24

Drei Tage zuvor war bereits schon einmal ein Unwetter vorübergezogen, ein deutlich heftigeres, ein wolkenbruchartiger, lang anhaltender Regen, der von explosionsartigem Donner und Blitzschlägen begleitet worden war und von einem rauhen, heulenden Wind getrieben wurde. Er hatte zu einer Überflutung geführt, wie sie regelmäßig mit dem Aufbau der spätsommerlichen Hitze im Grenzland kam und ging. Sie brach in der Dämmerung über Callahorn herein, überschwemmte das Land die ganze Nacht lang und verschwand bei Einbruch der Morgendämmerung gen Süden.

In ihrer Spur erhob sich eine einsame Gestalt vom durchnäßten Boden am Rande des Regenbogensees. Sie war bis zur Unkenntlichkeit beschmutzt und gebeugt, als würden Ketten sie niederdrücken.

Dunkle Augen blinzelten und versuchten, sich auf einen Punkt zu konzentrieren. Der Tag erwachte spät, vielleicht aus Sorge, daß das Unwetter zurückkehren könnte, denn dunkel umrandete Wolken verweilten noch wie zufällig am bleiernen Himmel, und der Sonnenaufgang begann eisengrau und zaghaft und vermochte kaum die hartnäckigen Schatten der Nacht zurückzudrängen. Die Gestalt schaute über die weite Fläche des Sees hinweg. Eine Hand hielt ein Schwert, das nur an den Stellen schwach schimmerte, wo das Gras und der Schlamm, die an ihm klebten, bis auf das Metall abgeschabt worden waren. Die Gestalt zögerte unsicher, stolperte dann zum Rand des Sees, tauchte Hände und Gesicht ein und schließlich auch den Körper, wusch sich, bis nur noch ein Gewirr von Lumpen und bloßer Haut übrigblieb.

Schlamm und Dreck wirbelten im dunklen Wasser davon, und Coll Ohmsford erhob sich, um sich umzusehen.

Zunächst konnte er sich an nichts anderes erinnern als daran, wer er war – obwohl ihm das sehr wichtig war, als wäre seine Identität einmal fragwürdig gewesen. Er erkannte den Regenbogensee, den Boden, auf dem er stand, und das Land, das ihn umgab. Er stand am südlichen Ufer des Sees, westlich von Culhaven und nördlich des Battlemound. Aber er wußte nicht, wie er hierhergekommen war.

Er schaute auf die Klinge in seiner Hand hinab (Hatte er es geschafft, sich zu waschen, ohne sie loszulassen?) und erkannte, daß er das Schwert von Shannara hielt.

Und dann kamen die Erinnerungen so voller Wucht zu ihm zurück, daß er keuchte und zurückwich, als habe ihn ein Schlag in die Magengrube getroffen. Die Bilder hämmerten auf ihn ein. Er war von den Schattenwesen gefangengenommen und in der Südwache festgehalten worden. Es war ihm gelungen zu fliehen, aber in Wahrheit hatte Felsen-Dall diese Flucht für ihn ermöglicht. Man hatte ihn fälschlicherweise glauben lassen, daß das Spiegeltuch ihn verbergen würde, während es ihn in Wahrheit auf eine Art verwandelt hatte, an die er sich nicht erinnern mochte. Es hatte ihn langsam in einen von ihnen verwandelt, hatte ihn nach ihrem Bild geformt. Er hatte die Kontrolle über sich selbst verloren und war zu etwas geworden, was einem Tier sehr ähnlich war, hatte auf der Suche nach seinem Bruder das Land durchstreift, hatte ihn gesucht, ohne darüber nachzudenken oder einen Grund dazu zu haben, außer dem Wunsch, ihm Schaden zuzufügen. Die dunklen Falten des Spiegeltuchs um sich herumgelegt, hatte er ihn verfolgt, gefunden und angegriffen...

Er atmete heftig durch den Mund. In seiner Brust verkrampfte sich etwas, und sein Magen rebellierte.

Sein Bruder.

