Beim Essen erklärte Morgan Leah Damson Rhee und Chandos seinen Plan, wie sie Padishar Creel retten konnten. Er nahm sie zu einer Stelle beiseite, wo sie nicht gehört werden konnten, saß auf der breiten Klippe essend und trinkend mit ihnen zusammen, lauschte mit ihnen auf die Nachtgeräusche und beobachtete, wie die Sterne am Himmel heller wurden, während sie miteinander sprachen. Er bat zunächst Damson, noch einmal die Einzelheiten ihrer Flucht aus der Stadt zu erzählen, ließ sie die Geschichte so erzählen, wie sie es wollte, schaute zwischen dem Mädchen und dem grimmigen Gesicht des Geächteten hin und her. Als sie ihre Geschichte beendet hatte, stellte er seinen geleerten Teller beiseite – er hatte alles verspeist, während sie gesprochen hatte – und beugte sich eifrig vor.
»Sie werden einen Befreiungsversuch erwarten«, erklärte er leise und sah sie beide abwechselnd an. »Sie wissen, daß wir ihn nicht einfach aufgeben werden. Sie wissen, wie wichtig er uns ist. Aber sie werden nicht erwarten, daß wir wieder auf demselben Weg kommen. Sie erwarten sicher, daß wir uns dieses Mal auf andere Art nähern – eine bedeutendere Bemühung, mit vielleicht einer großen Anzahl von Männern, eine Art Ablenkung, die vielleicht zu einem allumfassenden Angriff führt. Sie werden erwarten, daß wir versuchen, sie in einem Moment der Unaufmerksamkeit zu erwischen. Also müssen wir ihnen, bevor sie erkennen, was sie sehen, etwas anderes geben, als sie erwarten.«
Chandos schnaubte. »Ist das dein Ernst, Hochländer?«
Morgan erlaubte sich ein schnelles Grinsen. »Vor allem müssen wir schnell hinein- und wieder herausgelangen. Je länger es dauert, desto gefährlicher wird es. Vertrau mir, Chandos. Ich möchte nur, daß ihr den Hintergrund für das, was ich vorschlagen möchte, versteht. Wir müssen ihre Gedanken nachvollziehen, um ihren Plan, uns in die Falle zu locken, vorausahnen zu können und dann einen Weg zu finden, ihn zu vereiteln.«
»Du bist also sicher, daß es eine Falle geben wird?« fragte der große Mann und rieb sein bärtiges Kinn. »Warum sollten sie Padishar nicht einfach beseitigen und es damit gut sein lassen? Oder warum sollten sie ihm nicht das antun, was sie Hirehone angetan haben?« Er schaute schnell zu Damson, die die Lippen zusammenpreßte.
Morgan legte eine Hand auf die breite Schulter des anderen. »Ich kann mir in keinem Punkt sicher sein. Aber denke einen Moment darüber nach. Wenn sie Padishar beseitigen, verlieren sie jede Möglichkeit, uns andere zu erwischen. Und sie wollen uns alle, Chandos. Sie wollen alle Geächteten auslöschen.« Er sah Damson an. »Möglicherweise werden sie Padishar auf dieselbe Weise benutzen, wie sie Hirehone benutzt haben. Aber sie werden es nicht sofort tun. Erstens wissen sie, daß wir damit rechnen. Wenn Padishar zurückkommt, was werden wir uns dann als erstes fragen? Ist es wirklich Padishar – oder ist er ein weiteres Schattenwesen? Zweitens wissen sie, daß wir eine Möglichkeit gefunden haben, die Wahrheit über Teel herauszufinden. Und sie wissen, daß wir es bei Padishar vielleicht wieder könnten. Drittens, und das ist der wichtigste Punkt, können wir die Magie gebrauchen, und die wollen sie. Felsen-Dall hat Par Ohmsford von Anfang an gejagt, und das muß etwas mit seiner Magie zu tun haben. Dasselbe gilt für Walker Boh. Und für mich.«
Er beugte sich vor. »Sie werden versuchen, Padishar dazu zu benutzen, uns zu ihnen zu bringen, denn sie wissen, daß wir keinen Befreiungsversuch unternehmen werden, ohne die Magie mit uns zu nehmen, daß wir ihre nicht herausfordern werden, ohne in der Lage zu sein, unsere eigene anzurufen. Sie wollen diese Magie – genau wie sie alle Magie wollen –, und dies ist ihre beste Chance, sie zu bekommen.«
Chandos runzelte die Stirn. »Also glaubst du, daß wir es in Wahrheit mit den Schattenwesen zu tun haben werden?«
Morgan nickte. »Es waren von Anfang an die Schattenwesen. Teel, Hirehone, der Kriecher, Felsen-Dall, der Gnarl, das kleine Mädchen, dem Par am Tofferkamm begegnet ist – überall, wo wir hingegangen sind, haben die Schattenwesen bereits gewartet. Sie kontrollieren die Föderation und auch das Bündniskonzil. Sie müssen das tun. Natürlich sind es die Schattenwesen, mit denen wir es zu tun haben werden.«
»Erklärt uns Euren Plan«, drängte Damson leise.
Morgan lehnte sich erneut zurück und verschränkte bequem seine Arme. »Wir gehen durch die Tunnel zurück nach Tyrsis – auf demselben Weg, auf dem Damson entkommen ist. Wir ziehen Föderationsuniformen an, genau wie Padishar es in der Grube gemacht hat. Wir gehen in die Stadt hinauf, zum Wachturm oder zu den Gefängnissen oder wo immer Padishar gefangengehalten wird. Wir spazieren im hellen Tageslicht hinein und befreien ihn. Wir gehen auf einem Weg hinein und auf einem anderen wieder hinaus. Vor allem aber werden wir das alles innerhalb weniger Minuten tun.«
Chandos und Damson starrten ihn beide an. »Das ist alles? Das ist der ganze Plan?« fragte Chandos.
