Die Dämmerung war fast hereingebrochen, als Morgan Leah den Wagen und die Reiter aus dem Grasland im Westen herankommen sah. Sie wurden langsamer, als sie den Aufstieg zur Südwache beginnen mußten. Er stand auf der Klippe im Süden, wo seit mittlerweile drei Tagen sein Wachposten war, und schaute über das erwachende Land hinweg. Die Sterne und der Mond verblaßten in einem wolkenlosen Nachthimmel, und die Hügel waren dicht mit Nebel bedeckt, der sich an Senken und Täler anklammerte. Die Erde war ein Behältnis für die Vordämmerungsschatten, die mit dem Grau der vergehenden Nacht verschmolzen und gänzlich aufgesogen werden würden, wenn der Morgen kam.
Anders natürlich der Wagen und die Reiter, Schatten mit Substanz, deren Bewegungen sich vor der Dunkelheit abzeichneten. Morgan beobachtete sie schweigend und regungslos, als könnte jegliches Geräusch oder jegliche Bewegung seinerseits sie dazu veranlassen, im Nebel zu verschwinden. Sie waren noch immer ein gutes Stück entfernt, fast verloren in der Dämmerung, und schimmerten vor der Nacht wie dunkle Geister.
Sie waren das erste Anzeichen von Leben, das er gesehen hatte, seit er seinen Wachposten bezogen hatte. Und wie er erkannte, waren sie diejenigen, auf die er gewartet hatte.
Drei Tage waren vergangen, und niemand war in die Südwache hineingegangen oder auch herausgekommen. Niemand war auch nur in die Nähe gelangt. Das Land war offenbar bar allen Lebens, bis auf eine Handvoll Vögel, die zielstrebig in Sicht kamen und wieder daraus verschwanden. Auf dem Mermidon und dem Regenbogensee waren Skiffs zu sehen gewesen, aber alle waren gen Süden gefahren, weit an der Zitadelle der Geächteten vorbei. Morgan hatte lange und sorgfältig nach Anzeichen von Leben in dem Obelisken Ausschau gehalten, aber es waren keine zu sehen gewesen. Er hatte zeitweise geschlafen und war einen guten Teil der Tage und Nächte wach geblieben, um die Chance, daß jemand an ihm vorbeischlüpfte, gering zu halten. Er hatte beobachtet und gewartet, und nichts war geschehen.
Aber jetzt waren da ein Wagen und Reiter, und er war sich bereits sicher, daß sie zur Südwache wollten.
Er betrachtete sie näher und wußte dann auch, daß sie Sucher waren. Er konnte es an den schwarzen Umhängen und Kapuzen, an der Art, wie sie sich hielten und an der dunklen Verschwiegenheit ihres Herannahens erkennen. Sie kamen heimlich und im Schutz der Nacht, und sie wollten, daß nicht bekannt würde, was auch immer sie vorhatten. Es waren sechs Reiter, vier vor dem Wagen und zwei dahinter, und es waren mindestens zwei Fahrer dabei. In der seltsamen Stille der vergehenden Nacht waren sie ein Flüstern über dem kargen Land, krochen in den Nebel und die Schatten hinein und wieder heraus und zogen langsam dem kommenden Licht entgegen.
Er atmete tief ein. Sie waren diejenigen, so wiederholte er für sich, auf die er gewartet hatte. Er wußte nicht, warum er das spürte. Er verstand ihren Zweck nicht und konnte ihre Absicht nicht erkennen. Sie hatten vielleicht Par Ohmsford in dem Wagen bei sich. Vielleicht aber auch nicht. Es war nicht wichtig. Etwas in ihm flüsterte ihm zu, daß er sie nicht vorbeilassen sollte. Es sprach mit einer so deutlichen und sicheren Stimme, daß er sie nicht ignorieren konnte.
Darauf hast du gewartet. Unternimm etwas.
Es war fünf Tage her, seit sich Damson Rhee und Matty Roh auf die Suche nach Par begeben hatten und dem schimmernden Skree in der Hoffnung gefolgt waren, daß es sie zu dem Talbewohner führen könnte. Das Unwetter hatte alle früheren Spuren ausgelöscht, so daß das Skree alles war, was ihnen bei der Suche helfen würde. Morgan war an der Südwache geblieben, um auf ihre Rückkehr zu warten. Aber sie waren noch nicht zurückgekehrt, und es gab keinerlei Hinweis darauf, daß sie bald kommen würden. Es war Morgan überlassen geblieben, herauszufinden, ob Par ein Gefangener der Schattenwesen war, eine Aufgabe, die, mangels einer Gelegenheit, in die Südwache hineingelangen und sich umsehen zu können, eigentlich unmöglich erschien.
