten, hatte Par seine Suche sofort aufgenommen. Er war sich der Tatsache bewußt, daß Coll nur Minuten Vorsprung hatte und sagte sich, daß er ihn sicherlich erreichen würde, wenn er schnell genug wäre. Die Morgendämmerung hatte eingesetzt und Dunkelheit, die seine Unternehmung hätte hemmen können, verblaßte zu verstreuten Schatten und Flecken von Dunst, die in den Bäumen verweilten. Coll floh in unbekümmerter Nichtbeachtung alles anderen außer der Vision, die ihm das Schwert von Shannara gezeigt hatte. Er war verwirrt und erschreckt, und sein Schmerz war greifbar gewesen. Wie stark würde er sich in einem solchen Zustand bemühen, seine Flucht zu verbergen? Wie weit würde er laufen können, bevor ihn die Erschöpfung überwältigte?
Die Antwort war nicht die, die Par erwartet hatte. Obwohl er den Spuren seines Bruders ziemlich leicht folgen konnte und die Fährte inmitten eines Durcheinanders von Gestrüpp und Gräsern deutlich zu sehen war, stellte er fest, daß er nicht näher an ihn herankam. Trotz allem – oder vielleicht auch wegen allem – schien Coll unerwartete Kräfte in sich entdeckt zu haben. Er lief vor Par davon, beeilte sich nicht nur, sondern blieb nicht einmal stehen, um zu rasten. Und er lief auch nicht in gerader Linie. Er rannte hierhin und dorthin, begann in einer Richtung und wandte sich dann in der nächsten Sekunde um, aus keinem erkennbaren Grund, sondern scheinbar aus einer Laune heraus. Es war, als sei er wahnsinnig geworden, als würden Dämonen ihn verfolgen oder wären in seinem Kopf eingeschlossen, so daß er nicht bestimmen konnte, woher sie kamen.
Ja, tatsächlich, dachte Par, während er ihm folgte, so mußte es für Coll wohl sein.
Bei Einbruch der Nacht war er erschöpft. Sein Gesicht und seine Arme waren von Staub und Schweiß überzogen, sein Haar war glanzlos und verklebt und seine Kleidung schmutzig. Da er fast alles Gepäck zurückgelassen hatte, um weniger zu tragen zu haben und schneller zu sein, trug er jetzt nur das Schwert von Shannara, eine Decke und einen Wasserschlauch bei sich. Dennoch konnte er kaum noch gehen. Er fragte sich, wie es Coll gelungen war, vor ihm zu bleiben. Seine Angst hätte ihn schon vor Stunden erschöpfen müssen. Das Spiegeltuch und die Schattenwesenmagie trieben seinen Bruder offenbar an wie eine Peitsche ein Tier. Der Gedanke ließ Par verzweifeln. Wenn Coll nicht langsamer wurde, wenn er nicht wenigstens einen kleinen Teil seines gesunden Menschenverstandes wiedererlangte, würde ihn die Anstrengung töten. Oder wenn die Anstrengung es nicht täte, dann würde es ein Fehler tun, wie er viele in der sorglosen Nichtbeachtung seiner persönlichen Sicherheit machte. Es gab Gefahren in diesem Land, die einen Mann sogar dann töten konnten, wenn er ein gesundes Maß an Vorsicht und gesundem Menschenverstand einsetzte. Im Moment besaß Coll Ohmsford anscheinend von beidem nichts.
Als er schließlich stehenblieb, befand sich Par unmittelbar westlich der Stelle, an der sich der Mermidon teilte und von wo aus ein Arm als Nebenfluß östlich zum Rabb hin verlief und der andere südwärts auf Varfleet und den Runne zu. Folgte man dem zweiten Arm weit genug, so konnte man den Regenbogensee erreichen. Und dann auch die Südwache. Das war die Richtung, die Coll eingeschlagen hatte, als es zu dunkel geworden war, daß er seine Spur weiter verfolgte. Je länger Par über diese Angelegenheit nachdachte, desto wahrscheinlicher schien es, daß sein Bruder schon die ganze Zeit über diesem Weg gefolgt war – wenn auch auf Umwegen. Zurück zur Südwache und den Schattenwesen. Das war wahrscheinlich, denn es war die Magie des Umhangs, die Coll zerrüttete.