... und hatte versucht, ihn zu töten – und hätte es getan, wenn ihn nicht etwas aufgehalten und ihn dann fortgetrieben hätte.

Er schüttelte den Kopf und kämpfte sich durch das Labyrinth seiner Erinnerungen. Er war verwirrt und wie wahnsinnig vor Par geflohen, hin- und hergerissen zwischen dem, der er gewesen war, und dem, der er geworden war. Danach hatte er mit Par gespielt, ohne sich wirklich bewußt zu sein, was er tat, war bei Tage vor ihm geflohen und hatte ihn bei Nacht gesucht, hatte ihn stets gejagt, irgendwo tief in sich selbst verloren. Haß und Angst hatten ihn getrieben, aber ihr Ursprung war niemals deutlich geworden. Er konnte spüren, wie sich das Spiegeltuch, das ihn umklammert hielt, zu lockern begann, war jedoch noch unentschlossen, ob das gut war oder nicht. Er verwandelte sich allmählich wieder zurück, konnte aber nicht den ganzen Weg zurücklegen, denn er war noch immer von der Schattenwesenmagie gebunden, noch immer in ihrer Knechtschaft gefangen. In der Dunkelheit würde er zurückkehren, um seinen Bruder in der Absicht zu suchen, ihn zu töten, und gleichzeitig würde er daran denken, daß er so Erlösung finden konnte. Die Gedanken rankten sich umeinander wie Schlangen. Folge mir! hatte er Par gebeten – und dann versucht, so schnell und so weit zu laufen, daß sein Bruder ihn nicht erreichen konnte.

Er legte die Arme um sich selbst, als ihn Kälteschauer durchströmten, schaute über die dunstige Weite des Sees hinaus und erinnerte sich. Wie viele Tage war er gelaufen? Wieviel Zeit war verloren?

Folge mir!

Er hatte dann die Metallscheibe gestohlen, die Par um seinen Hals trug – hatte sie gestohlen, ohne zu wissen, warum, sondern nur, weil er gesehen hatte, wie Par sie in den dämmrigen Schatten gehalten und liebkost hatte, und hatte, als er ihre Bedeutung gespürt hatte, beschlossen, Par zu verletzen, indem er sie sich nahm. Er hatte aber auch gedacht, daß sein Bruder ihm folgen würde, wenn er ihm die Scheibe stahl.

Und so war es auch gekommen.

Er war in das zerstörte Land unterhalb der Südwache geflohen.

Warum war er hierhergelaufen? Der Grund entglitt ihm und blieb ein schwer erfaßbares Flüstern in seinem Unterbewußtsein. Er runzelte die Stirn, während er darum kämpfte zu verstehen. Er war von der Magie des Spiegeltuchs getrieben und gezwungen worden, zurückzukehren...

Seine Augen weiteten sich. Um Par hierherzubringen, weil...

Und Par hatte ihn dort unter dieser alten Eiche eingeholt, hatte ihn erschöpft und zerschlagen und vernichtet aufgefunden. Sie hatten ein letztes Mal miteinander gekämpft, hatten um das Schwert von Shannara gerungen, hatten versucht, durch die Barrieren hindurchzubrechen, die sie voneinander trennten, jeder auf seine eigene Art – Par, indem er darum kämpfte, die Magie des Schwertes anzurufen, damit Coll befreit werden könnte, Coll, indem er umgekehrt darum kämpfte, zu... zu...

Was?

Um es Par zu erzählen. Um es ihm zu erzählen.

»Par«, flüsterte er entsetzt, und seine Erinnerung an die Wahrheit, die das Schwert ihm offenbart hatte, brannte durch ihn hindurch wie weißes Feuer. Er sah auf die schlammbedeckte Klinge hinab, auf die Gravur unter seinen Fingern – die Hand mit der brennenden Fackel. Er sah sie im Wiedererkennen verwundert an, und seine Finger strichen an dem Emblem entlang, als könnten sie noch immer Geheimnisse entdecken.