»Einen Moment«, unterbrach Damson ihn. »Morgan, wie gelangen wir zurück in die Tunnel? Ich kann mir den Weg sicher nicht merken.«
»Nein, das könnt Ihr nicht«, stimmte Morgan zu. »Aber der Maulwurf kann es.« Er atmete tief ein. »Dieser Plan hängt weitgehend von ihm ab. Und davon, daß Ihr ihn dazu überreden könnt, uns zu helfen.« Er hielt inne und sah in ihre grünen Augen. »Ihr werdet in die Stadt zurückgehen und versuchen müssen, ihn zu finden, und dann durch die Katakomben herabkommen müssen, um uns hineinzuführen. Ihr werdet herausfinden müssen, wo Padishar gefangengehalten wird, so daß wir direkt zu ihm gehen können. Der Maulwurf kennt alle geheimen Gänge und alle Tunnel, die unter dem Zentrum von Tyrsis liegen. Er kann einen Weg für uns finden. Wenn wir einfach an ihrer Tür erscheinen, werden sie keine Zeit haben, uns aufzuhalten. Das ist unsere beste Chance – das zu tun, was sie von uns erwarten, aber nicht auf die Art, wie sie es erwarten.«
Chandos schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, Hochländer. Sie kennen Damson, sie werden nach ihr suchen.«
Morgan nickte. »Aber sie ist die einzige, der der Maulwurf vertrauen wird. Sie muß zuerst hineingehen. Durch die Tore. Ich werde mit ihr gehen.« Er sah sie an. »Was meint Ihr, Damson Rhee?«
»Ich denke, ich kann es tun«, erklärte sie ruhig. »Und der Maulwurf wird uns helfen – wenn sie ihn noch nicht erwischt haben.« Sie runzelte zweifelnd die Stirn. »Sie werden bestimmt dort unten in denselben Tunneln nach ihm suchen, durch die wir eindringen wollen.«
»Aber er kennt sie besser als die Soldaten ihn«, sagte Morgan. »Sie versuchen jetzt schon seit Wochen, ihn zu fangen, und es ist ihnen noch nicht gelungen. Wir brauchen nur einige weitere Tage.« Er sah das Mädchen und den großen Mann abwechselnd an. »Es ist die beste Chance, die wir bekommen werden. Wir müssen es versuchen.«
Chandos schüttelte erneut den Kopf. »Wie viele von uns werden dafür nötig sein?«
»Zwei Dutzend, nicht mehr.«
Chandos sah ihn mit großen Augen an. »Zwei Dutzend! Hochländer, es sind fünftausend Föderationssoldaten in Tyrsis stationiert, und wer weiß, wie viele Schattenwesen dort sind! Zwei Dutzend Männer werden keine Chance haben!«
»So werden wir eine bessere Chance haben als mit zweihundert Männern – oder mit zweitausend, wenn wir so viele auftreiben könnten, was wir ohnehin nicht können, nicht wahr?« Der große Mann preßte abwehrend die Lippen zusammen. »Chandos, je kleiner die Gruppe ist, desto besser können wir uns verbergen. Sie werden nach etwas Größerem Ausschau halten, sie werden es erwarten. Aber zwei Dutzend Männer? Wir können sie angreifen, bevor sie erkennen, wer wir sind. Wir können bedeutend leichter zwei Dutzend Männer unter fünftausend verbergen als zweihundert. Wir brauchen nur zwei Dutzend, wenn wir nur nahe genug herankommen.«
»Er hat recht«, sagte Damson plötzlich. »Eine große Streitmacht muß in den Tunneln gehört werden. Es gibt keine Möglichkeit für sie, sich in der Stadt zu verbergen. Zwei Dutzend können wir hineinschleusen und bis zu dem Befreiungsversuch verstecken.« Sie sah Morgan offen an. »Aber ich weiß nicht, ob zwei Dutzend Männer ausreichen werden, um Padishar zu befreien, wenn es soweit ist.«
Morgan begegnete ihrem Blick. »Wegen der Schattenwesen?«
»Ja, wegen der Schattenwesen. Dieses Mal haben wir Par nicht bei uns, der sie in Schach halten konnte.«
»Nein«, stimmte Morgan zu. »Dafür habt Ihr mich.« Er griff auf seinen Rücken, zog das Schwert von Leah hervor, hielt es vor sich und rammte es dann demonstrativ in die Erde. Dort blieb es stecken, zitterte leicht, und seine polierte Oberfläche glänzte glatt und silbern im Sternenlicht. Er sah sie an. »Und ich habe dies.«
»Dein Talisman«, murmelte Chandos überrascht. »Ich dachte, es sei zerbrochen.«
»Es wurde wieder ein Ganzes, als ich in den Norden zog«, erwiderte Morgan weich, sah Quickenings Gesicht in seinem Geist auftauchen und dann wieder verblassen. »Ich habe die Magie wiedererlangt. Sie wird ausreichen, um den Schattenwesen zu widerstehen.«
Damson schaute verwirrt von einem Gesicht zum anderen. Vielleicht hatte Par ihr nichts von dem Schwert von Leah erzählt. Vielleicht hatte er während ihrer Bemühungen, Tyrsis zu entkommen und die Geächteten zu erreichen, keine Zeit dazu gehabt. Und von Quickening wußte niemand etwas. Außer Walker Boh.