Par wickelte sich in seine Decke und lehnte sich gegen einen alten Hickorybaum, um die Dinge zu überdenken. Das Schwert von Shannara lag auf dem Boden neben ihm, und seine Finger zogen die Umrisse des geschnitzten Hefts nach. Wenn die Schattenwesenmagie seinen Bruder kontrollierte, wußte Coll vielleicht gar nicht, was er tat. Er hatte vielleicht nach Par gesucht, ohne zu wissen, warum. Er floh jetzt vielleicht in demselben Zustand. Nur, daß das Schwert Coll die gleiche Vision gezeigt hatte, die es Par gezeigt hatte, und das bedeutete, daß Coll die Wahrheit über sich selbst gesehen hatte. Par hatte in jenen Momenten eine Verbundenheit verspürt. Coll und er standen sich so lange nahe, daß sie es beide hatten erkennen können. Hatte das die Dinge auf irgendeine Weise geändert? Versuchte Coll sich etwa von der Schattenwesenmagie zu befreien, nachdem er die Wahrheit über sich selbst gesehen hatte?
Par schloß gegen die drohende Müdigkeit fest die Augen. Er mußte schlafen, war aber nicht eher bereit dazu, bevor er nicht herausgefunden hatte, was vor sich ging. Damson hatte ihn gewarnt, daß ihn die Verfolgung in eine Art Falle führen könnte. Coll war nicht zufällig zu ihnen gekommen. Er war von den Schattenwesen gesandt worden. Warum? Um ihn zu verletzen? Oder um ihn zu töten? Par war sich nicht sicher. Wie war es Coll gelungen, ihn zu finden? Wie lange hatte er bereits gesucht? Die Fragen summten durch seinen Geist wie wütende Hornissen. Eindringlich und fordernd und mit giftigen Stacheln. Denk nach! Vielleicht hatte die Magie des Umhangs Coll geholfen, ihn zu finden – hatte Coll vielleicht angetrieben, daß er ihn fand. Die Magie hatte seinen Bruder infiziert und verwandelte ihn in ein Schattenwesen, während Coll die ganze Zeit glaubte, daß sie ihm half, seinen Gefangenenwärtern zu entkommen. Sie hatte ihn überlistet, daß er den Umhang anzog, damit sie mit ihrer Arbeit beginnen konnte, verführerisch...
Par atmete tief ein. Er konnte überhaupt kaum atmen, wenn er sich Coll als eines jener Wesen vorstellte, eines der Wesen in der Grube, jener Wesen, die selbst dann lebten, wenn sie bereits tot waren.
Er trank etwas Wasser, denn Wasser war alles, was er hatte. Wie lange war es her, seit er etwas gegessen hatte? Morgen würde er sich Nahrung suchen oder jagen müssen. Er mußte seine Kräfte wiedergewinnen. Keine Nahrung und nur wenig Ruhe, das würde ihn schließlich lahmlegen. Er konnte es sich nicht leisten, etwas zu riskieren, wenn er seinem Bruder auf irgendeine Weise nützen wollte.
Er zwang seine Gedanken wieder zurück zu Coll und wickelte seine Decke in der sich verdichtenden Nacht enger um sich. Es war kühl in den Bäumen am Fluß, die Sommerhitze war hier in andere Reiche verbannt. Wenn Coll nicht gekommen war, um ihn zu töten, warum war er dann gekommen? Sicherlich aus keinem guten Grund. Coll war jetzt nicht Coll.
Par blinzelte. Vielleicht, um das Schwert von Shannara zu stehlen?
Der Gedanke war interessant, aber er ergab keinen Sinn. Warum sollte Felsen-Dall das Schwert Par übergeben, wenn er später Coll entsandte, um es zurückzuholen? Es sei denn, Coll wäre das Werkzeug eines anderen. Aber das ergab sogar noch weniger Sinn. Es gab hier nur einen Feind. Trotz all der Beteuerungen des Ersten Suchers. Felsen-Dall hatte sich eine Menge Ärger damit eingehandelt, Par glauben zu machen, er hätte seinen Bruder getötet. Die Schattenwesen hatten Coll aus einem bestimmten Grund gesandt, aber der bestand nicht darin, das Schwert von Shannara zurückzuholen.