All diese Monate, die sie mit der Suche nach dem Schwert von Shannara verbracht hatten, dachte er, und sie hatten es niemals erkannt. So viele Bemühungen, um es wiederzuerlangen, ein von verzweifelten Kämpfen und verlorenen Leben gekennzeichnetes Bemühen, und sie hatten niemals Verdacht geschöpft. Allanons Aufgabe hatte sie erbarmungslos vorangetrieben. Sie hatte Par getrieben, und Coll war ihm schnell gefolgt. Finde das Schwert von Shannara, hatte der Druidenschatten angeordnet. Nur dann können die Vier Länder geheilt werden. Finde das Schwert, hatte er in dem Wirbelwind der vom Hadeshorn widerhallenden Schreie geflüstert.

Und das hatte Par Ohmsford getan – ohne nur einmal zu argwöhnen, daß nicht er es gebrauchen sollte.

Coll Ohmsfords Herz raste, und er atmete langsam und tief durch, um sein heftig pulsierendes Blut zu beruhigen. Er verspürte einen fast überwältigenden Drang, daran zu verzweifeln, was diese Täuschung sie gekostet haben mochte, aber er wollte sich nicht in diesen Abgrund ziehen lassen. Beide Hände um den Talisman geschlungen, trat er vom Regenbogensee zurück an eine Stelle, wo eine Gruppe von Ahornbäumen verstreute Schatten über eine grasbewachsene Kuppe warf. Benommen und geschwächt ließ er sich da nieder, wo ihn das Sonnenlicht durch die Zweige hindurch finden konnte, und versuchte die Bilder, die er aus seiner Erinnerung befreit hatte, zu ergründen.

Par war ihm bis zu dieser Ebene westlich der Südwache gefolgt, und sie hatten ein letztes Mal miteinander gekämpft, Bruder gegen Bruder. Par war zu ihm gekommen, weil das Spiegeltuch Magie der Schattenwesen war, von der Coll sich nicht selbst befreien konnte. Par hatte versucht, das Schwert von Shannara zu benutzen, um Coll das zu geben, was er für das Zerreißen seiner Fesseln brauchte – ein Erkennen dessen, wer und was er geworden war, Verständnis dafür, wie er verwandelt worden war. Die Wahrheit, das Spezialgebiet des Schwertes, würde ihm helfen, daraus zu entkommen. Par war sich sicher gewesen, daß es wirklich das Schwert von Shannara war, das er besaß, weil sich die Magie offenbart hatte, als Coll ihn oberhalb von Tyrsis angegriffen hatte. In der Hitze ihres Gefechts hatte sie sich in sie beide hineingewunden, hatte Par wissen lassen, daß Coll lebte, und hatte Coll einen erschreckenden Einblick in das gegeben, was er geworden war. Laß die Magie des Schwertes meinen Bruder durchdringen, hatte Par geglaubt, und Coll wird frei sein.

Tränen traten in seine Augen, als er sich der Intensität auf Pars Gesicht erinnerte, als sie im Kampf verflochten in der Gewalt dieses Sturmes gestanden hatten. Erneut sah er die Lippen seines Bruders, wie sie sich bewegten und ihm zuflüsterten: Coll. Hör mir zu. Coll. Höre die Wahrheit.

Und die Wahrheit war gekommen, war aus dem Schwert von Shannara in befreiender weißer Hitze heraufgelodert, hatte sich in Coll hinabgewunden und die Magie der Schattenwesen zerschmettert, so daß er das Spiegeltuch hatte abnehmen und für immer fortwerfen können. Die Wahrheit war gekommen, und Coll war tatsächlich befreit worden.

Aber diese Wahrheit war niemals Pars Wahrheit gewesen – und niemals diejenige, die Par geben sollte. Es war Colls Wahrheit gewesen – und ihm allein war bestimmt, sie zu übernehmen.

Im Osten brach die Sonne durch das abziehende Unwetter hindurch, und das Grau der Dämmerung wich goldenem Tageslicht. Coll betrachtete es und fühlte sich, als sei alle Traurigkeit, die er jemals kennengelernt hatte, in diesen einzigen Moment der Zeit hineingepreßt worden.