Morgan kam nicht auf den Gedanken, daß er eine Erklärung abgeben mußte und er versuchte es auch nicht. »Kannst du die Männer auswählen?« fragte er Chandos statt dessen.
Die schwarzen Augen fixierten ihn. »Das kann ich, Hochländer. Zwanzigmal für Padishar Creel.« Er hielt inne. »Aber du wirst sie bitten müssen, viel Vertrauen in dich zu setzen.«
Morgan riß sein Schwert aus der Erde und ließ es wieder in die Scheide gleiten. In der Ferne patrouillierten Geächtete in der Dunkelheit am Rande der Klippe entlang. Weit dahinter brannten niedrige Herdfeuer vor den Bäumen, und das Klirren und Klappern von Kochgeschirr begann schwächer zu werden, als die Mahlzeit dem Ende zuging und sich die Gedanken dem Schlaf zuwandten. Pfeifen wurden entzündet und malten kleine Flecke Licht vor der Dunkelheit wie Glühwürmchen, die in der Verborgenheit der Bäume zitterten. Die Stimmen klangen leise und unbeschwert.
Morgan sah den großen Mann an. »Wenn es eine bessere Möglichkeit gäbe, Chandos, dann würde ich sie dankbar ergreifen.« Er hielt dem düsteren Blick des anderen stand. »Wie wirst du dich entscheiden, dafür oder dagegen?«
Chandos sah Damson an, und sein goldener Ohrring warf ein Glitzern über sie, als er den Kopf wandte. »Was meint Ihr?«
Die Frau strich ihr feuerrotes Haar zurück. Sie hatte einen entschlossenen Ausdruck in den Augen, eine Mischung von aufflammender Verärgerung und Hoffnung. »Ich denke, wir müssen etwas versuchen, oder Padishar ist verloren.« Ihr Gesicht verkrampfte sich. »Wenn wir an seiner Stelle wären, würde er dann nicht auch kommen?«
Chandos rieb die vernarbten Überreste seines Ohrs. »In Eurem Fall hat er das bereits getan, nicht wahr?« Er schüttelte den Kopf. »Narren bis zum Ende sind wir«, murmelte er, an niemanden im besonderen gewandt. »Wir alle.« Er sah wieder Morgan an. »In Ordnung, Hochländer. Zwei Dutzend Männer, mich selbst eingeschlossen. Ich werde sie heute nacht auswählen.«
Er erhob sich abrupt. »Du wirst sofort aufbrechen wollen, vermute ich. Beim ersten Licht oder so bald danach, wie wir Vorräte für die Reise zusammenstellen können.« Er sah Morgan verzerrt an. »Wir müssen das Land auf keinen Fall verlassen, nicht wahr, Hochländer?«
Morgan und Damson erhoben sich mit ihm. Morgan streckte dem Geächteten seine Hand hin. »Ich danke dir, Chandos.«
Der große Mann lachte. »Wofür? Dafür, daß ich dem Plan eines Wahnsinnigen zugestimmt habe?« Er ergriff Morgans Hand dennoch. »Ich sage dir etwas. Wenn das funktioniert, dann werde ich es sein, der dir ein Dutzend Male dankt.«
Brummend schlenderte er zu den Herdfeuern hinüber, trug seinen leeren Teller mit sich, den struppigen Kopf auf die wuchtige Brust gesenkt. Morgan sah ihm nach. Einen Moment dachte er an vergangene Zeiten und an die Orte und Gefährten, die er zurückgelassen hatte. Die Gedanken waren quälend und erfüllt von Bedauern wegen dem, was hätte sein können, und ließen ihn mit einem leeren Gefühl zurück.
Er spürte, wie Damsons Schulter seinen Arm streifte und wandte sich zu ihr um. Die smaragdgrünen Augen zeigten einen nachdenklichen Ausdruck. »Vielleicht hat er mit seiner Bemerkung über Euch recht«, bemerkte sie leise. »Vielleicht seid Ihr wirklich ein Wahnsinniger.«
Morgan zuckte die Achseln. »Ihr habt mich unterstützt.«
»Ich möchte, daß Padishar freikommt. Ihr scheint der einzige zu sein, der einen Plan hat.« Sie zog eine Augenbraue hoch. »Sagt mir die Wahrheit – ist an diesem Plan mehr, als Ihr gesagt habt?«
Er lächelte. »Nicht viel mehr. Ich hoffe, daß es mir gelingt, zu improvisieren, während ich vorangehe.«
Sie sagte nichts, betrachtete ihn nur einen Moment lang, nahm dann seinen Arm und dirigierte ihn am Rand der Klippe entlang. Sie gingen lange Zeit schweigend weiter, kreuzten vom Rand der Bäume zu den Klippen und wieder zurück und atmeten den Duft der Wildblumen und Gräser in dem Wind, der von den Graten und Berggipfeln dahinter herabfegte. Der Wind war warm und tröstlich und streichelte wie Seide über Morgans Haut. Er hob ihm sein Gesicht entgegen. Er hatte das Bedürfnis, die Augen zu schließen und in ihn hinein zu verschwinden.
»Erzählt mir von Eurem Schwert«, sagte sie plötzlich. Ihre Stimme war sehr ruhig. Ihr Blick blieb fest, obwohl er seinen Blick abrupt von ihr abgewandt hatte. »Erzählt mir, wie es wieder zu einem Ganzen wurde – und warum Ihr so sehr leidet, Morgan. Denn das tut Ihr auf irgendeine Weise, nicht wahr? Ich kann es in Euren Augen sehen. Erzählt es mir. Ich möchte es hören.«
Er glaubte ihr, und er entdeckte plötzlich, daß er darüber sprechen wollte. Er ließ sich von ihr auf einen Fels mit flacher Oberfläche herabziehen. Während sie beide von den Klippen hinausschauten, begann er neben ihr in der Dunkelheit zu sprechen.