Par dachte einen Moment lang darüber nach, wie seltsam es war, daß das Schwert sich ihm doch noch offenbart hatte. Er hatte alles versucht, um die Magie auszulösen, und bis dahin hatte nichts funktioniert. Er hatte immer geglaubt, daß es wirklich der Talisman war und keine Fälschung, trotz aller Zweifel, warum Felsen-Dall es ihm freiwillig überlassen hatte. Er hatte seine Macht gespürt, selbst als es nicht auf ihn reagiert hatte. Aber die Zweifel hatten weiter bestanden, und mehr als einmal hatte sein Mut ihn verlassen. Jetzt plötzlich, völlig unerwartet, war die Magie zum Leben erweckt worden, und das alles nur wegen dieses Kampfes mit Coll.
Und es gab keinerlei Hinweis darauf, warum es so war.
Par glitt den Baumstamm hinab, bis er auf dem Rücken ruhte, und schaute durch die belaubten Zweige des Hickorybaums hinauf in den klaren, sternenerleuchteten Himmel. Er mußte es sich nur bequem machen, sagte er sich. Er mußte dem Schmerz in seinem Körper nur ein wenig Erleichterung verschaffen. Er konnte besser denken, wenn er dies tat. Er wußte, daß es so war.
Und während er sich das sagte, schlief er schon ein.
Als er erwachte, war es bereits dämmrig, und Coll schaute auf ihn herab. Sein Bruder saß keine zwanzig Meter von ihm entfernt zusammengekauert auf einem Wall aus Steinen, verdreht und gebeugt wie ein Käfer. Er war in das Spiegeltuch gehüllt, dessen Falten in dem schwachen, silbernen Licht bösartig schimmerten, als sei Tau in den Stoff eingewoben. Colls Gesicht wirkte hager und verzerrt, und sein sonst immer so ruhiger und stetiger Blick irrte voller Angst und Widerwillen umher.
Par war so verblüfft, daß er sich nicht rühren konnte. Es war ihm niemals in den Sinn gekommen, daß sein Bruder auf seinem Weg einen Kreis zurück beschreiben könnte – daß er überhaupt die Geistesgegenwart dazu haben würde. Warum war er gekommen? Um ihn erneut anzugreifen, um vielleicht zu versuchen, ihn zu töten? Er sah Coll an, sah in sein müdes Gesicht und seine eingesunkenen Augen. Nein, Coll war aus einem anderen Grund da. Er sah aus, als wolle er sich annähern, als wolle er sprechen oder Par nach etwas fragen. Und vielleicht ist das auch so, dachte Par plötzlich. Das Schwert von Shannara hatte Coll seinen ersten flüchtigen Blick auf die Wahrheit verschafft, seit er das Spiegeltuch umgelegt hatte. Vielleicht wollte er mehr.
Er erhob sich langsam und begann seine Hand auszustrecken.
Sofort war Coll fort, war von den Felsen in die dahinterliegenden Schatten gesprungen und eilte in den Wald.
»Coll!« schrie Par hinter ihm her. Das Echo wurde schwächer und erstarb. Der Klang von Colls Schritten verschwand in der Stille, während sich die Entfernung zwischen ihnen erneut ausdehnte.
Par suchte nach Beeren und Wurzeln. Während er das karge Frühstück aß, sagte er sich, daß er in ernsthafte Schwierigkeiten geraten würde, wenn er bis zum Einbruch der Nacht keine wirkliche Nahrung gefunden hätte. Er aß schnell und dachte dabei die ganze Zeit an Coll. In den Augen seines Bruders war solches Entsetzen zu sehen gewesen – und solcher Zorn. Auf Par, auf sich selbst, auf die Wahrheit? Er würde es nicht erfahren. Aber Coll war sich seiner noch immer bewußt, er suchte ihn von sich aus auf, und daher gab es noch immer eine Chance, ihn zu erreichen.