Par hatte nicht die Magie des Schwertes von Shannara heraufbeschworen. Coll hatte es getan. Nicht ein Mal, sondern beide Male, und jedesmal ohne zu erkennen, was er tat oder daß sie seinem Befehl unterstand. Coll, nicht Par, war der Ohmsford, für den das Schwert bestimmt war. Aber die Wahrheit war hier, wie bei so vielen Dingen, genauso schwer erfaßbar wie Rauch, und es brauchte Zeit, sie zu erkennen. Allanon hatte Coll keine Aufgabe übertragen, als sie sich am Hadeshorn versammelt hatten – und dennoch besaß er die Macht, die Magie des Schwertes von Shannara heraufzubeschwören. Es war einsichtig, daß es so sein sollte, wenn man darüber nachdachte. Er war Pars Bruder und, wie Par, ein Erbe der Elfenmagie. Sie teilten dasselbe Elfenblut und Geburtsrecht. Aber Par war die Aufgabe übertragen worden, und auf Par war folglich alles konzentriert gewesen. Par war gesandt worden, das Schwert wiederzuerlangen, geschützt durch seine eigene Magie und seine unbeugsame Entschlossenheit. Er war sich seines Zweckes selbst dann sicher gewesen, wenn die anderen der kleinen Gruppe gezweifelt hatten. Par war gesandt worden, und Allanon mußte gewußt haben, daß er nicht scheitern würde. Aber warum war ihnen nicht gesagt worden, daß das Schwert für Coll bestimmt sein würde? Warum war von ihm nichts verlangt worden?

Er verschränkte die Hände vor sich. Er erinnerte sich daran, wie es sich angefühlt hatte, als er die Magie des Schwertes zum Leben erweckt hatte, ein unerklärliches, kühles weißes Feuer. Sogar noch während er in der Knechtschaft des Spiegeltuchs gefangen gewesen war, hatte er gespürt, wie sie aufkam, wie ein Strom, der alles davor Gewesene überspülte. Wahrheiten zerbrachen die Barrieren der Magie der Schattenwesen, zuerst kleinere, Erinnerungen an die Kinderzeit und Jugend, dann größere, gravierendere und beharrlichere, Schläge, die seine Entschlossenheit lahmten, die ihn nach und nach gegen das stärkten, was folgen sollte. Die Wahrheiten waren schmerzlich, aber sie waren auch heilsam, und als die letzte Wahrheit aufgedeckt war – die Wahrheit dessen, wer und was er geworden war –, konnte er sie akzeptieren und der Scharade ein Ende bereiten, in die er eingebunden gewesen war.

Er hatte die Geschichte des Schwertes von Shannara tausendmal erzählt – wie der Talisman in den Händen Shea Ohmsfords vor fünfhundert Jahren zum Leben erwacht war, wie er sich selbst den Talbewohnern offenbart und dann den Dämonenlord entlarvt hatte. Er hatte diese Geschichte so oft erzählt, daß er sie im Schlaf hersagen konnte.

Aber selbst das hatte ihn nicht auf das vorbereitet, was er als Nachwirkung auf den Gebrauch der Magie jetzt empfand. Daß er der Wahrheit ausgesetzt gewesen war, hatte ihn aller Illusionen und Ideen beraubt, die ihn sein ganzes Leben lang beschützt hatten. Er war der Schutzbarrieren beraubt worden, die er für sich selbst gegen die schlimmsten seiner Fehler und Verfehlungen errichtet hatte. Er war nackt und ungeschützt zurückgeblieben. Er hatte sich dabei so einfältig und beschämt gefühlt.

Und er war voller Angst um Par.

Weil das Schwert von Shannara bei seiner Befreiung auch Wahrheiten über Par offenbart hatte. Eine davon war, daß Par das Schwert nicht benutzen konnte. Eine andere war, daß er das nicht erkannte. Eine dritte war, daß der Wunschgesang die Ursache für die Probleme seines Bruders war.