Aber jetzt...
Er atmete tief ein. Jetzt würde es anders sein.
Aber er mußte sich schnell entscheiden, was er tun wollte. Er mußte sofort handeln.
Er verfolgte bereits den Weg des Wagens, während dieser sich durch die neblige Hügellandschaft arbeitete. Er konnte ihn abfangen, wenn er wollte. Er konnte ihn erreichen, bevor er an der Südwache ankam, ihm den Weg abschneiden, wenn er noch mehrere Meilen entfernt war. Mit den Augen folgte er der Wagenspur, in der er bleiben mußte, wenn er die Zitadelle erreichen wollte. Es war ein Pfad, den andere Wagen vor ihm ausgefahren hatten. Er war nah genug, beschloß er. Er konnte ihn aufhalten.
Wenn er wollte.
Einer gegen acht, und jene acht waren Sucher und wahrscheinlich auch Schattenwesen. Er biß die Zähne zusammen und lächelte dann höhnisch. Er sollte es lieber sicherstellen.
Im Osten begannen die ersten schwachen Schimmer silbrigen Lichts hinter dem bewaldeten Horizont hervorzuspähen und sandten leuchtende Spinnweben über die flache dunkle Oberfläche des Regenbogensees. Die Stille vertiefte sich, und eine erwartungsvolle Ruhe trat ein: wartend, abwartend.
Morgan stand regungslos auf der Klippe, schaute über die Hügel hinweg zu dem Wagen und den Reitern und merkte, daß er über das Hier und Jetzt hinweg in die Vergangenheit schaute. Er sah sich selbst erneut in Leah, in dem Hochland, in dem seine Familie jahrhundertelang gelebt hatte, und rief sich in Erinnerung, wie sein Leben noch vor so kurzer Zeit gewesen war. Er erinnerte sich daran, wie er es Matty beschrieben hatte. Er hatte seine Zeit damit verbracht, den Föderationsoffizieren, die in seinem einstigen Familienwohnsitz einquartiert worden waren, das Leben schwerzumachen, und war damit zufrieden gewesen, lästige Verwirrung zu stiften, zufrieden damit, Unglück und Unzufriedenheit zu verursachen. Von damals an hatte er einen langen Weg hinter sich gebracht, nach Norden zum Hadeshorn und dem Schatten Allanons, über Tyrsis und die Grube hinaus zu den Drachenzähnen und dem Jut, zu Padishar Creel und den Geächteten und noch weiter nach Eldwist und zum Steinkönig, zum Schwarzen Elfenstein und dem Maw Grint. Er hatte die Schattenwesen und ihre Diener bekämpft und überlebt, was niemand hätte überleben sollen. Er hatte ein Leben hinter sich gelassen und war für immer verwandelt in einem anderen aufgetaucht. Er würde niemals wieder derselbe sein. Aber das wollte er auch nicht. Eine Lebensspanne war seit seiner Abreise aus dem Hochland vergangen, und seine Erfahrungen hatten ihn auf eine Weise gestärkt, wie er es sich einst nur in seinen Träumen hatte vorstellen können.
Seine Sicht klarte auf, die Vergangenheit verschwand wieder in die Erinnerung, und die Gegenwart drängte als stetige und sichere Gewißheit auf das, was erforderlich war. Er schaute zu dem Wagen und den Reitern hinaus und lauschte auf das Flüstern in seinem Geist. Er wußte, was er tun mußte.