Aber was würde er tun, wenn dies geschehen wäre? Par hatte daran noch nicht gedacht. Das Schwert von Shannara erneut gebrauchen, antwortete er sich selbst, fast ohne zu denken. Das Schwert war sicherlich Colls größte Hoffnung, sich von dem Spiegeltuch befreien zu können. Wenn er Coll dazu bringen konnte, die Natur der Magie, die ihn in ihrer Gewalt hatte, zu erkennen, dann konnte er vielleicht eine Möglichkeit finden, den Umhang und seine Magie abzuwerfen. Vielleicht würde es Par gelingen, ihn fortzuziehen, wenn nichts anderes möglich war. Aber das Schwert war der Schlüssel! Coll hatte nichts erkannt, bis die Magie des Schwerts ihm Erkenntnis gewährt hatte, und dann hatte sich die Wahrheit in seinen Augen gezeigt. Par sagte sich, daß er es erneut einsetzen mußte. Und dieses Mal würde er nicht innehalten, bevor Coll befreit war.
Er nahm seine Decke an sich und brach erneut auf. Der Tag war schwül und still, und die Wärme verwandelte sich schnell in stickige Hitze, die Pars Kleidung vor Schweiß dampfen ließ. Er nahm Colls Spur auf und folgte ihr zum Mermidon und darüber hinweg nach Norden und dann erneut gen Süden. Dieses Mal zog sein Bruder mehrere Stunden lang in direkter Linie weiter und bewanderte das östliche Ufer bis ins Runnegebirge. Par überquerte den Fluß seitab von Varfleet, sah Schlepper und Fährschiffe träge auf der weiten Fläche manövrieren, dachte, daß es gut wäre, ein Boot zu haben, dachte eine Sekunde später, daß ein Boot nutzlos wäre, wenn er Fußabdrücken auf trockenem Boden folgen mußte. Er erinnerte sich daran, wie Coll und er vor Wochen aus Varfleet geflohen und den Mermidon entlang nach Süden gezogen waren. Das war der Anfang von allem gewesen. Er erinnerte sich daran, wie nah sie sich zu dem Zeitpunkt gewesen waren, trotz ihrer Auseinandersetzungen, welche Richtung ihr Leben nehmen sollte und wofür Par seine Magie einsetzen sollte. Das schien alles vor sehr langer Zeit geschehen zu sein.
Am späten Nachmittag erreichte Par mehrere Meilen flußabwärts von Varfleet einen kleinen Anlegeplatz mit einem Fischereidock und Handelsposten. Das Kontorgebäude war baufällig und chaotisch, und seine Pächter wortkarg, ein störrischer Haufen mit vernarbten, schwieligen Arbeiterhänden und sonnengebräunten Gesichtern. Er konnte seinen Ring gegen eine Angelleine und Angelhaken, einen Feuerstein, Brot, Käse und geräucherten Fisch eintauschen. Er brachte alles nur außer Sichtweite des Anlegeplatzes, setzte es dort gleich ab und aß die Hälfte der Lebensmittel auf, ohne sich eine Atempause zu gönnen. Als er sein Mahl beendet hatte, nahm er seine Reise gen Süden wieder auf. Er fühlte sich jetzt entschieden wohler in seiner Haut. Die Leine und die Haken würden es ihm erlauben, Fische zu fangen, und der Feuerstein würde ihm Feuer geben. Er begann einzusehen, daß die Jagd nach Coll länger dauern konnte, als er erwartet hatte.
Er stellte fest, daß er erneut darüber nachdachte, warum Coll ihn gesucht hatte – oder genauer gesagt, warum er geschickt worden war. Wenn nicht deshalb, weil er getötet werden sollte oder um das Schwert von Shannara zu stehlen, dann blieb nicht viel übrig. Vielleicht sollte Colls Erscheinen irgendeine Art Reaktion von ihm herausfordern. Damsons Warnung summte erneut in ihm – die Jagd führte wahrscheinlich zu einer Falle der Schattenwesen. Aber wie hatten die Schattenwesen wissen können, daß ihr Treffen die Magie des Schwerts von Shannara auslösen und die Wahrheit darüber, was Coll war, enthüllen würde und Par in der Lage sein könnte, in Coll etwas anderes zu sehen als ein Schattenwesen? Coll war vielleicht als Köder gesandt worden, um Par anzulocken – das klang sicherlich nach Felsen-Dall –, aber dennoch, wie hatten die Schattenwesen wissen können, daß Par die Identität seines Bruders entdecken würde?
Es sei denn, es war nicht beabsichtigt gewesen, daß er es her- ausfand...
Par blieb abrupt stehen. Er befand sich gerade unter einer riesigen, alten Eiche. Dort war es schattig und kühl. Er konnte eine Brise vom Mermidon heranwehen spüren. Er konnte das Geräusch der trägen Bewegungen des Flusses hören. Er konnte das Wasser und die Wälder riechen.