Geheimnisse, die er alle enthüllt gesehen hatte. Aber Par hatte das nicht. Aus noch immer unbekannten Gründen ließ der Wunschgesang es nicht zu, daß Par die Magie des Schwertes anrief, ließ er es nicht zu, daß er die Magie in sich aufnahm, und ließ er es nicht zu, daß er Wahrheiten über sich selbst erfuhr. Der Wunschgesang war eine Mauer, die die Schwertmagie abwies und verbarg, was diese offenbaren konnte. Sie hielt seinen Bruder gefangen. Coll wußte nicht, warum das so war – nur daß es so war. Der Wunschgesang tat Par etwas an, und Coll war sich nicht sicher, was es war. Er hatte seinen Widerstand gegen die Macht des Schwertes gespürt, als er mit seinem Bruder um den Besitz der Klinge gekämpft hatte. Er hatte gespürt, wie es die Magie verdrängt hatte, sie in Coll verschlossen hatte, um sicherzustellen, daß die Wahrheiten, die offenbar wurden, seine waren und nicht die seines Bruders.

Er fragte sich, warum das so war. Warum sollte das so sein? Warum hatte Allanon ihnen nichts darüber gesagt, oder darüber, wer das Schwert benutzen könnte, oder darüber, wie sie das Schwert einsetzen sollten? Was war der Zweck des Schwertes? Sie waren ausgesandt worden, es zurückzuerlangen, und hatten das getan. Was sollten sie jetzt damit anfangen?

Was wollte er jetzt damit anfangen?

Sonnenlicht strich über sein Gesicht, und er schloß die Augen und lehnte sich hinein. Die Wärme war tröstlich, und er ließ sich von ihr umhüllen wie von einer Decke. Er war müde und verwirrt, aber er war auch in Sicherheit, und das war mehr, als man über Par sagen konnte.

Er wich aus dem Licht zurück und öffnete seine Augen wieder. Der König vom Silberfluß hatte versucht, sie beide in seinen Schutz aufzunehmen, aber der Versuch war gescheitert. Par war in Panik geraten und hatte den Wunschgesang gebraucht, und seine Magie hatte der ihres Befreiers entgegengewirkt. Coll war in das Licht hinauf und sicher davongetragen worden, aber Par war wieder in die Dunkelheit und die wartenden Hände der Schattenwesen zurückgefallen.

Felsen-Dall hatte ihn jetzt.

Coll biß die Zähne zusammen. Er hatte nach Par gerufen, als er ihn fallen sah, hatte dann gespürt, wie er von dem Licht, das ihn davongetragen hatte, umhüllt und getröstet wurde. Der König vom Silberfluß hatte ihm Worte der Beruhigung, des Trostes und der Versprechungen zugeflüstert. Die Stimme des alten Mannes hatte sanft in seinen Ohren geklungen. Er würde sicher sein, flüsterte sie. Er würde schlafen und vorübergehend vergessen, aber wenn er erwachte, würde er sich wieder erinnern. Er würde das Schwert von Shannara als sein Eigentum behalten, denn er sollte es führen. Er würde es auf die Suche nach seinem Bruder mitnehmen, und er würde es benutzen, um ihn zu befreien.

Coll nickte, als er sich erinnerte. Es benutzen, um ihn zu retten. Für Par tun, was Par für ihn getan hatte. Par suchen und ihn, indem er die Magie des Schwertes von Shannara anrief, dazu zwingen, sich den Wahrheiten zu stellen, die der Wunschgesang vor ihm verbarg. Um ihn so zu befreien.

Aber wovon befreien?

Ein düsteres Unbehagen regte sich in ihm, als er sich an Pars Ängste erinnerte, als sich die Magie des Wunschgesangs entwickelt hatte. Felsen-Dall hatte beide Ohmsfords gewarnt, daß Par ein Schattenwesen sei, daß der Wunschgesang ihn dazu gemacht habe und daß er in Gefahr sei, von der Magie vereinnahmt zu werden, weil er nicht erkennen könnte, wie man sie kontrollieren konnte. Er hatte sie gewarnt, daß nur er den Talbewohner davor bewahren könnte, vernichtet zu werden. Natürlich gab es keinen Grund, dem Ersten Sucher irgend etwas zu glauben. Aber was war, wenn er auch nur ein kleines bißchen recht hatte? Das wäre sicherlich Grund genug für den Wunschgesang, die Wahrheit des Schwertes vor Par zu verbergen. Denn wenn Par wirklich ein Schattenwesen war...