Als er dann den Entschluß gefaßt hatte, handelte er schnell. Er ließ alles außer dem Schwert von Leah zurück. Von seinem Gepäck und dem schweren Umhang befreit, das Schwert sicher über den Rücken gebunden, glitt er durch die Bäume den nördlichen Hang der Klippe hinab, wobei er sein Ziel im Auge behielt. Er erreichte die darunterliegenden Hügel und durcheilte sie, strebte nordwärts auf die Engpässe zu, durch die der Wagen und die Reiter gelangen mußten, um die Südwache zu erreichen, dachte bei sich, daß er seine Meinung noch immer ändern könnte, wenn er erst einmal dort wäre und es dann falsch zu sein schien, dachte ebenfalls, daß er einen Plan brauchte, wenn er eine Chance haben wollte, einen Kampf gegen so viele zu gewinnen. Der Boden war hart und fühlte sich unter seinen Füßen hohl an, aber das Gras war feucht vom Morgentau und machte ein nasses, klatschendes Geräusch, als er hindurchging. Er roch die Erde und die Bäume in der windstillen Luft. Ihre Gerüche waren dicht und beißend. Der Nebel verdichtete sich, während er vorwärts schritt, streckte sich aus, um ihn in einem Moment zu umhüllen und im nächsten Moment wieder freizulassen. Er sagte sich, daß er schnell sein mußte – so schnell wie ein Gedanke und so sicher wie das Schicksal. Er würde die meisten von ihnen töten müssen, bevor sie wußten, daß er da war. Er würde noch dunkler sein müssen als sie. Er würde tödlicher sein müssen.
Von einer Senke wechselte er in einen Hain schwarzer Walnußbäume und Kirschbäume über, deren Zweige sich schwer vom Tau zu Boden neigten, und er schaute über die Hügel hinweg und lauschte. Er konnte den Wagen hören, obwohl sein Quietschen und Ächzen durch den Nebel gedämpft wurde. Er war ihnen ein gutes Stück voraus, in der Nähe der Stelle, wo er sie abfangen wollte, und die Finsternis der Nacht hielt der einsetzenden Dämmerung stand. Er schaute ostwärts und sah, daß die Sonne noch immer in den Bäumen verborgen war und ihr Licht nicht mehr war als ein schwaches Hellerwerden vor dem Himmel. Es blieb ihm genug Zeit zum Handeln, bevor der Sonnenaufgang ihn verraten würde. Er würde seine Chance bekommen.
Er ging erneut weiter, hielt sich in Deckung, wo immer er konnte, und blieb in seinem Vorübergehen lautlos. Er hatte jahrelang im Hochland gejagt, bevor er in den Norden gekommen war, hatte sich vor der Dämmerung erhoben, um mit seinem Bogen loszuziehen. Er war in einer Welt, in der er ein Eindringling war, allein gewesen und hatte gelernt, mit den Tieren, die er jagte, zu einer Einheit zu werden. Manchmal schoß er sie, um Nahrung zu haben, häufiger jedoch schlich er sich nur an sie heran. Er brauchte sie nicht zu töten, um ihre Eigenarten zu erfahren und ihre Geheimnisse zu entdecken. Er wurde gut darin. Er war jetzt gut. Aber die Schattenwesen waren auch Jäger. Sie konnten besser als er spüren, was dort draußen war. Daran mußte er denken. Er würde vorsichtig sein müssen.
Denn wenn sie ihn zuerst entdeckten...
Er atmete tief durch den Mund ein und beruhigte den Schlag seines Herzens, während er weiterging. Wie sah sein Plan aus? Was beabsichtigte er eigentlich? Sie aufhalten, sie töten, sehen, was in ihrem Wagen war? Was war, wenn er nichts in dem Wagen fand? War das wichtig? Wieviel würde er verlieren, wenn dies alles umsonst war?
Aber es war nicht umsonst. Er wußte, daß es das nicht war. Der Wagen war nicht leer. Es gab keinen Grund für die Sucher, einen leeren Wagen zur Südwache zu eskortieren. Der Wagen würde etwas beherbergen. Die innere Stimme, die Stimme, die ihn vorwärts drängte, versprach es ihm.
Darauf hast du gewartet.
Einen Moment lang schien es ihm, als sei es Quickenings Stimme, die er hörte, die aus irgendeiner Unterwelt zu ihm sprach oder vielleicht aus der Erde, in die sie zurückgekehrt war. Es war, als ob sie ihn leitete und behütete, ihn dem entgegenführte, was nur sie allein sehen konnte. Aber der Gedanke schien nur ein Wunsch und irgendwie auch gefährlich, und er schob ihn sofort beiseite. Die Stimme war seine eigene und nicht die eines anderen, sagte er sich. Die Entscheidung und ihre Konsequenzen mußte er tragen.