...bis es zu spät war.
Er spürte, wie sich seine Kehle verengte. Wie wäre es, wenn diese ganze Angelegenheit umgekehrt gedacht gewesen war? Wie wäre es, wenn Coll ihn gar nicht töten sollte? Wie wäre es, wenn er Coll töten sollte?
Warum?
Weil...
Er kämpfte um eine Antwort. Sie war am Rande seiner Gedanken beinahe greifbar. Ein Flüstern von Worten, das bestrebt war, erkannt zu werden, bestrebt war, verstanden zu werden.
Er konnte sie nicht ganz erreichen.
Enttäuscht ging er weiter. Er war auf der richtigen Spur, wenn er auch noch nicht alle Einzelheiten klar erkannte. Es war Coll dort draußen, der ihn führte, der floh, ohne zu wissen warum er floh, der bei Nacht zurückkam, um sicherzugehen, daß Par ihm folgte. Was Par trug, war das Schwert von Shannara, und seine Magie hatte ihm die Wahrheit gezeigt. Es waren die Schattenwesen, die dies alles inszeniert hatten, die mit ihnen spielten wie mit Kindern, die zum Vergnügen anderer agieren sollten.
Es hat etwas mit der Magie des Wunschgesangs zu tun, dachte Par plötzlich. Es hat damit zu tun.
Es würde ihm noch einfallen, das wußte er. Er mußte nur weiterhin darüber nachdenken. Er mußte nur weiterhin alles durchdenken.
Bei Sonnenuntergang des zweiten Tages hatte er Coll noch immer nicht gefunden, und er errichtete sein Lager in einer von Felsen umgebenen Nische, die ihn von hinten schützte, während er sehen konnte, was auch immer sich von vorn näherte. Er entzündete kein Feuer. Ein Feuer würde sein nächtliches Sehvermögen schwächen, wenn es dunkel wurde. Er aß noch ein wenig von seinen Vorräten, wickelte sich in seine Decke und lehnte sich zum Warten gegen die Felsen.
Die Nacht vertiefte sich, und die Sterne kamen hervor. Par beobachtete, wie sich Schatten abzeichneten und in dem fahlen Licht Gestalt annahmen. Er lauschte auf das träge Aufschlagen des Flusses gegen die Felsen und auf die Schreie der Nachtvögel, die über dem Wasser kreisten. Er atmete die kühle, feuchte Luft und erlaubte sich das erste Mal seit zwei Tagen, an Damson Rhee zu denken. Nach all der Zeit, in der sie sich in Tyrsis zusammen versteckt und beide darum gekämpft hatten, frei zu bleiben, war es seltsam, daß er ohne sie war. Er sorgte sich um sie, beruhigte sich dann aber, indem er sich sagte, daß es ihr wahrscheinlich besser ging als ihm. Sie hatte inzwischen sicherlich die Geächteten erreicht und war mit dem Versuch beschäftigt, Padishar zu befreien. Sicherlich war sie inzwischen längst in Sicherheit.
Zumindest so sicher, wie einer von ihnen beiden sein konnte, bis alles erledigt war.
Gedanken an Damson, Padishar, Morgan Leah, Wren und Walker Boh bevölkerten seinen Geist, Fragmente seiner Erinnerungen an jene, die er auf dem Weg verloren hatte. Manchmal schien es ihm, als sei ihm bestimmt, alles zu verlieren. So viel hatte er eingesetzt und so wenig gewonnen – das Gewicht dieses Gedankens drückte ihn nieder.
Er zog die Knie schützend zu seiner Brust herauf und rollte sich fest zusammen. Das Schwert von Shannara drückte gegen seinen Rücken, denn er hatte vergessen, es abzunehmen. Das Schwert, seine ihm von Allanon übertragene Aufgabe, seine Lebenschance, seine einzige Hoffnung darauf, sich eines Tages von den Schattenwesen befreien zu können – so vieles war dafür aufgegeben worden. Er fragte sich erneut, welchem Zweck der Talisman wohl diente. Sicherlich etwas Phantastischem, denn Magie wie diese war für nichts anderes geschaffen. Aber wie sollte er diesen Zweck entdecken – besonders hier, irgendwo im Runne verloren, auf der Jagd nach dem armen Coll? Besser war, er suchte Walker Boh und Wren, die anderen beiden, denen Allanon Aufgaben übertragen hatte.