Coll atmete zornig aus. Er würde sich nicht erlauben, diesen Gedanken zu beenden. Das war einfach unmöglich. Wie konnte Par ein Schattenwesen sein? Wie konnte er eines dieser Monster sein? Es gab einen Grund für das, was vor sich ging. Es mußte einen Grund geben.

Hör auf, die Angelegenheit zu erörtern! Du weißt, was du tun mußt! Du mußt Par finden!

Er erhob sich, stand dann da und schaute zerschlagen und erschöpft von seinem Kampf ums Überleben und von den Offenbarungen des Schwertes über den dunstigen See hinaus. Er dachte an die Jahre, in denen er sich um seinen Bruder gekümmert hatte, während sie aufgewachsen waren. Par war so wankelmütig und streitsüchtig gewesen, hatte darum gekämpft, die Magie in ihm zu verstehen und kontrollieren zu können, und Coll war der Friedensstifter gewesen, der mit seiner Größe und beruhigenden Art dafür sorgte, daß die Dinge nicht außer Kontrolle gerieten. Wie viele Male war er für Par aufgestanden, hatte er ihn vor Bestrafungen und Rache geschützt und ihn vor Schaden bewahrt? Wie oft hatte er seine eigenen Zweifel beiseite geschoben, um seinem Bruder beistehen und ihn beschützen zu können? Er konnte es nicht mehr zählen. Er wollte es auch nicht. Es war einfach etwas, was er hatte tun müssen. Es war etwas, was er jetzt erneut tun würde. Par und er waren Brüder, und Brüder standen einander bei, wenn es notwendig war. Die Wahl war bereits vor langer Zeit getroffen worden.

Finde Par und befreie ihn.

Bevor es zu spät ist.

Er schaute auf das Schwert von Shannara hinab und befühlte versuchsweise seinen Knauf. Er erinnerte sich an das Gefühl, das er empfunden hatte, als die Magie durch ihn hindurchgeströmt war. Seine Magie. Die Magie, von der er geglaubt hatte, daß er sie niemals besitzen würde. Es war ein seltsames Gefühl zu wissen, daß seine Macht ihm gehörte. Er erinnerte sich daran, wie sehr er sie einst ersehnt hatte. Er hatte sie nicht so sehr wegen dem gewollt, was sie tun konnte, sondern weil er geglaubt hatte, daß sie ihn Par näherbringen würde. Er erinnerte sich daran, wie einsam er sich nach dem Treffen mit Allanon gefühlt hatte – das einzige Mitglied der Ohmsfordfamilie, dem keine Aufgabe übertragen worden war. Er erinnerte sich daran, daß er gedacht hatte, er hätte genausogut nicht da zu sein brauchen. Die Erinnerung brannte auch jetzt noch in ihm.

Was würde er also aus der Chance machen, die ihm gegeben worden war? Er schaute sich an, zerrissen und zerschlagen, ohne Nahrung oder Wasser, ohne Waffen (bis auf das Schwert), ohne Geld oder Besitz, den er hätte eintauschen können. Er schaute erneut über den See hinaus, auf den Dunst, der sich zu zersetzen begann, als das Sonnenlicht stärker wurde.

Finde Par.

Sein Bruder war gewiß in der Südwache. Aber war er überhaupt noch sein Bruder? Coll glaubte, daß er Par erreichen konnte, daß er eine Möglichkeit finden würde, alle Hindernisse aus dem Weg zu räumen, aber was würde inzwischen mit seinem Bruder geschehen? Würde das Schwert von Shannara gegen das helfen, was die Schattenwesen Par vielleicht angetan hatten? Würde die Magie ihm helfen, wenn Par einer von ihnen geworden war?