»Es gab ein Mädchen namens Quickening«, sagte er, und die Worte kamen mühsam und unbeholfen, als er sie aussprach. Er hielt inne und atmete tief durch, um sich zu beruhigen. »Ich habe sie sehr geliebt.«
Er hoffte, daß sie die Tränen nicht sah, die ihm in die Augen traten.
Er verbrachte die Nacht in eine Decke eingerollt am Rande der Bäume, den Körper zwischen die Wurzeln einer uralten Ulme gezwängt, den Kopf auf seinen zusammengerollten Reiseumhang gebettet. Sein Behelfsbett erwies sich als wenig zufriedenstellend, und er erwachte steif und wund. Während er die Blätter und den Staub aus seinem Umhang herausschüttelte, fiel ihm auf, daß er Matty Roh seit der vergangenen Nacht nicht mehr gesehen hatte, daß er sie tatsächlich nicht einmal beim Essen gesehen hatte. Allerdings war er zu dem Zeitpunkt bereits ziemlich mit seinem Plan zur Befreiung von Padishar beschäftigt gewesen – seinem großen und wundervollen Plan, der ihm nach einigem Nachdenken im schwachen ersten Licht der Dämmerung recht behelfsmäßig und entschieden unvernünftig vorkam. In der letzten Nacht hatte er ziemlich gut geklungen, heute morgen dagegen erschien er wenig vertrauenerweckend zu sein.
Aber er war jetzt daran gebunden. Chandos hatte sicher bereits mit den Vorbereitungen für die Rückreise nach Tyrsis begonnen. Es war nichts dabei zu gewinnen, wenn er weitere Überlegungen anstellte.
Er streckte sich und eilte auf den kleinen Wasserlauf zu, der in einiger Entfernung unter den Bäumen hinter ihm aus den Felsen herablief. Das kalte Wasser würde ihm helfen, sein Gehirn zu befreien und den Schlaf aus seinen Augen zu vertreiben. Er hatte bis weit nach Mitternacht mit Damson Rhee gesprochen. Er hatte ihr alles über Quickening und die Reise nach Norden, nach Eldwist, erzählt. Sie hatte zugehört, ohne viel dazu zu sagen, und irgendwie hatte sie das einander nähergebracht. Er stellte fest, daß er sie jetzt mehr mochte und ihr vertraute. Das Mißtrauen, das zuvor dagewesen war, war verflogen. Er begann zu verstehen, warum Par Ohmsford und Padishar Creel zu ihr zurückgekehrt waren, nachdem die Föderation sie gefangengenommen hatte. Er dachte, daß er dasselbe getan hätte.
Dennoch gab es etwas in der Beziehung zu dem Talbewohner und dem Anführer der Geächteten, was sie ihm nicht erzählt hatte. Es war keine Täuschung und auch keine Lüge, es war einfach ein Versäumnis. Sie hatte ziemlich schnell eingestanden, daß sie Par liebte, aber da war noch etwas anderes, etwas, was ihren Gefühlen für den Talbewohner vorangegangen war, was den Hintergrund für all das bildete, was dazu geführt hatte, daß sie sich an dem Versuch, das Schwert von Shannara aus der Grube zurückzuerlangen, beteiligt hatte. Morgan war nicht sicher, was es war, aber es war in dem Gewebe ihrer Erzählung vorhanden, in der Art, wie sie von den beiden Männern sprach, in der Kraft ihrer Überzeugung, ihnen helfen zu müssen. Ein- oder zweimal glaubte Morgan fast erkennen zu können, was es war, was sie für sich behielt, aber jedes Mal war die Wahrheit ihm wieder entglitten.
Auf jeden Fall fühlte er sich besser, nachdem er jetzt jemandem von Quickening erzählt hatte, nachdem er die Gefühle, die er seit seiner Rückkehr in sich verschlossen gehalten hatte, ein wenig freigelassen hatte. Er hatte danach gut geschlafen, denn eine traumlose Ruhe hatte ihn erfüllt, und er hatte sich in der Krümmung jenes alten Baumes geborgen gefühlt und war in der Lage gewesen, ein wenig von jenem Schmerz loszulassen, der ihn so viele Wochen lang verfolgt hatte.
Er hörte das Geräusch des Wasserlaufs vor sich. Ein leises Wogen vor der Stille. Er überquerte eine Lichtung, drang durch eine Wand aus Gestrüpp hindurch und sah plötzlich auf Matty Roh hinab.
Sie saß ihm gegenüber am Ufer des Wasserlaufs, ihre Hosen hochgerollt und die bloßen Füße im Wasser baumelnd. Im selben Moment, in dem er erschien, schrak sie zurück und griff nach ihren Stiefeln. Ihre Füße kamen wie ein Blitz weißer Haut aus dem Wasser hervor und verschwanden fast augenblicklich im Schatten ihres Körpers. Aber einen kleinen Moment lang hatte er sie deutlich gesehen. Sie waren schrecklich vernarbt, und die Zehen fehlten oder waren so stark verunstaltet, daß sie fast nicht zu erkennen waren. Ihr schwarzes Haar erschauerte durch die Heftigkeit ihrer Bewegungen im Licht, als sie ihr Gesicht von ihm abwandte.
»Seht mich nicht an«, flüsterte sie barsch.
