21

An jenem Morgen, an dem die beiden zerrissenen Lumpensammlerinnen zusammen mit ihrem ältlichen, blinden Vater und den anderen Händlern, Kaufleuten, Trommlern, Hausierern und umherziehenden Straßenverkäufern, die aus den umliegenden Dörfern gekommen waren, durch die Tore von Tyrsis schritten, waren die Wolken jener Regengüsse, die die Westlandelfen und die Föderationsarmee überschwemmt hatten, noch immer am westlichen Horizont zu sehen. Wie die meisten anderen, die in die Stadt hineinwollten, hatten sie während der Nacht vor den Toren gelagert. Alle waren bestrebt, früh hineinzugelangen, damit sie die besten Standplätze auf dem freien Markt erwischten, wo das Handeln und Tauschen stattfand. Sie mühten sich so schnell voran, wie sie konnten, aber die Frauen waren durch den alten Mann behindert, der sich unsicher seinen Weg suchte, von beiden Seiten gestützt werden mußte und die Füße vorsichtig den staubigen Weg entlangführte. Föderationswächter säumten die Eingänge der äußeren und inneren Mauern und überprüften jeden, der vorbeiging. Es war ungewöhnlich, daß sie sich darum kümmerten, wer die Stadt betrat, denn in der Vergangenheit hatten sie eher verstärkt darauf geachtet, wer die Stadt verlassen wollte. Aber Padishar Creel, der Anführer der Geächteten, sollte zur Mittagszeit des folgenden Tages hingerichtet werden, und die Föderation befürchtete, daß ein Befreiungsversuch unternommen werden würde. Man glaubte zwar, daß ein solcher Befreiungsversuch auf jeden Fall scheitern würde, egal wie gut er geplant wäre, denn die Stadtgarnison besaß mit einigen fünftausend Mann ihre volle Stärke, und es waren außergewöhnliche Sicherheitsmaßnahmen eingeleitet worden. Dennoch sollte nichts dem Zufall überlassen bleiben, und daher hatten die Wachen an den Toren ausdrückliche Instruktionen erhalten, jeden genau zu kontrollieren.

Sie beschlossen, die beiden Lumpensammlerinnen und den alten Mann beiseite zu nehmen. Es war eine willkürliche Auswahl, die der Befehlshaber der Wache früh am Morgen als Kompromiß angeordnet hatte, damit sie nicht jedermann anhalten mußten, was endlos dauern würde, und auch nicht der Pflichtversäumnis angeklagt werden konnten, wenn sie niemanden kontrollierten. Die drei erhielten den Befehl, abseits von der Menge auf einem freien Platz im Hof zwischen den Stadtmauern stehenzubleiben und dort auf ihr Verhör zu warten. Aus der Menge wurden ihnen verstohlen und mißtrauisch vereinzelte Blicke zugeworfen. Besser ihr als ich, schienen sie zu sagen. Staub erhob sich, als die Menge vorbeieilte, und selbst jetzt, wo die Sonne noch längst nicht ihren Höhepunkt erreicht hatte, fühlte sich die Luft schon heiß und klebrig an.

»Namen«, sagte der Offizier vom Dienst zu den Lumpensammlerinnen und dem alten Mann.

»Asra, Wintath und unser Vater Criape«, sagte diejenige mit dem verwilderten, zotteligen rötlichen Haar. Infektionen überzogen die Haut ihres Gesichts, und sie roch wie alter Abfall.

Der Offizier sah die andere Frau an, die sofort den Mund öffnete und geschwärzte Zähne und eine rauhe rote Kehle zeigte, der die Zunge fehlte. Der Offizier schluckte.

»Sie kann nicht sprechen«, sagte die erste grinsend.