Er erreichte das kleine Tal, durch das die Reiter und ihr Wagen hindurchkommen würden, die Stelle, an der er sie aufhalten wollte, und er blieb in der Stille abrupt stehen, um zu lauschen. In der Ferne, irgendwo dort hinten im Nebel, erklangen die Geräusche ihres Herannahens. Er stand in der Mitte des Tales und versuchte, die ihm verbleibende Zeit abzuschätzen. Dann schritt er das Tal ab, hielt sich auf einer Seite in den Schatten, damit seine feuchten Fußabdrücke vor dem Licht nicht zu sehen sein würden, und atmete die neblige Kühle, um seinen Kopf freizubekommen. Pläne kamen und gingen wie der Wind, wurden aussortiert und so schnell beiseite geschoben wie Träume beim Erwachen. Keiner gefiel ihm. Keiner schien richtig zu sein. Er erreichte das Ende des kleinen Tales und begann wieder zurückzugehen. Doch dann blieb er stehen.
Er stand am Eingang der engsten Stelle des Tales.
Hier, sagte er sich. Hier würde es beginnen, nachdem der Wagen in das kleine Tal gelangt war, nachdem die ersten Reiter davor gefangen waren und nicht zurückkehren konnten, um den hinteren zu helfen. Das würde ihm wertvolle Hilfe sein, zumindest zwei Reiter außer Gefecht zu setzen und vielleicht auch noch jene, die den Wagen lenkten. Er hoffte, jeden und alles zu erwischen, was dazwischen lag. Wenn er nichts fand, konnte er schnell wieder fort sein...
Und doch wußte er in dem Moment, als er das dachte, auch, daß er es nicht fertigbringen würde, denn die anderen würden ihn aufspüren. Nein, er würde bleiben und kämpfen müssen, egal was er in dem Wagen fand. Es würde kein Davonlaufen, kein Entrinnen geben.
Er fühlte sich, als würde das Pochen in seiner Brust sein Herz explodieren lassen, und etwas lag ihm schwer im Magen. Er fühlte sich benommen bei dem Gedanken daran, was er plante, und gleichzeitig entsetzt und begeistert und unfähig, auch nur eine der unzähligen Empfindungen zurückzuhalten, die ihn durchströmten.
Aber die Stimme flüsterte immer noch. Darauf hast du gewar- tet. Darauf.
Das Geräusch der herannahenden Schattenwesen wurde lauter. Das Licht im Osten blieb schwach und entfernt. Hier in dem kleinen Tal hing der Nebel dicht und unbeweglich. Er würde genug Deckung haben, sagte er sich. Er trat zurück in die Bäume, zog das Schwert von Leah aus der Scheide und kauerte sich hin.
Bitte habe recht. Bitte irre dich nicht. Laß in diesem Wagen Par sein. Laß es nicht umsonst sein.
Die Worte wiederholten sich als Litanei in seinem Geist und vermischten sich mit dem Flüstern, das ihn an seinen Plan band, an die Gewißheit, daß er richtig war. Er konnte das Gefühl nicht erklären: Es war wie eine Frage des Glaubens, den man manchmal nicht in Frage stellt, den man einfach akzeptiert und nicht rechtfertigt. Er wurde von der Wahrheit, die er darin spürte, und der Möglichkeit, daß sie eine Täuschung war, hin- und hergerissen. Der Verstand riet ihm zur Vorsicht, aber das Gefühl beharrte auf blinder Einlassung. Die Gefühle, die in ihm kämpften, während er wartete, zerrten an ihm und verwirrten sich.
Er sprang abrupt auf und eilte durch die Bäume zurück und den dahinterliegenden Hügel hinauf, hielt sich in den tiefsten Schatten, während er voraneilte, atmete durch den Mund, um schnell Luft zu bekommen. Auf dem Kamm des Hügels kroch er zu einer Stelle, von der aus er gen Westen schauen konnte. Sein Körper war erhitzt und angespannt. Die Reiter und ihr Wagen schienen aus einem Vorhang weißen Reifs langsam und stetig näher zu kommen. Nacheinander wollten sie das Tal durchqueren. Sie zeigten kein Zögern und keine Besorgnis. Sie sahen sich nicht um und ritten auch nicht vorsichtig heran. Zu nah an zu Hause, um sich noch Sorgen zu machen, dachte Morgan. Er wünschte erkennen zu können, was in dem Wagen war. Er spähte darauf hinab, als könne er dadurch das Segeltuch durchdringen, das die Sicht ins Innere verdeckte, aber nichts zeigte sich. Er verspürte ein Brennen in sich, und der Kampf zwischen Zweifel und Sicherheit ging weiter.