Aber das war natürlich falsch. Er mußte genau das tun, was er tat. Er mußte seinen Bruder suchen, damit er ihm helfen könnte. Wenn er Coll verlor, der ihm in so vielem beigestanden hatte, der alles aufgegeben hatte, der ihn verloren hatte, nachdem er ihn bereits einmal verloren hatte, nachdem er ihn wiedergefunden hatte...
Er schüttelte den Kopf. Er würde Coll nicht verlieren. Das konnte er nicht zulassen.
Die Minuten vergingen und Par Ohmsford wartete noch immer. Coll würde kommen. Dessen war er sich sicher. Er würde kommen, wie er auch in der vorangegangenen Nacht gekommen war. Vielleicht würde er nur dasitzen und Par ansehen, aber zumindest würde er dasein, nahe bei ihm.
Er griff in seine Tunika und nahm die abgebrochene Hälfte des Skree hervor, das Damson ihm gegeben hatte. Er hatte ihn mit einem Lederband festgebunden und um seinen Hals gehängt. Wenn Damson in der Nähe war, würde das Skree leuchten. Er betrachtete es nachdenklich. Das Metall reflektierte dumpf das helle Sternenlicht, aber es leuchtete nicht. Damson war weit entfernt.
Er betrachtete das Skree noch eine Weile und ließ es dann wieder in seine Tunika gleiten. Noch ein Stück Magie, das ihm Sicherheit geben sollte, dachte er betrübt. Der Wunschgesang, das Schwert von Shannara und das Skree. Er war gut mit Talismanen ausgerüstet. Er schwamm in ihnen.
Aber Verbitterung half nichts, und so versuchte er, sie beiseite zu schieben. Er nahm das Schwert ab und legte es neben sich auf den Boden. Irgendwo draußen auf dem Mermidon klatschte ein Fisch auf dem Wasser auf. Aus den Bäumen hinter ihm drang plötzlich und zwingend der tiefe Schrei einer Eule.
Ein Vermächtnis der Magie, dachte er. Er war unfähig, sich selbst zu helfen, denn die Düsterkeit seines Gemüts war unerbittlich. Und alles, was es bewirkt ist, daß ich mich frage, ob Fel- sen-Dall nicht vielleicht recht hat – ob ich nicht tatsächlich ein Schattenwesen bin.
Der Gedanke blieb, während er in die Nacht hinausschaute.
Das Wesen, in dem sich ein Schattenwesen und Coll Ohmsford mischten, starrte aus einem Versteck in den Bäumen hervor. Es lauerte gut hundert Schritt von der Stelle entfernt, wo derjenige, der es verfolgte, darauf wartete, daß es erschien.
Aber das werde ich nicht, nein, dachte es bei sich. Ich werde hierbleiben, in der Sicherheit der Dunkelheit, wo ich hingehöre, wo die Schatten mich beschützen vor...
Wovor? Es konnte sich nicht erinnern. Vor diesem anderen Wesen? Vor der seltsamen Waffe, die es trug? Nein, vor etwas anderem. Vor dem Umhang, den es trug? Es befingerte das Material unsicher und spürte, daß sich etwas Unerfreuliches an seinen Fingerspitzen rührte, während es dies tat. Es wurde sich wieder der Vision bewußt, die es gesehen hatte, als es mit dem anderen gekämpft hatte, mit demjenigen, der war... der war... Es konnte sich nicht erinnern. Jemand, den es gekannt hatte. Früher einmal, vor langer Zeit. Verwirrung machte sich in ihm breit. Die Verwirrung verging scheinbar niemals.
Das Wesen, das halb Schattenwesen und halb Coll war, rührte sich leise, den Blick unverwandt auf die Gestalt gerichtete, die in den Felsen kauerte.
Es denkt, es kann mich von dort aus sehen, aber es irrt sich. Es kann nur dann etwas sehen, wenn ich will, daß es etwas sieht – aber es sieht nichts, solange ich den Umhang trage, nichts, solange ich die Magie habe. Ich komme zu ihm, wenn ich es will, und ich gehe fort, wenn ich es will. Es kann mich nicht sehen. Es kann mich nicht fangen. Es jagt mich, aber ich führe es dahin, wohin ich es bringen will. Ich führe es nach Süden, nach Süden zu, zu...