Verlegen wandte er sich sofort ab. »Es tut mir leid«, entschuldigte er sich. »Ich wußte nicht, daß Ihr hier seid.«
Er zögerte, ging dann fort und folgte dem Wasserlauf auf die Felsen zu. Das Bild ihrer Füße blieb ihm unbehaglich klar im Geist.
»Ihr müßt nicht fortgehen«, rief sie ihm nach, und er blieb stehen. »Ich... ich brauche nur eine Minute.«
Er wartete, schaute hinaus in die Bäume, hörte jetzt Stimmen hinter sich erschallen, ein kurzes Auflachen hier, ein schnelles Murmeln dort.
»In Ordnung«, sagte sie, und er wandte sich wieder um. Sie stand an dem Wasserlauf, die Hosen hinuntergerollt und die Stiefel angezogen. »Es tut mir leid, daß ich Euch so angefahren habe.«
Er zuckte die Achseln und ging zu ihr hinüber. »Entschuldigt, wollte Euch nicht überraschen. Ich bin noch immer nicht ganz wach, vermute ich.«
»Es war nicht Euer Fehler.« Sie wirkte ebenfalls verlegen.
Er kniete sich neben dem Wasserlauf hin, spritzte sich Wasser auf Gesicht und Hände, benutzte Seife, um sich zu waschen und trocknete sich dann mit einem weichen Tuch ab. Er hätte ein Bad gebrauchen können, aber er wollte sich die Zeit nicht nehmen. Er war sich bewußt, daß das Mädchen ihn beobachtete, während er sich wusch. Sie wartete wie ein schweigender Schatten an seiner Seite.
Er beendete seine Waschung und blieb auf den Fersen hocken und atmete tief die Morgenluft ein. Er konnte Wildblumen und Gräser riechen.
»Ihr brecht nach Tyrsis auf, um Padishar zu befreien«, sagte sie plötzlich. »Ich möchte mit Euch gehen.«
Er schaute überrascht zu ihr auf. »Woher wißt Ihr etwas von der Befreiungsaktion?«
Sie zuckte die Achseln. »Dadurch daß ich getan habe, worin ich geübt bin – meine Augen und Ohren offenzuhalten. Kann ich mitkommen?«
Er stand auf und sah sie an. Ihre Augen befanden sich auf gleicher Höhe mit seinen. Er war wieder einmal überrascht, wie groß sie war. »Warum solltet Ihr das tun wollen?«
»Weil ich es leid bin, nur herumzustehen und nichts zu tun, als die Gespräche anderer Leute zu belauschen.« Ihr Blick war fest und entschlossen. »Erinnert Ihr Euch an unsere Unterhaltung auf dem Weg hierher? Ich sagte, ich warte darauf, daß etwas geschieht. Nun, es ist etwas geschehen. Und ich möchte mit Euch gehen.«
Er war nicht sicher, ob er sie verstanden hatte und wußte nicht, was er sagen sollte. Es war schlimm genug, daß Damson Rhee mit ihnen zurückgehen mußte. Aber auch Matty Roh? Auf eine so gefährliche Reise, wie diese zweifellos werden würde?
Sie trat einen Schritt zurück und musterte ihn. »Ich würde es hassen, denken zu müssen, daß Ihr dumm genug seid, Euch um mich Sorgen zu machen«, sagte sie geradeheraus. »Tatsache ist, daß ich weitaus besser auf mich selbst aufpassen kann als Ihr auf Euch. Ich tue das schon seit sehr viel längerer Zeit. Ihr erinnert Euch vielleicht daran, was im Whistledown geschah, als Ihr versucht habt, mich anzufassen.«
»Das zählt nicht!« fauchte er abwehrend. »Ich war nicht vorbereitet...«
»Nein, das wart Ihr nicht«, unterbrach sie ihn. »Und das ist der Unterschied zwischen uns, Hochländer. Ihr seid nicht darin geübt, vorbereitet zu sein, aber ich bin es.« Sie trat wieder nah an ihn heran. »Ich werde Euch noch etwas sagen. Ich bin ein besserer Schwertkämpfer als jeder andere auf der Seite von Padishar Creel – und vielleicht genauso gut wie er. Wenn Ihr mir nicht glaubt, dann fragt Chandos.«
Er sah sie an, schaute in durchdringende, kobaltblaue Augen, betrachtete die dünne Linie ihrer Lippen, die schlanken, eckigen Schultern. Sie hatte ihren Kopf kampflustig vorgereckt, um ihn dazu zu ermutigen, sie herauszufordern.
»Ich glaube Euch«, sagte er und meinte es auch so.
»Außerdem«, sagte sie, wobei sie sich nicht im geringsten entspannte, »braucht Ihr mich, um Euren Plan in die Tat umzusetzen.«
»Woher wißt Ihr von...«
»Ihr seid der Falsche, um mit Damson nach Tyrsis hineinzugehen«, unterbrach sie ihn und ignorierte seine Frage. »Ich sollte das tun.«
»...dem Plan?« beendete er seine Frage und brach dann ab. Er stemmte frustriert die Hände in die Hüften. »Warum solltet Ihr das tun?«
»Weil man mich nicht beachten wird, aber Euch schon. Ihr seid zu auffällig, Hochländer. Ihr seht genau nach dem aus, was Ihr seid! Auf jeden Fall ist Euer Gesicht der Föderation bekannt und meines nicht. Und wenn etwas schiefgeht, kennt Ihr nicht den Weg um Tyrsis herum, aber ich kenne ihn. Und am wichtigsten von allem ist, daß sie nicht nach zwei Frauen Ausschau halten werden. Wir können direkt an ihnen vorbeigehen, und sie werden uns keinen zweiten Blick schenken.«
Sie pflanzte sich erneut vor ihm auf. »Sagt mir, daß ich unrecht habe«, forderte sie ihn heraus.