»Aus welchem Dorf kommt ihr?«

»Spekese Run«, sagte die Frau. »Kennt Ihr es?«

Der Offizier schüttelte den Kopf. Er betrachtete die Lumpenstapel, die sie auf ihre Rücken gebunden trugen. Wertloses Zeug. Er betrachtete den alten Mann, der sein Gesicht unter der Kapuze verborgen hielt, konnte aber nicht viel von ihm erkennen. Daher trat er vor und zog die Kapuze zurück. Der Kopf des alten Mannes fuhr hoch, und seine geschwärzten Lider wurden ruckartig geöffnet und ließen eine dicke, milchige Flüssigkeit an der Stelle sehen, wo seine Augen hätten sein sollen. Der Offizier würgte.

»Weiter mit euch.« Er winkte und ging schnell weiter, um den nächsten Unglücklichen zu verhören.

Die Frauen und der alte Mann schlurften gehorsam davon. Sie glitten in die Menge zurück, passierten die Postenkette, die die Tore der inneren Mauer säumte, und betraten von dort aus die Stadt. Sie waren ein gutes Stück von der Tyrsian Allee entfernt und hielten sich an die Seitenstraßen, in denen keine Föderationswächter patrouillierten, bevor Matty Roh die gefärbte Fruchtschale ausspuckte, die in ihrem Mund geklebt hatte, und sagte: »Ich habe Euch gesagt, daß dies zu riskant sein könnte!«

»Wir sind hineingelangt, nicht wahr?« fauchte Morgan gereizt. »Hört auf, Euch zu beschweren und bringt mich irgendwohin, wo ich mir dieses Zeug aus den Augen waschen kann!«

»Seid still, alle beide!« befahl Damson Rhee und drängte sie weiter.

Ihre Stimmung war inzwischen ziemlich gereizt. Es hatte erbitterte Auseinandersetzungen gegeben, wer mit in die Stadt kommen sollte, und dieser Streit war durch die Nachricht von Padishar Creels drohender Hinrichtung noch verstärkt worden. Eineinhalb Tage waren nicht annähernd genug Zeit, um eine erfolgreiche Befreiung durchzuführen, aber mehr hatten sie nicht zur Verfügung, und Morgan hatte sich gesagt, daß sein ursprünglicher Plan der Änderung bedurfte. Nicht nur Matty und Damson sollten in die Stadt gehen, um den Maulwurf zu suchen, sondern auch er ging mit hinein. Im besten Falle hatten sie den heutigen Tag und den Abend, um den Maulwurf aufzuspüren, Chandos und die anderen Geächteten durch die unterirdischen Tunnel hereinzubringen, einen Befreiungsplan für Padishar zu ersinnen und in die Tat umzusetzen. Morgan bestand darauf, daß er die beiden Frauen in die Stadt begleiten müßte, um entscheiden zu können, was zu tun war. Er konnte es sich nicht leisten, auf den Einbruch der Nacht zu warten und darauf, daß der Maulwurf die Dinge begutachtete. Damson und Matty verwiesen immer wieder darauf, daß jeder Versuch, an den Wachen vorbeizugelangen, sie alle gefährden würde. Es würde für sie beide allein schon schwer genug werden, aber doppelt gefährlich, wenn sie gezwungen wären, auch ihn hineinzubringen. Warum konnte er seine Pläne nicht dort schmieden, wo er war? Hatte er nicht inzwischen genug Zeit in der Stadt verbracht, um sich ein genaues Bild zu machen?

So hatten sie sich gestritten, aber am Ende hatte Morgan die Diskussion gewonnen, indem er erklärte, er könne überhaupt keine Pläne schmieden, bis er wüßte, wo Padishar gefangengehalten würde, und das könne er nicht wissen, solange er nicht in die Stadt hineingelangt sei. Der Preis für seinen Sieg war die unerbittliche Forderung beider Frauen, daß er sein Schwert zurücklassen sollte. Die Täuschung mit einer Verkleidung würde vielleicht funktionieren, aber nicht, wenn er diese Waffe mit sich trüge. Die Gefahr, entdeckt zu werden, war einfach zu groß. Trotz seiner Proteste wollte keine der Frauen nachgeben. Das Schwert von Leah war bei Chandos zurückgeblieben.