Aber es war nicht sicher. Die Verwirrung umwölkte seine Gedanken erneut und quälte es. Manchmal schien es ihm, es würde besser denken, wenn es den Umhang ablegte. Aber nein, das war sicher töricht. Der Umhang beschützte es, das Spiegeltuch, das ihm gegeben von – nein, gestohlen, genommen von – nein, durch List von jemandem genommen... jemand Gefährlichem...
Die Gedanken bruchstückhaft und flüchtig kamen und gingen wieder. Sie wirbelten umher wie Strudel in einem Fluß, die einen Moment lang auf Sand und Fels auftreffen, bevor sie weiterziehen.
Tränen der Enttäuschung traten ihm in die Augen, und es hob eine schmutzige Hand, um sie wegzuwischen. Manchmal erinnerte es sich an Dinge von früher, von der Zeit, als es den Umhang noch nicht getragen hatte, von der Zeit, als es ein anderer war. Die Erinnerungen stimmten es traurig, und es schien, daß ihm etwas Böses zugefügt worden war, daß es die Erinnerungen waren, daß es sich so fühlte.
Ich sah, einen Moment lang, in dem Licht in meinem Geist, in jener Vision, ich sah etwas über mich selbst, darüber, wer ich war, bin, sein könnte. Ich möchte es erneut sehen!
Es floh jetzt vor dem Wesen, das es einst gejagt hatte, und fürchtete es, ohne zu wissen warum. Der Umhang verlieh ihm Sicherheit, aber selbst der Umhang schien nicht zu genügen, um ihn vor diesem anderen zu schützen. Und die Flucht vor seinem Verfolger schien es immer wieder zu dem Punkt zurückzuführen, wo dieser Verfolger wartete, ein Kreislauf, den es nicht verstehen konnte. Wenn es doch vor seinem Verfolger davonlief, warum brachte das Davonlaufen es dann immer wieder zurück? Manchmal tröstete der Umhang es wegen des Verfolgers und der Erinnerungen, aber manchmal fühlte es sich so an, als wäre der Umhang Feuer auf seiner Haut und als brenne es seine Identität weg und verwandle es in etwas Furchtbares.
Nimm den Umhang ab!
Nein, Narr, Narr! Der Umhang schützt dich!
Und so tobte der Kampf in dem gepeinigten Wesen, das sowohl Coll als auch ein Schattenwesen war, trieb es hierhin und dorthin, drückte es nieder und richtete es wieder auf, zog und stieß es gleichzeitig, bis nichts mehr an Vernunft und Frieden in ihm übrigblieb.
Hilf mir, bat es schweigend. Bitte, hilf mir.
Aber es wußte nicht, wen es um Hilfe bat oder was eine Hilfe sein konnte. Es schaute hinab in die Dunkelheit zu demjenigen, der es verfolgte, und dachte, daß sein Verfolger bald schlafen würde. Was sollte es dann tun? Sollte es dort hinuntergehen, kriechend, kriechend, so leise wie am Himmel dahinziehende Wolken, und es berühren, berühren...
Der Gedanke kam zu keinem Ende. Der Umhang schien sich fester um es herumzulegen und es zu quälen. Ja, vielleicht hinabkriechen, seinem Jäger zeigen, daß es keine Angst hatte (aber es hatte Angst), daß es in der Nacht, in seinem Umhang, in der Sicherheit der Magie tun konnte, was es wollte...
Hilf mir.
Es würgte an den Worten und versuchte, sie laut hinauszuschreien, aber es gelang ihm nicht. Es schloß seine Augen gegen den Schmerz und zwang sich, nachzudenken.
Nimm dir etwas von ihm, etwas, was es braucht, was es schätzt. Nimm dir etwas, was es... verletzt, wie ich verletzt bin. Der Verstand riß eine vertraute Erinnerung auf. Ich kenne es, weiß auch woher, als wir... wir... Brüder waren! Es kann helfen, es kann einen Weg finden...