Er lächelte wider Willen. »Ich schätze, das kann ich nicht.« Er schaute von ihr fort in das Laub der Bäume und hoffte, daß die Antwort auf ihre Forderung dort zu finden wäre. Sie war es nicht. Er sah sie wieder an. »Warum fragt Ihr nicht Chandos? Er regelt das, nicht ich.«
Ihr Gesichtsausdruck änderte sich nicht. »Das glaube ich nicht. Zumindest nicht in diesem Fall.« Sie hielt inne und wartete ab. »Nun? Kann ich mitkommen?«
Er seufzte und fühlte sich plötzlich erschöpft. Vielleicht hatte sie recht. Vielleicht war es eine gute Idee, wenn sie mitkam. Sie hatte sicherlich überzeugende Argumente. Außerdem, hatte er sich nicht selbst gerade erst gesagt, daß für seinen Plan Hilfe notwendig wäre? Vielleicht war Matty Roh ein wenig von dem, was nötig war.
»In Ordnung«, stimmte er zu. »Ihr könnt mitkommen.«
»Danke.« Sie wandte sich ab und ging zurück zum Lager, den Umhang über eine Schulter geschlungen.
»Aber Chandos muß auch zustimmen!« rief er ihr hinterher, noch immer nach einem Ausweg suchend.
»Das hat er bereits!« rief sie als Antwort zurück. »Er sagte, ich sollte Euch fragen.«
Sie lächelte ihm schnell über die Schulter hinweg zu, während sie zwischen den Bäumen verschwand.
Chandos war beim Frühstück kurz angebunden und in sich gekehrt, und Morgan ließ ihn in Ruhe und zog es statt dessen vor, sich zu Damson Rhee zu setzen. Der lange Tisch, den sie besetzt hielten, war stark belagert, und die Männer waren laut, so daß der Hochländer und das Mädchen nicht viel miteinander sprachen, sondern sich auf ihre Mahlzeit und die Gespräche um sie herum konzentrierten. Matty Roh erschien ganz kurz. Sie ging auf ihrem Weg zu einem anderen Platz nah an Morgan vorbei, ohne ihn anzusehen. Nur einen Augenblick hielt sie inne, um Chandos etwas zu sagen, was ihn dazu veranlaßte, mürrisch die Stirn zu runzeln. Morgan hatte nicht gehört, was sie gesagt hatte, aber es fiel ihm nicht schwer, sich vorzustellen, was es gewesen sein konnte.
Als die Mahlzeit beendet war, stand Chandos auf, brüllte jedermann, der noch am Tisch saß an, alle sollten sich zur Arbeit begeben, und rief Damson und Morgan beiseite. Er führte sie aus den Bäumen heraus und erneut auf die weite Klippe hinauf und wartete, bis sie außer Hörweite waren, bevor er sprach. Mit finsterem Gesicht verkündete er ihnen mürrisch, daß über das Netzwerk der Geächteten während der Nacht die Nachricht eingetroffen war, daß die Elfen ins Westland zurückgekehrt wären. Diese Neuigkeit war mehrere Tage alt und nicht absolut zuverlässig, und daher wollte er wissen, wie Morgan und das Mädchen darüber dachten.
»Ich halte es für möglich«, sagte Morgan sofort. »Es war eine der Aufgaben, die den Ohmsfords übertragen worden waren, die Elfen ins Westland zurückzubringen.«
»Wenn Paranor zurückgekehrt ist, könnten auch die Elfen zurückgekehrt sein«, stimmte Damson zu.
»Und das würde bedeuten, daß alle Aufgaben erfüllt worden sind«, fügte Morgan hinzu, dessen Erregung wuchs. »Chandos, wir müssen herausfinden, ob das wahr ist.«
Der große Mann runzelte erneut die Stirn. »Du willst also noch eine weitere Reise unternehmen – als wenn eine nicht genug wäre!« Er seufzte müde. »In Ordnung, ich werde jemanden hinausschicken, um das zu überprüfen, einen Boten, der sie wissen lassen wird, daß sie in Callahorn Freunde haben. Wenn sie dort sind, werden wir sie finden.«
Er fuhr fort, indem er noch hinzufügte, daß er die Männer für die Reise nach Tyrsis ausgewählt hatte, und daß auch die Vorräte und Waffen zusammengestellt seien. Alles werde am frühen Vormittag bereit sein, und dann würden sie aufbrechen können.
Als er sich zum Gehen wandte, fragte Morgan impulsiv: »Chandos, was hältst du von Matty Roh?«
»Was ich von ihr halte?« Der große Mann lachte. »Ich denke, sie bekommt so ziemlich alles, was sie will.« Er ging weiter und rief dann über die Schulter zurück: »Ich glaube, du solltest bei ihr Vorsicht walten lassen, Hochländer.«
Er ging wieder weiter, verschwand zwischen den Bäumen und rief anderen beim Gehen Befehle zu.
Damson sah Morgan an. »Was sollte das alles?«
Morgan erzählte ihr von seinem Treffen mit Matty in Varfleet und von ihrer Reise zum Firerim Reach. Er erzählte ihr von der Beharrlichkeit des Mädchens, an dem Rettungsversuch für Padishar beteiligt zu werden. Er fragte Damson, ob sie etwas über Matty Roh wüßte. Damson wußte nichts. Sie war ihr niemals zuvor begegnet.