Damson führte sie eine Straße hinab zu der Seitentür eines verlassenen Gebäudes, stieß die Tür auf und trat mit ihnen ein. Das Innere war eng und stickig, und Staub hing in sichtbaren Schleiern in der Luft. Sie schloß die Tür hinter ihnen, und dann durchquerten sie den Raum zu einer zweiten Tür und betraten von dort einen weiteren, genauso stickigen Raum. Ein winziger Hof eröffnete sich dahinter, und sie gingen durch die frühen Morgenschatten und den schwachen Duft von Wildblumen, die in einer sonnendurchtränkten Ecke des Hofes wuchsen, zu einem offenen Schuppen mit altem Werkzeug und Werkbänken. Dort verließ Damson ihre Gefährten. Als sie zurückkehrte, hatte sie eine Schale mit Wasser gefüllt, und die drei ließen sich nieder und wuschen sich.

Als sie gesäubert waren, wühlten sie sich durch die Lumpenbündel und zogen ihre gute Kleidung hervor. Sie legten die alte ab, zogen die neue an und setzten sich auf zwei Werkbänke, um zu beraten, was als nächstes zu tun sei.

»Ich werde zuerst hinausgehen und versuchen, den Maulwurf zu finden«, sagte Damson, die noch immer die Knoten ihres zerzausten roten Haars auskämmte. Sorgfältig band sie es zurück und verstaute es unter einem Tuch. »Ich kann Zeichen hinterlassen, die er verstehen wird. Wenn das getan ist, werde ich zurückkommen, und wir werden sehen, was wir über Padishar herausfinden können. Dann werde ich Euch irgendwo zurücklassen müssen, während ich auf den Maulwurf warte. Er kommt vielleicht nicht, wenn er uns alle sieht – er kennt Euch beide nicht, und er wird nach dem, was geschehen ist, sehr vorsichtig sein. Wenn er kommt, werde ich mit ihm Chandos und die anderen holen, und wir werden Euch in der Dämmerung wieder treffen. Wenn er nicht kommt...«

»Sagt es nicht«, unterbrach Morgan sie. »Tut einfach Euer Bestes.«

Damson sah Matty an. »Wie gut kennt Ihr die Stadt?«

»Gut genug, um nicht in Schwierigkeiten zu geraten.«

Damson nickte. »Wenn mir etwas geschieht, werdet Ihr Morgan hier herausbringen müssen.«

»Einen Moment!« rief Morgan aus. »Ich werde nicht...«

»Ihr werdet tun, was man Euch sagt. Eure Pläne sind nichts mehr wert, wenn meine Mission mißlingt. Wenn die Föderation den Maulwurf gefangengenommen hat oder wenn sie mich gefangennimmt, dann kann nichts mehr getan werden.«

Morgan starrte sie an, war aber durch die Verärgerung in ihrer Stimme und die Entschlossenheit, die er in ihren grünen Augen wahrnahm, zum Schweigen gebracht.

Matty ergriff seinen Arm und zog ihn einen Schritt zurück. »Ich werde mich um ihn kümmern«, versprach sie.

Damson nickte, und ihr Gesichtsausdruck wurde eine Spur weicher. Sie erhob sich, wickelte ihren Umhang um sich, nickte ihnen kurz zu und verschwand auf dem Weg, auf dem sie gekommen war. Morgan sah ihr nach und fühlte sich hilflos. Sie hatte recht. Er konnte nichts mehr tun, wenn ihre Mission mißlang. Der Erfolg eines jeden Plans, den er ersinnen konnte, hing von dem Mädchen ab und davon, daß der Maulwurf Chandos und die Geächteten in die Stadt hineinbrachte. Ohne die Geächteten oder die Magie seines Schwerts war er nicht in der Lage, Padishar zu helfen. Was für ein dünner Faden, an dem alles hing, dachte er grimmig.

»Möchtet Ihr etwas essen?« fragte Matty Roh freundlich, sah ihn mit ihren dunklen Augen fragend an und bot ihm einen Apfel an.