Aber das Wesen, das halb Coll und halb ein Schattenwesen war, war sich dessen nicht sicher, und der Gedanke schwebte mit den anderen davon, verloren in den unzähligen Fragmenten, die sich umeinanderdrängten und in dem verwirrten Geist um Bestand kämpften. Es wurde von demjenigen, den es beobachtete, sowohl angezogen als auch abgestoßen, und dieser Widerspruch würde sich nicht auflösen lassen, egal wie sehr es sich auch bemühte.
Erneut stiegen Tränen in ihm auf, ungebeten und unerwünscht. Die schmutzige, zerkratzte Hand verkrampfte sich. Das entstellte Gesicht kämpfte darum, sich in etwas Erkennbares verwandeln zu können. Eine Sekunde lang war Coll wieder da, aus den Spinnweben der schwarzen Magie, die ihn gefangenhielt, errettet.
Muß handeln, etwas tun, was den anderen wissen lassen wird! Muß mir etwas nehmen! Ich muß!
Par war eingeschlafen, als er das Ziehen an seinem Hals spürte. Er schrak hoch und schlug in dem Versuch, diesem Ziehen Einhalt zu gebieten, wild um sich, ohne zu wissen, was es war oder wer es verursachte. Etwas würgte ihn, drückte seine Kehle zu, so daß er nicht atmen konnte. Ein Gewicht lag auf ihm, kletterte auf ihn hinauf und wickelte ihn ein.
Ein Schattenwesen.
Doch der Wunschgesang hatte ihn nicht gewarnt, also konnte es das nicht sein. In dem verzweifelten Bemühen, sich zu retten, beschwor er die Magie jetzt herauf. Er spürte, wie sie sich in betäubender Langsamkeit in ihm aufbaute. Irgend etwas atmete auf sein Gesicht und seinen Hals. Ein Aufblitzen von Zähnen war zu sehen, und er spürte grobes Haar, das an seiner Haut rieb. Er streckte seine Hand aus, um sich abzustützen, damit er sich seinem Angreifer entgegenstemmen könnte. Seine Hand streifte das Heft des Schwertes von Shannara, und das Metall verbrannte sie.
Dann ließ der Druck auf seiner Kehle abrupt nach, das Gewicht gab seinen Körper wieder frei, und durch einen Nebel aus farbigem Licht und Düsterkeit sah er eine zusammengeschrumpfte, gebeugte Gestalt in die Nacht davoneilen.
Coll! Es war Coll gewesen!
Erschreckt und ängstlich sprang er auf und kämpfte um Haltung und Gleichgewicht. Was ging hier vor? War Coll gesandt worden, um ihn nun doch zu töten? Hatte er versucht, ihn zu ersticken? Er beobachtete, wie die dunkle Gestalt in den Schatten verschwand und in den Felsen und Bäumen fast augenblicklich verloren war. Da war kein Irrtum möglich. Es war Coll gewesen. Dessen war er sich sicher.
Aber was hatte sein Bruder tun wollen?
Er dachte plötzlich an das Schwert, schaute schnell hinab und sah es unberührt neben sich auf dem Boden liegen. Nicht das Schwert, dachte er. Was dann?
Er griff sich an den Hals und wurde sich plötzlich eines neuen Schmerzes bewußt. Seine Hand war naß von Blut. Er tastete noch einmal seinen Hals ab. Er fand einen Streifen gequetschter, aufgerissener Haut und berührte ihn, ohne jede Vorsicht, weil er der Sache auf den Grund gehen wollte.
Und dann erkannte er, daß das Skree fort war.
Sein Bruder hatte es gestohlen. Offenbar hatte er, während er sich dort draußen in der Dunkelheit versteckt gehalten hatte, gesehen, wie Par es hervorgeholt hatte. Sicherlich war er herabgekommen, nachdem Par eingeschlafen war, auf ihn zugekrochen und hatte ihn am Boden festgehalten. Dann hatte er offenbar an dem Lederband um seinen Hals gezogen, so daß Par würgen mußte, hatte es durchgebissen, als nichts anderes funktionierte, und Damsons Talisman davongetragen.
Warum?
Natürlich damit Par ihm folgen würde. Damit Par gezwungen war, ihm nachzujagen.
Der Talbewohner stand da und schaute wie betäubt seinem Bruder hinterher, dem Wesen, zu dem sein Bruder geworden war. In der Stille seines Geistes schien es, als könnte er den anderen etwas rufen hören.
Hilf mir, sagte Coll.
Hilf mir.