Er glitt in die Schatten zurück und kauerte sich dort schwitzend nieder. Was sollte er tun? Es war die letzte Gelegenheit, seine Meinung zu ändern, die Weisheit seines Entschlusses erneut zu überdenken. Wie wahr war die Stimme, die ihn drängte? Was waren die Chancen, die sie vortäuschte?
Dann stand er erneut auf und ging weiter, glitt wieder durch die Schatten hinab und auf das kleine Tal zu, ließ alles Denken hinter sich, nachdem der Kurs für sein Handeln festgelegt war. Unternimm etwas. Unternimm etwas. Das Flüstern wurde zu einem Schrei. Er nahm ihn auf und hüllte sich darin ein wie in eine Rüstung.
Er erreichte wieder eine Deckung und fiel auf die Knie. Beide Hände ergriffen den Knauf seines Schwertes, des Talismans, den er so oft verleugnet hatte und auf den er sich jetzt erneut verlassen mußte. Wie schnell und leicht war er darauf zurückgekommen, dachte er verwundert. Schweiß rann seine Stirn hinab, kitzelte ihn, und er wischte ihn fort. Die kühle Luft der Dämmerung schien seine Körperhitze nicht mildern zu können, und er schluckte die Luft in tiefen Atemzügen, um seinen Herzschlag zu beruhigen. Er fühlte sich, als fiele er auseinander. Was würde die Magie des Schwertes tun – ihn retten oder ihn verschlingen? Was würde es dieses Mal sein?
Das Geräusch des herannahenden Wagens erklang jetzt sehr deutlich, die Räder schlugen auf den Pfad auf und donnerten über die Unebenheiten, und die Pferde schnaubten in der Stille. Er gefror in den Schatten seiner Deckung, den Blick auf den Vorhang aus Nebel gerichtet. Eine Hand glitt die Obsidianfläche des Schwertes von Leah hinab, und er erinnerte sich daran, wie sich die Magie des Schwertes gezeigt hatte, als sein Vorfahre Rone Leah Allanon um die Magie gebeten hatte, damit er Brin Ohmsford beschützen konnte, wie der Druide dem Wunsch nachgekommen war, indem er die Klinge des Schwertes in das Wasser des Hadeshorn getaucht hatte. So vieles war daraus entstanden, so viele Leben hatte diese einzige Handlung verändert.
Er legte beide Hände um das geschnitzte Heft und festigte seinen Griff, bis die Knöchel weiß hervorstanden.
Der Nebel teilte sich vor ihm, und die schwarzgewandeten Reiter erschienen. Ihre Kapuzen hatten sie hochgezogen, und sie waren gesichtslos und größer, als er erwartet hatte. Der Atem der Pferde bewölkte die Luft, und Dampf stieg von ihren erhitzten Flanken auf, als sie in das kleine Tal herabkamen. Vier ritten voraus, dann folgte der quietschende, schwankende Wagen mit seiner Begleitung, und zwei ritten hinterher. Morgan Leah war jetzt ruhig, die Zeit des Abwartens lag hinter ihm, und die Geschehnisse waren greifbar nah. Die Geister saßen auf ihren Reittieren und auf dem Wagen vornübergebeugt, still und regungslos. Weder von ihren Gesichtern noch von ihren Gedanken war etwas zu erkennen. Auf jeder Brust schimmerte das Wolfskopfemblem wie weißes Metall. Morgan zählte sie erneut, es waren zusammen acht. Aber es befanden sich vielleicht noch andere in dem Segeltuchaufbau des Wagens, dessen Planen zugezogen und festgezurrt waren. Der Wagen war vielleicht voll von ihnen.
Er atmete tief ein und stieß den Atem dann langsam wieder aus. Sollte er es wagen? Er biß die Zähne zusammen. Er hatte Föderationssucher und Schattenwesen von einem Ende Callahorns bis zum anderen bekämpft und überlebt. Er war kein unreifer, unerfahrener Junge. Er würde tun, was er tun mußte.
Die Reiter zogen vorüber, und der Wagen donnerte vorbei und gelangte zu der Engstelle des kleinen Tals. Morgan erhob sich lautlos und geschmeidig und hob das Schwert von Leah an. Sei schnell. Sei sicher. Zögere nicht.