Sie warteten bis fast zur Mittagszeit im Schatten des Lagerschuppens versteckt in dem kleinen umschlossenen Hof. Die Luft begann zu dampfen und war dicht vor Hitze, und die Sonne brannte eine stetige Spur über die Steine und das verdorrte Gras, und diese kletterte schließlich die Nordmauer von Osten nach Westen hinauf wie die Ausbreitung verschütteter Farbe. Morgan döste ein wenig, denn er war müde von dem langen Marsch hierher und von der unsicheren Nacht, in der er in seiner unbequemen Verkleidung vor den Toren geschlafen hatte. Er merkte, daß er an Par und Coll und an die Tage vor den Schattenwesen und Allanon dachte, an die Jahre, als sie im Hochland gejagt und gefischt hatten, an seine eigene Kindheit, an die langen, bedächtigen Tage, als das Leben ein aufregendes Spiel gewesen zu sein schien. Er dachte an Steff und Granny Elise und Auntie Jilt. Er dachte an Quickening. Sie waren Erinnerungen an eine Vergangenheit, die mit jedem Tag, der verging, ein wenig ihrer Farbe verlor. Sie schienen alle schon vor sehr langer Zeit aus seinem Leben verschwunden zu sein.

Die Sonne stand direkt über ihnen, als Damson Rhee schließlich zurückkehrte. Sie war rot von der Hitze und staubbedeckt, aber in ihren Augen war Erregung erkennbar.

»Sie halten Padishar in demselben Wachturm gefangen, in dem sie mich gefangengehalten haben«, verkündete sie, ließ sich auf eine der Bänke fallen und legte ihren Umhang ab. Sie nahm einen langen Schluck aus dem Becher mit Wasser, den Matty Roh ihr anbot. »Es scheint allgemein bekannt zu sein. Sie planen, ihn morgen um die Mittagszeit zu den Haupttoren zu bringen und ihn dort, für die ganze Stadt sichtbar, zu hängen.«

»Wie geht es ihm?« fragte Morgan schnell. »Hat jemand etwas darüber gesagt?«

Sie schüttelte den Kopf und schluckte. »Niemand hat ihn gesehen. Aber unter den Soldaten wird darüber geredet, daß er bis zum Ende durchhält.«

Sie sah Matty Roh an. Die runzelte die Stirn. »Allgemein bekannt, nicht wahr?« Sie sah Damson nachdenklich an. »Ich traue dem nicht sonderlich. Wenn etwas allgemein bekannt ist, bedeutet das meiner Erfahrung nach oft, daß es sich nur um ein Gerücht handelt.«

Damson zögerte. »Jedermann schien so sicher.« Sie brach ab. »Aber ich denke, wir müssen uns selbst davon überzeugen, nicht wahr?«

Matty Roh beugte sich vor, die Ellenbogen auf den Knien, das Kinn in den Händen, das jungenhafte Gesicht angespannt. »Ihr habt mir erzählt, wie Padishar gefangengenommen wurde.« Morgan sah hoch. Wieviel mehr hatte Damson ihr erzählt, was er nicht wußte? »Es hat einmal funktioniert, also stehen die Chancen recht gut, daß sie es erneut versuchen werden. Aber sie werden die Regeln ändern. Sie werden sicherstellen, daß dieses Mal niemand davonkommt. Anstatt einen lebenden Köder zu benutzen, werden sie jetzt vielleicht... die Tatsache benutzen, daß es allgemein bekannt ist.«

Morgan nickte. Er hätte selbst drauf kommen müssen. »Ein Köder. Sie erwarten einen Befreiungsversuch, also leiten sie ihn in die Irre. Sie halten Padishar irgendwo anders gefangen.«

Matty nickte ernst. »Darauf würde ich wetten.«

Damson stand wieder auf. »Ich habe Zeichen für den Maulwurf hinterlassen, die er nicht verfehlen kann. Wenn er kommt, wird er heute abend kommen. Bis dahin habe ich Zeit, wieder hinauszugehen. Vielleicht kann ich doch herausfinden, wo Padishar wirklich ist.«

»Ich komme auch mit.« Morgan erhob sich und griff nach seinem Umhang.