»Aber Matty hat recht, wenn sie sagt, daß zwei Frauen weniger Aufmerksamkeit auf sich ziehen«, erklärte sie. »Und wenn es ihr gelungen ist, sowohl Euch als auch Chandos davon zu Überzügen, daß sie uns auf dieser Reise begleitet, dann solltet Ihr beide Euch besser vor ihr in acht nehmen.«
Morgan ging, um seine Sachen für die Reise nach Süden zu packen, band sich seine Waffen um und ging wieder auf die Klippe hinaus. Innerhalb einer Stunde war die von Chandos ausgewählte Gruppe versammelt und startbereit. Es war ein Haufen harter und fähig wirkender Männer, von denen einige am Jut Seite an Seite mit Padishar gegen den Kriecher gekämpft hatten. Einige erkannten Morgan und nickten ihm kameradschaftlich zu. Chandos sandte einen Mann voraus, um eventuelle Schwierigkeiten auszukundschaften, und führte dann den Rest, darunter auch Morgan und Damson und Matty Roh, vom Firerim Reach fort auf die Ebenen zu.
Sie marschierten den ganzen Tag lang, stiegen von den Drachenzähnen zum Rabb hinab, wandten sich dann nach Süden, um den Fluß zu überqueren und auf Varfleet zu weiterzuziehen. Sie gingen schnell voran, marschierten durch die Hitze unter einem Himmel, der klar und wolkenlos war, und die Sonne brannte als beständiges blendendes Licht herab und ließ die Luft über dem staubigen Grasland wie Wasser schimmern. Mittags machten sie Rast und aßen etwas. Sie rasteten erneut am späten Nachmittag, und bei Einbruch der Nacht hatten sie die Ebenen erreicht, die in das Tal von Shale hinaufführten. Eine Wache wurde aufgestellt, sie nahmen eine Mahlzeit und dann zog sich die Gruppe zum Schlafen zurück. Morgan war während des Tages mit Damson zusammen gewandert und errichtete sein Lager in dieser Nacht in ihrer Nähe. Obwohl sie das wahrscheinlich weder brauchte noch wollte, hatte er ihr gegenüber die Rolle des Beschützers angenommen und war entschlossen, wenigstens auf sie aufzupassen, wenn er im Moment schon nichts für Par oder Coll tun konnte.
Matty Roh war den größten Teil des Tages für sich geblieben, war abseits von allen anderen gegangen, hatte allein gegessen, als sie gerastet hatten und hatte es offenbar vorgezogen, sich auf sich selbst zu beschränken. Niemand schien überrascht darüber, daß sie mitging, niemand schien fragen zu wollen, warum sie da war. Mehrere Male überlegte Morgan, ob er sie ansprechen sollte, aber jedesmal, wenn er den Ausdruck auf ihrem Gesicht bemerkte und die Distanz, die sie freiwillig zwischen sich und den anderen geschaffen hatte, beschloß er, es nicht zu tun.
Um Mitternacht wachte er auf, da ihm seine Träume und das Vorgefühl dessen, was sie erwartete, keine Ruhe ließ. Er ging zum Rand des Hains hinab, in dem sie Schutz gesucht hatten, und schaute in den Himmel hinauf und über die Ebenen hinweg. Plötzlich erschien Matty Roh neben ihm. Leise wie ein Geist stand sie neben ihm, als wäre sie schon die ganze Zeit erwartet worden. Zusammen schauten sie über die leere Fläche des Rabb hinweg, betrachteten die Konturen des Landes im fahlen Sternenlicht und atmeten die schwindende Hitze des Tages in der abkühlenden Nacht.
»Das Land, in dem ich geboren wurde, sah aus wie dieses«, sagte sie nach einiger Zeit, und ihre Stimme klang weit entfernt. »Flaches, leeres Grasland. Ein wenig Wasser, viel Hitze. Jahreszeiten, die rauh und gleichzeitig wunderschön sein konnten.« Sie schüttelte den Kopf. »Nicht wie das Hochland, vermute ich.«
Er sagte nichts, sondern nickte nur. Ein flüchtiger Windhauch zerzauste ihr schwarzes Haar. Irgendwo in der Ferne heulte ein Wolf, doch sein Ruf verhallte unbeantwortet in der Stille.
»Ihr wißt nicht, was Ihr von mir halten sollt, nicht wahr?«
Er zuckte die Achseln. »Vermutlich nicht. Ihr seid eine ziemlich verwirrende Person.«
Ihr Antwortlächeln kam und ging in Sekundenschnelle. Ihre feinen Gesichtszüge waren überschattet, was ihr in dem schwachen Licht ein hageres Aussehen verlieh. Sie schien über etwas nachzudenken.