Die Fragen beunruhigten ihn. Wenn er intensiver darüber nachdachte, würde er seine Meinung über das, was er als nächstes zu tun hatte, vielleicht ändern.

Aber war es in irgendeiner Weise anders als damals, wo Par mich gesucht hat?

Hat er danach gefragt, ob ich noch immer sein Bruder bin?

Er schob die Frage beiseite, festigte seinen Griff um das Schwert von Shannara und brach auf.

Er ging in östlicher Richtung weiter und folgte dem Ufer auf die Mündung des Silberflusses zu. Nach Westen zu ziehen stand außer Frage, weil das bedeutet hätte, den Nebelsumpf durchqueren zu müssen, und er wußte es besser, als daß er das versucht hätte. Die Wolken zogen davon, die Sonne kam heraus, und das Land schmolz. Dampfende Feuchtigkeit stieg in Wogen von der durchnäßten Erde auf, und die Pfützen und Rinnsale, die das Unwetter geschaffen hatte, trockneten wieder ein. Reiher und Kraniche glitten im Sturzflug über den See und versahen das Wasser in ihrer Spur mit Silberspitzen.

Da er sich noch immer als ein Fremder in seinem neuen Leben fühlte, dachte er lange und intensiv über alles nach, was geschehen war, versuchte die einzelnen Gedanken in Einklang zu bringen, die aber noch immer nicht zusammenpassen sollten. Das wichtigste Teil war Felsen-Dalls Besessenheit bezüglich Par. Es war offensichtlich, daß der Erste Sucher besessen war. Zuviel Zeit und zu viele Bemühungen waren eingesetzt worden, als daß man etwas anderes hätte denken können. Zunächst war da sein wohldurchdachter Schwindel, der Par glauben machen sollte, daß Coll tot sei. Dann durfte Coll ins Leben zurückkehren, von dem Spiegeltuch verwandelt und ausgesandt, um Par zu finden. Und dann der Versuch, Par das Schwert von Shannara zu überlassen, obwohl Par es nicht gebrauchen konnte. Was sollte das alles? Warum war sein Bruder so wichtig für Felsen-Dall? Wenn er ein Hindernis im Weg des Ersten Suchers gewesen wäre, wäre er schon vor langer Zeit getötet worden. Statt dessen schien Felsen-Dall mit komplizierten Spielen zufrieden zu sein – mit der Suche nach dem Schwert von Shannara, mit der Inszenierung von Colls Tod und Verwandlung und mit wiederholten Hinweisen, daß Par möglicherweise derjenige sei, den er vernichten wollte. Was hatte Felsen-Dall vor?

Coll wußte, daß dies alles irgendwie mit der Aufgabe verbunden war, die Allanon seinem Bruder übertragen hatte: daß er das Schwert von Shannara zurückbringen sollte. Vielleicht sollte das Schwert die Wahrheit hinter all den Täuschungen offenbaren. Vielleicht war es für etwas anderes bestimmt. Was auch immer der Grund war, hier waren Machenschaften und Finten am Werk, die weder er noch Par jemals durchschaut hatten, aber irgendwie mußten sie sie enträtseln.

Am Mittag machte er Rast, trank Wasser aus einem Fluß und sehnte sich nach Essen. Er näherte sich dem Silberfluß und wollte sich dann nördlich dem Rabb zuwenden. Er war in der Südwache bei den Übungen mit Ulfkingroh stark geworden, aber seine Verwandlung durch das Spiegeltuch hatte ihn erheblich geschwächt. Sein Hunger nagte an ihm, und schließlich gab er nach. Er setzte sein Schwert dafür ein, aus einem Weidenstock einen Speer zu formen, und ging fischen. Er watete durch die seichten Stellen des Sees bis zu einer stillen Bucht, wo er knietief im klaren Wasser stehenblieb, bis ein Fisch vorbeischwamm und er zustechen konnte. Er mußte es ein dutzendmal versuchen, aber schließlich hatte er seinen Fang gemacht. Er trug ihn an Land und erinnerte sich dann daran, daß er keine Möglichkeit hatte, ihn zu kochen. Er konnte ihn nicht roh essen – nicht nach so langer Zeit in der Knechtschaft des Spiegeltuchs. Er suchte seine Kleidung nach Utensilien ab, mit denen er ein Feuer hätte entzünden können, fand aber nur die seltsame Scheibe, die er Par gestohlen hatte. Ärgerlich und enttäuscht warf er den Fisch in den See zurück und brach erneut auf.