»Nein.« Matty Rohs Stimme klang heftig und fest. Sie stand auf und trat zwischen sie. »Keiner von Euch beiden geht.« Sie griff nach ihrem Umhang. »Ich gehe.« Sie sah Morgan an. »Ihr könntet erkannt werden, nachdem Ihr Eure Verkleidung abgelegt habt, und Ihr könnt ohnehin unentdeckt nirgends hingehen, wo Ihr etwas erfahren könntet. Ihr seid besser dran, wenn Ihr hierbleibt.« Sie wandte sich Damson zu. »Und Ihr könnt es Euch nicht leisten, Euer Leben noch einmal zu riskieren. Immerhin wissen sie auch, wer Ihr seid. Es war riskant genug, heute morgen hinauszugehen. Was auch immer geschieht, Ihr müßt in Sicherheit bleiben, bis Ihr den Maulwurf trefft und die anderen hereinbringen könnt. Das könnt Ihr nicht tun, wenn Ihr entdeckt und Euch in Padishar Creels Gesellschaft wiederfinden würdet. Außerdem bin ich in diesen Dingen besser als Ihr. Ich weiß, wie man lauscht, wie man Dinge herausfindet. Geheimnisse aufzudecken liegt mir am meisten.«

Sie sahen sie einen Moment schweigend an. Als Morgan widersprechen wollte, brachte Damson ihn mit einem Blick zum Schweigen. »Sie hat recht. Padishar würde das nur gutheißen.«

Morgan setzte erneut an, etwas zu sagen, aber Damson unterbrach ihn, indem sie sagte: »Wir werden hier auf Euch warten, Matty. Seid vorsichtig.«

Matty nickte und schlang sich den Umhang um die Schultern. Ihr schmales Gesicht war fest und glatt und ruhig. »Wartet nicht länger, wenn ich in der Dunkelheit noch nicht zurückgekommen bin.« Sie lächelte Morgan schnell und ironisch an. »Wiegt mich in Euren Gedanken in Sicherheit, Hochländer.«

Dann ging sie über den Hof und durch die Tür des jenseitigen Raums und war fort. Sie warteten den ganzen Tag auf Matty Roh, kauerten sich in den Schutz des Schuppens und versuchten allen möglichen Trost aus dem Schatten zu ziehen, den er spendete. Die Sonne zog langsam westlich vorbei, die Hitze staute sich in ihrem Schlepptau auf, und die Luft stand ruhig und staubig in dem stickigen Hof.

Damit die Zeit schneller vorüberging, begann Morgan Damson zu erzählen, wie Padishar und er am Jut zusammen gegen die Föderation gekämpft hatten. Aber darüber zu sprechen, milderte seine Langeweile nicht, wie er gehofft hatte. Statt dessen brachte es eine Erinnerung zurück, die er hatte vergessen wollen – nicht die an Steff oder Teel oder den Kriecher oder auch an seinen erschütternden Kampf in den Katakomben, sondern an das furchtbare, erschreckende Gefühl, unvollständig zu sein, das er empfunden hatte, als er der Magie des Schwerts von Leah beraubt worden war. Nachdem seine Magie durch Generationen seiner Familie hindurch geruht hatte, hatte ihre Wiederentdeckung ihm Türen geöffnet, die seinem Empfinden nach besser geschlossen geblieben wären. Die Magie hatte ihn in solche Abhängigkeit gebracht, ein Elixier der Macht, das stärker war als Vernunft oder Selbstverleugnung, das in seinem Streben, alles zu dominieren, heimtückisch war, das in seinem Bedürfnis, immer zu befehlen, absolut war. Er erinnerte sich daran, wie ihn diese Macht eingebunden hatte, wie er danach unter ihrem Verlust gelitten hatte und wie sie ihm den Mut und die Entschlußkraft genommen hatte, als er beides gebraucht hätte – und jetzt war er zwar erneut im Besitz dieser Macht, hatte aber Angst davor, was ihr erneuter Gebrauch ihn kosten würde. Er mußte wieder an Par denken, der verflucht, nicht gesegnet war durch die Magie des Wunschgesangs, eine Magie, die möglicherweise zehnmal stärker war als die des Schwerts von Leah, eine Magie, mit der Par seit seiner Geburt hatte ringen müssen und die sich jetzt auf erschreckende Weise entwickelt hatte, so daß sie ihn vollständig zu vereinnahmen drohte. Morgan dachte, daß er auf gewisse Weise Glück gehabt hatte, das der Talbewohner nicht gehabt hatte. Viele hatten dem Hochländer geholfen – Steff, Padishar, Walker, Quickening, Horner Dees und jetzt Damson und Matty Roh. Jeder hatte ein Maß an Vernunft und Ausgewogenheit in sein Leben gebracht, hatte ihn davon abgehalten, sich in der Verzweiflung zu verlieren, die ihn andernfalls vielleicht überwältigt hätte. Einige waren ihm für immer genommen worden, und einige waren durch die Ereignisse von ihm getrennt. Aber sie waren dagewesen, als er sie gebraucht hatte. Auf wen hatte Par sich verlassen können? Auf Coll, der vom Wahnsinn der Schattenwesen vereinnahmt war? Auf Padishar, der auch gegangen war? Auf Walker oder Wren oder einen der anderen, die sich auf diese endlose Reise begeben hatten? Auf Cogline? Auf ihn selbst? Sicherlich nicht auf ihn selbst. Nein, da waren nur Damson und der Maulwurf gewesen – und überwiegend nur Damson. Jetzt war auch sie von ihm getrennt, und Par war wieder allein.