Er verließ seine Deckung und folgte den letzten Reitern. Die Vorausreitenden und der Wagen waren an die Engstelle gelangt. Er erwischte die letzten Reiter als erste, führte seine Klinge in einem Bogen herum und legte dabei seine ganze Kraft hinein. Er durchschlug ihre Taillen. Sie stürzten von den Pferden wie gefällte Baumstämme und waren nach einem kleinen überraschten Grunzen still. Sie waren sofort tot. Ihr Blut lief grünlich und dickflüssig über ihre Gewänder, als sie hinabfielen, und einiges davon blieb an Morgans Händen kleben. Die Pferde scheuten und zogen in verschiedene Richtungen, als Morgan vorbeidrängte und auf den Wagen zusprang. Vor ihm war das kleine Tal schattig und dicht mit Gestrüpp und Bäumen bewachsen, und der Zug behielt seinen Schritt bei. Morgan erreichte den Wagen, sprang zu den Segeltuchplanen hoch und zog sich hinauf. Er durchschnitt die Schnüre und sprang hinein. Im schwachen Licht der Dämmerung sah er nur eine einzige, regungslos auf dem Boden des Wagens liegende Gestalt mit gefesselten Händen und Füßen. Er eilte an ihr vorbei und sah, daß sich die dunklen Gestalten vorn auf dem Wagen bereits umzuwenden begannen. Sein Schwung trug ihn blitzschnell zur Vorderseite des Wagens, und sein Körper drehte sich, als er sein Schwert zurückführte. Jemand rief einen Warnruf, aber da brach er schon wütend durch das Segeltuch hindurch, zerriß es, als sei es nicht vorhanden, und schlug auf die Sucher ein, als sie ihre Waffen freizubekommen versuchten. Sie schrien und stürzten zur Seite, und in Morgans Händen begann das Schwert von Leah wie Feuer zu glühen.
Er stieß durch die zerrissenen Lappen hindurch zum Wagensitz vor und trat dort die Überreste eines Suchers beiseite. Dann riß er die Zügel an sich, brüllte wütend einen Befehl und peitschte auf das Gespann ein. Die Pferde schrien und schössen vorwärts, galoppierten in die Vorausreitenden hinein, die sich gerade hatten umwenden wollen, um zu sehen, was vor sich ging. Der Wagen donnerte auf sie zu, und da sie noch immer an der Engstelle waren, konnten sie nirgendwohin ausweichen. Sie versuchten sich wieder nach vorn zu wenden, versuchten aus dem Weg zu springen, schössen vorwärts und wanden sich in dem engen Spalt wie Schlangenmenschen, während ihre schwarzen Gewänder flogen. Aber der Wagen prallte in sie hinein, riß zwei sofort nieder, zerquetschte einen Sucher unter seinen Rädern und schleuderte den anderen in die Bäume. Der Wagen sprang und bäumte sich auf, und gleichzeitig scheuten die Pferde. Morgan erhob sich auf dem Sitz, als er an den verbliebenen zwei Reitern vorüberjagte, das Schwert von Leah erhoben, um die drohenden Schläge abzublocken.
Er donnerte aus dem kleinen Tal heraus und auf die dahinterliegenden Ebenen zu, riß an den Zügeln und lenkte das Gespann herum, wobei der Wagen fast umkippte. Die Räder rutschten auf dem feuchten Gras, und Morgan ließ sein Schwert in den Wagen fallen, um beide Hände frei und das Gespann unter Kontrolle zu bekommen. Hinter ihm kamen die beiden letzten Reiter heran, und ihre dunklen Umrisse materialisierten sich aus dem Nebel. Einer der beiden Reiter, die herabgefallen waren, erschien ebenfalls wieder, doch jetzt zu Fuß. Morgan peitschte das Gespann mit zunehmender Geschwindigkeit auf sie zu. Schweiß rann sein Gesicht herab, und seine Sicht war getrübt. Er griff in den Wagen nach dem Schwert von Leah und nahm es hoch, während die Magie die Klinge hinablief wie Feuer. Die berittenen Sucher erreichten ihn zuerst, teilten sich zu beiden Seiten auf und hoben ihre Klingen. Er schob sich so weit nach rechts wie möglich, konzentrierte sich auf den nächstgelegenen Reiter, donnerte an der Abwehr des anderen vorbei und zerschmetterte dessen Schädel. Er spürte eine rotheiße Verbrennung an seiner Schulter, als der andere Reiter von seinem Pferd auf den Wagensitz sprang und ihm einen Schlag versetzte, der ihn beinahe das Gleichgewicht kostete. Er wirbelte herum, fiel beinahe hinunter und trat dann mit seinem Stiefel zu, um den anderen zurückzustoßen. Der Wagen schwankte stark und richtete sich dieses Mal nicht wieder von selbst auf. Er löste sich aus seiner Spur und der Deichsel und kippte um, wodurch die Kämpfer zu Boden geschleudert wurden. Morgan landete hart, und roter Nebel legte sich über seine Sicht, Schmerz schoß durch seinen Körper, aber er stand sofort wieder auf.