»Als ich fünf Jahre alt war«, sagte sie kurz darauf, »unmittelbar vor meinem sechsten Geburtstag, nicht lange nach dem Tod meiner Schwester, spielte ich mit meinem älteren Bruder draußen auf einem Feld in der Nähe des Hauses. Es war eine Weide, die in diesem Jahr brachgelegen hatte. Auf ihr grasten Milchkühe. Ich erinnere mich, daß ich eine der Kühe wie leblos auf der Seite liegen sah. Es sah irgendwie merkwürdig aus, und ich ging zu ihr, um nachzusehen, was da nicht stimmte. Die Kuh sah mich an, ihre Augen waren weit und starrend, und sie wirkte sehr verängstigt. Sie schien nicht einmal brüllen zu können. Sie lag im Sterben, halbwegs in und halbwegs außerhalb einer schlammigen Senkgrube, wie ich sie niemals zuvor gesehen hatte. Ihr Körper wurde zerfressen.«
Matty kreuzte ihre Arme über der Brust, als friere sie. »Ich weiß nicht, warum ich das tat, aber ich wollte sie näher betrachten. Ich ging direkt zu ihr und blieb nicht stehen, bis ich nur noch wenige Meter von ihr entfernt war. Ich hätte meinen Bruder rufen sollen, aber ich war klein und dachte nicht daran. Ich betrachtete die Kuh und fragte mich, was geschehen war. Und plötzlich spürte ich das Brennen unter meinen Fußsohlen. Ich schaute hinab und sah, daß ich in einer Art Schlamm stand, in den auch die Kuh hineingeraten war. Der Schlamm war mit grünlichen Linien und Blasen durchsetzt. Er hatte sich bereits durch meine Schuhe hindurchgefressen. Ich wandte mich um und rannte davon, jetzt schreiend und um Hilfe rufend. Ich lief so schnell wie ich konnte, aber der Schmerz war schneller. Er zog durch meine Füße. Ich erinnere mich, daß ich hinabschaute und sah, daß einige meiner Zehen fehlten.«
Sie erschauerte bei der Erinnerung. »Meine Mutter wusch mich, so gut es ging, aber es war zu spät. Die Hälfte meiner Zehen war fort, und meine Füße waren von Narben übersät und brannten, als seien sie angezündet worden. Ich bekam Fieber und blieb zwei Wochen im Bett. Sie dachten, ich würde sterben. Aber das tat ich nicht, ich blieb am Leben. Statt dessen starben sie. Sie alle.«
Ihr Lächeln war verbittert und ironisch. »Ich dachte nur, Ihr solltet das nach heute morgen wissen. Ich mag es nicht, wenn Leute sehen, was mit mir geschehen ist.« Sie sah ihn kurz an und wandte sich dann erneut ab. »Aber ich wollte, daß Ihr es versteht.«
Sie stand noch einen Moment länger bei ihm, sagte dann gute Nacht und verschwand wieder unter den Bäumen. Er sah lange Zeit hinter ihr her und dachte darüber nach, was sie ihm erzählt hatte. Und nachdem er zum Lager zurückgekehrt war und sich in seine Decke gewickelt hatte, konnte er lange nicht schlafen. Er konnte nicht aufhören, über Matty Roh nachzudenken.
In der Dämmerung brachen sie erneut auf. Sie waren nicht mehr als Schatten in dem schwachen grauen Licht, das langsam von Osten herankam. Der Tag war bewölkt, und gegen Mittag begann es zu regnen. Die Gruppe wanderte mühsam durch die bewaldete Hügellandschaft nördlich von Varfleet und dem Mermidon weiter und folgte der Linie der Drachenzähne nach Westen. Zweimal kam der Kundschafter zurück, um vor Föderationspatrouillen zu warnen, und sie waren gezwungen, in Deckung zu gehen, bis die Patrouillen vorbeigegangen waren. Das Land war grau und schimmerte feucht vom Regen, und sie begegneten niemandem. Morgan ging neben Matty Roh, er war ungebeten neben sie getreten und blieb den Tag über bei ihr. Sie versuchte nicht ihn abzuschrecken und verließ ihn auch nicht. Sie sprach wenig, aber sie schien sich in seiner Gegenwart wohlzufühlen. Als sie eine Pause einlegten, um etwas zu essen, teilte sie mit ihm das wenige Obst, das sie bei sich trug.
Bei Einbruch der Nacht hatten sie den Mermidon überquert und waren in Sichtweite von Tyrsis gelangt. Die Stadt leuchtete kalt von den Höhen der Klippe herab, während sie von der anderen Seite der Ebene, die sie umgab, zu ihr hinaufsahen. Es regnete weiterhin stetig und unaufhörlich, wodurch die staubige Erde in Schlamm verwandelt wurde. Damson und Matty Roh wollten erst gegen Morgen, wenn sie sich unter die üblichen Händler mischen konnten, die aus den umliegenden Dörfern den Tag über heraufkamen, versuchen, die Stadt zu betreten. Chandos schickte den Kundschafter voraus, damit er versuchte, etwas Nützliches von den Reisenden zu erfahren, die die Stadt verließen. Die restliche Gruppe lagerte in einem Hain alter Ahornbäume, wobei sie zu ihrem Mißvergnügen feststellen mußten, daß trockene Stellen spärlich und nur tief im Innern des Hains zu finden waren.
Es war fast Mitternacht, als der Kundschafter zurückkehrte. Morgan war noch wach. Er kauerte mit Chandos und Matty Roh zusammen, die zuhörten, wie Damson beschrieb, was sie von den Tunneln unter Tyrsis und den Föderationsgefängnissen wußte. Der Kundschafter beugte sich herab, um Chandos verstohlen und schnell etwas zuzuflüstern. Chandos' Gesicht wurde aschfahl. Er entließ den Kundschafter und wandte sich dem Hochländer und den Mädchen zu.
Die Föderation hatte ihre Absicht verkündet, Padishar Creel zu exekutieren. Die Exekution würde öffentlich erfolgen. Und zwar zur Mittagszeit des übernächsten Tages.
Chandos stand auf und ging kopfschüttelnd davon. Morgan saß mit Damson und Matty Roh in betäubtem Schweigen da. Seine Vermutung war falsch gewesen. Die Föderation hatte beschlossen, sich Padishars ein für allemal zu entledigen. Der Anführer der Geächteten hatte nur noch weniger als zwei Tage zu leben.
Morgans Blick begegnete dem von Damson und Matty. Sie dachten alle dasselbe. Welchen Befreiungsplan auch immer sie durchzuführen versuchten – er sollte ihnen besser gleich beim ersten Mal gelingen.