Ein Gedanke führte zum nächsten, und obwohl er damit begonnen hatte, über Padishar und den Jut zu sprechen, stellte er jetzt fest, daß er schließlich abgelenkt worden war und einmal mehr über das sprach, was ihn am meisten beschäftigte, über Par, seinen Freund, den er, wie er es empfand, wieder und wieder im Stich gelassen hatte. Er hatte Par versprochen, daß er bei ihm bleiben würde. Er hatte versprochen, als sein Beschützer mit ihm in den Norden zu kommen. Er hatte dieses Versprechen gebrochen, und er wünschte inständig, eine weitere Chance zu bekommen, nur eine einzige, um wiedergutzumachen, was er versäumt hatte.

Damson sprach auch von dem Talbewohner, und der Klang ihrer Stimme verriet ihre Gefühle deutlicher als alle Worte. Da war ein Flüstern ihres eigenen Gefühls des Verlustes, ihres eigenen Gefühls, versagt zu haben. Sie hatte sich für Padishar Creel anstatt für Par entschieden, und obwohl diese Wahl sicherlich gerechtfertigt war, bedeutete dieses Wissen für sie keinen Trost.

»Ich bin es leid, eine Wahl treffen zu müssen, Morgan Leah«, flüsterte sie ihm zum Schluß zu. Sie hatten eine Zeitlang nicht gesprochen, hatten sich in ihrem Versteck zurückgelegt und an warmem Wasser genippt, um ihre Körper vor dem Austrocknen zu bewahren. Ihre Hand vollführte eine hilflose Geste.

»Ich bin es leid, gezwungen zu werden, zu wählen oder ständig irgendwelche Entscheidungen zu treffen, die ich nicht treffen will, denn bei allem, was ich entscheide, weiß ich, daß ich jemanden verletzen werde.« Sie schüttelte den Kopf, und Kummerfalten zogen sich über ihre Stirn. »Ich bin ganz schlicht und einfach müde, Morgan, und ich weiß nicht, ob ich noch weitermachen kann.«

Ihre so lange unterdrückten Gedanken und Gefühle trieben ihr Tränen in die Augen. Er schüttelte den Kopf. »Ihr werdet weitermachen, weil Ihr es müßt, Damson. Das Schicksal der Menschen hängt davon ab, daß Ihr es tut. Ihr wißt das. Padishar jetzt. Par später.« Er richtete sich auf. »Macht Euch keine Sorgen, wir werden ihn finden, Ihr und ich. Wir werden nicht aufhören, bis wir es geschafft haben. Wir dürfen nicht vorher ermüden, nicht wahr?«

Er hatte das Gefühl, daß seine Worte herablassend klangen, und mochte das nicht. Aber sie nickte als Antwort, wischte sich die Tränen fort, und sie begannen erneut, auf Matty Roh zu warten.