Der Sucher, der ihn verwundet hatte, wartete, und der andere kam schnell heran. Beide nahmen ihre Gestalt als Schattenwesen an, erhoben sich als Nebel der Dunkelheit aus ihren schwarzgekleideten Körpern, und ihre Augen glühten rot und kalt. Sie hatten das Feuer an seinem Schwert hinablaufen sehen und wußten, daß Morgan die Magie besaß. Sie legten ihre Sucherverkleidung ab und riefen ihre eigene Magie herauf. Karmesinrotes Feuer schoß von ihren Waffen auf Morgan zu, aber er blockte es ab und griff sie mit zielstrebiger Entschlossenheit an. Er überlegte nicht mehr lange, sondern handelte jetzt aus der Notwendigkeit heraus. Er prallte in den ersten hinein und warf ihn um. Das Schwert von Leah fuhr herab, zerschmetterte die Waffe des anderen, und das Feuer brannte von der Kehle bis zum Leib durch ihn hindurch. Das Schattenwesen schrie auf, erschauerte und wurde still.
Morgan stürzte auf das andere zu, ohne seinen Schritt zu verlangsamen. Jetzt war er von der Essenz der Magie völlig vereinnahmt und wurde von Kräften getrieben, die nicht mehr unter seiner Kontrolle standen. Das Schattenwesen zögerte, sah sein Gesicht und erkannte zu spät, daß es ihm überlegen war. Es warf das Feuer hoch, und es zersplitterte an Morgans Klinge. Dann war Morgan über ihm, schlug einmal zu, zweimal und dreimal, und dabei eilte die Magie den Talisman als plötzliche weiße Hitze hinauf und hinab. Das Schattenwesen schrie und wollte sich befreien, und dann explodierte das Feuer als greller Lichtblitz durch es hindurch, und es war fort.
Morgan wirbelte herum und suchte die Dämmerung nach allen Seiten ab, aber das Land war still und leer. Im Osten überstieg die Sonne in einem Ausbruch silbrigen Goldes den Horizont, Licht strömte durch die Bäume und durchdrang die Schatten und den Nebel. Das kleine Tal war ein dunkler Tunnel, in dem sich nichts mehr bewegte. Die Schattenwesen lagen leblos um ihn herum. Nur ein Pferd war noch geblieben, es war als dunkler Fleck in ungefähr fünfzig Fuß Entfernung zu sehen. Seine Zügel schleiften am Boden, während es den Kopf schüttelte und aufstampfte, weil es unsicher war, was es tun sollte. Morgan betrachtete es, beruhigte seine schweißnassen Hände und richtete sich langsam auf. Die Magie des Schwertes verblaßte, und die Klinge wurde wieder unergründlich schwarz.
Nah bei ihm rief eine Drossel. Morgan Leah lauschte darauf, ohne sich zu regen, und sein Atem klang in seinen Ohren wie ein scharfes Pfeifen. Die Schattenwesen in der Südwache werden es gehört haben. Sie werden dich angreifen. Geh!
Er steckte das Schwert von Leah in die Scheide und eilte zu dem umgestürzten Wagen hinüber. Plötzlich fiel ihm Par wieder ein, und er wollte nachsehen, ob es dem Talbewohner gutging. Es war Par dort drinnen, sagte er sich. Er mußte es sein. Morgan war benommen und blutete, seine Kleidung war zerrissen und verschmutzt und die Haut von Staub und Schweiß bedeckt. Er fühlte sich schwindelig, aber gefährlich unbesiegbar.
Natürlich war es Par!
Er kletterte auf den umgestürzten Wagen hinauf und trat zu der gefesselten Gestalt, die gegen eine der zerbrochenen Seitenwände gesunken war und zu ihm aufschaute. Schatten verbargen das Gesicht des anderen, und er beugte sich hinunter, blinzelte und schaute.
Es war nicht Par, den er gerettet hatte.
Es war Wren.