Die Nacht brach herein, und sie war noch immer nicht zurückgekehrt. Schatten schlössen das Licht aus, und der Himmel verdunkelte sich schnell und füllte sich mit Sternen. Im Westen, weiter entfernt, als sie sehen konnten, kam die Unwetterfront stetig näher, und innerhalb der Mauern der Stadt begann die Luft mit ihrem Herannahen abzukühlen.

Damson erhob sich. »Ich kann nicht länger warten, Hochländer. Ich muß jetzt gehen, wenn ich den Maulwurf finden und dann noch Zeit haben soll, die Geächteten in die Stadt zu bringen.« Sie legte ihren Umhang um und band ihn fest. »Wartet hier auf Matty. Wenn sie kommt, findet so viel heraus, wie Ihr könnt, was uns helfen könnte.«

»Wenn sie kommt«, wiederholte Morgan. »Vorausgesetzt, sie kommt.«

Sie griff hinab und berührte ihn leicht an der Schulter. »Was auch immer geschieht, ich werde zu Euch zurückkommen, so schnell ich kann.«

Er nickte. »Viel Glück, Damson. Seid vorsichtig.«

Sie lächelte und verschwand über den dunklen Hof in die Schatten. Das Geräusch ihrer Schritte hallte auf dem Stein wider und wurde dann von der Stille aufgesogen.

Morgan saß allein in der Dunkelheit und lauschte darauf, wie die Geräusche der Stadt langsam leiser wurden und dann ganz erstarben. Über ihm zogen Wolken über die Sterne und begannen sie zu verhüllen. Die Nacht wurde dunkler, und eine seltsame Stille legte sich über die Klippe. Padishar, dachte er, halte durch, wir kommen. Irgendwie kommen wir.

Er versuchte zu schlafen und konnte es nicht. Er versuchte zu überlegen, was er tun könnte, aber alles hätte bedeutet, daß er sein Versteck hätte verlassen müssen, und wenn er dies tat, würde er wahrscheinlich nicht zurückgelangen. Er mußte warten. Befreiungspläne bevölkerten seinen Geist, aber sie waren so flüchtig wie Rauch, nährten sich aus reiner Spekulation und nicht aus Tatsachen und blieben daher nutzlos. Er hätte so gern das Schwert von Leah bei sich gehabt, um sich nicht so wehrlos zu fühlen. Er hätte gern bei seinen Versuchen, seinen Freunden zu helfen, eine bessere Wahl getroffen. Er wünschte sich in eine dunkle Ecke und war gezwungen, seine Wünsche aufzugeben, weil er fürchtete, daß sein Kummer ihn lahmen könnte.

Es war fast Mitternacht, als er das Schaben von Stiefeln auf dem Stein des Hofes hörte. Als er von seinem leichten Schlummer aufsah, stand Matty Roh plötzlich in dem verblassenden Sternenlicht vor ihm. Er richtete sich ruckartig auf, und sie bedeutete ihm, leise zu sein. Sie kam zu der Stelle herüber, wo er wartete, und setzte sich schwer atmend neben ihn.

»Ich bin die letzte Meile gerannt«, sagte sie. »Ich hatte Angst, Ihr wäret fort.«

»Nein.« Er wartete. »Seid Ihr in Ordnung?«

Sie sah ihn an, und ihr Blick zeigte Beunruhigung. »Damson?«

»Sie ist auf die Suche nach dem Maulwurf gegangen, und dann will sie Chandos und die anderen durch die Tunnel hereinbringen. Sie wird uns in der Dämmerung hier wieder treffen.«

Mattys Lächeln war angstvoll und suchend. »Ich bin froh, daß Ihr hier seid.«

Er lächelte zurück, aber das Lächeln schien falsch, und er ließ es fallen. »Was ist geschehen, Matty?«

»Ich habe ihn gefunden.«

Morgan atmete tief ein. »Erzählt es mir«, drängte er sanft, obwohl er spürte, daß man sie nicht zur Eile antreiben durfte. Ein Schweißfilm lag auf ihrer Haut, und sie hatte einen seltsamen Ausdruck in ihren Augen.

Sie beugte sich vor, so daß sich ihre Schultern berührten. Ihre jungenhaften, zarten Gesichtszüge waren angespannt, und da war eine Dringlichkeit, die so spürbar war wie das Licht. »Ich habe in den Schenken angefangen, habe beobachtet und zugehört. Ich habe leichte Bekanntschaften gemacht, Soldaten, einen untergeordneten Offizier. Ich habe aus ihnen herausgeholt, was ich konnte, und bin dann weitergegangen. Padishars Name wurde erwähnt, aber nur nebenbei, in Verbindung mit der Hinrichtung. Die Nacht brach herein, und ich hatte noch immer nicht erfahren, wo sie ihn gefangenhalten.«

Sie schluckte, griff nach dem Wassergefäß, goß einen Becher daraus ein und trank in tiefen Zügen. Er konnte die Kraft in ihrem schlanken Körper spüren, als sie den seinen berührte.

Sie wandte sich wieder um. »Ich war sicher, daß sie ihn irgendwo gefangenhalten, wo niemand gern hingeht. Der Wachturm war ein Trick, wo sonst konnte er also sein? Es gibt Gefängnisse, aber von dort würde etwas durchdringen. Es mußte an einem Ort sein, den niemand gern aufsucht.«

Morgan wurde blaß. »Die Grube.«

Sie nickte. »Ja.« Sie hielt ihren Blick auf ihn gerichtet. »Ich bin zum Volkspark gegangen und habe das Wachhaus schwer bewacht vorgefunden. Warum war das wohl so, fragte ich mich. Ich wartete, bis ein Offizier herauskam, ein hochgestellter, einer, der etwas zu erzählen haben würde. Ich folgte ihm und setzte mich dann mit ihm zum Trinken hin. Ich ließ es dahin kommen, daß er mich davon überzeugen wollte, mit ihm an einen verschwiegenen Ort zu gehen. Als ich ihn allein hatte, legte ich ein Messer an seine Kehle und stellte ihm Fragen. Er wich aus, aber ich habe erreicht, daß er zugab, was ich bereits wußte: daß Padishar in seinen Zellen gefangengehalten wird.«

»Lebt er denn noch?«

»Er lebt, damit er öffentlich hingerichtet werden kann. Sie wollen vermeiden, daß hinterher Gerüchte die Runde machen, er habe entkommen können. Sie wollen, daß jedermann sieht, wie er stirbt.«

Sie sahen einander in der Dunkelheit an. Die Grube, dachte Morgan mit einem Gefühl der Übelkeit im Magen. Er hatte gehofft, niemals wieder dorthin zurückkehren zu müssen, niemals wieder auch nur in ihre Nähe kommen zu müssen. Er dachte an die Wesen, die dort lebten, die Ausgeburten der Schattenwesen, die Monster, die von der Barriere der Magie festgehalten wurden. Sie hatten das Schwert von Leah zerstört...

Er schob den Gedanken beiseite. Die Grube. Zumindest wußte er, was ihm bevorstand. Mit diesem Wissen konnte er einen Plan ersinnen.

»Habt Ihr sonst noch etwas erfahren?« fragte er leise.

Sie schüttelte den Kopf. Er konnte den Pulsschlag an ihrer Kehle sehen, den schwarzen Helm ihres Haars als Umrahmung ihres zarten Gesichts erkennen.

»Und der Offizier?«

Ein langes Schweigen entstand, während sie ihm in die Augen blickte und etwas jenseits und weit entfernt ansah. Dann schenkte sie ihm ein leeres Lächeln.

»Als ich mit ihm fertig war, habe ich ihm die Kehle durchschnitten.«

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