Der Nachmittag verging. Coll rastete jetzt häufiger. Er war benommen von der Schwüle und unkonzentriert. Schlaf würde helfen, aber er hatte beschlossen, bis zum Einbruch der Nacht weiterzugehen. Er sah Par jetzt hin und wieder im Schimmern der vom Gras aufsteigenden Hitze erscheinen, hörte ihn sprechen und sah, wie er sich bewegte. Erinnerungen kamen und gingen, Bilder stiegen auf und verschwanden, wenn er sich zu nah heranzuwagen versuchte. Er brauchte einen besseren Plan, sagte er sich. Es reichte nicht, einfach zur Südwache zurückzukehren. Er würde Par niemals allein befreien können. Er brauchte Hilfe. Was, so fragte er sich, war mit Morgan Leah und den anderen geschehen? Was war aus Walker Boh und Wren geworden? Wo war Damson? Suchte sie auch nach Par? Padishar Creel würde helfen, falls Coll ihn fand. Aber Padishar konnte überall sein.

Er lief in die frühe Dämmerung hinein und sah den Silberfluß als helles Band vor sich auftauchen, das sich landeinwärts wand. Er ging am Rande einer Schlammfläche entlang, die durch die Vergiftung einer seichten, schmalen Bucht entstanden war. Das lauwarme Wasser war grün und trüb, die Vegetation krankhaft grau, und der Gestank von Verwesung hing schwer in der Luft. Durch den Mund atmend, erzwang er sich seinen Weg daran vorbei und strengte sich an, schnell weiterzukommen.

Als er aus einem Pinienhain heraustrat, sah er einen Wagen und blieb stehen.

Fünf Männer, die um ein Herdfeuer herum saßen, schauten auf. Mit harten, rauhen Gesichtern sahen sie ihn regungslos an. Fleisch briet auf einem Spieß, und Suppe kochte in einem Kessel. Die Gerüche zogen verlockend zu Coll herüber. Eine Herde Maultiere stand angepflockt und graste. Zusammengerolltes Bettzeug lag verstreut auf dem Boden, bereit, zum Schlafen ausgerollt zu werden. Die Männer waren gerade dabei, einen Bierschlauch herumzureichen.

Einer von ihnen bedeutete Coll, er solle sich zu ihnen gesellen. Coll zögerte. Die anderen winkten ihn herüber, sagten ihm, er solle kommen, er solle etwas essen und trinken, und was, bei allen guten Geistern, denn mit ihm geschehen sei?

Coll ging hinüber. Er war sich wohl bewußt, wie seltsam er aussehen mußte, aber er war verzweifelt hungrig. Er setzte sich zwischen sie, bekam einen Teller, eine Schüssel und einen Becher Bier gereicht. Er hatte kaum seinen ersten Biß genommen, als ihn der erste Schlag hinters Ohr traf und sie alle über ihm waren. Er kämpfte darum aufzustehen, sich zu befreien und zu fliehen, aber zu viele Hände hielten ihn zurück. Er wurde fast bis zur Bewußtlosigkeit geschlagen und getreten. Das Schwert von Shannara wurde ihm abgenommen. Ketten wurden um seine Hand- und Fußgelenke geschlossen, und er wurde hinten in den Wagen geworfen. Er bat sie, das nicht zu tun. Er bat sie, ihn freizulassen, sagte ihnen, daß er nach seinem Bruder suche, daß er ihn finden müsse, daß sie ihn gehen lassen müßten. Sie lachten ihn aus, verhöhnten ihn und sagten ihm, er solle ruhig sein, sonst würden sie ihn knebeln. Er wurde aufgerichtet und bekam einen Becher Suppe und eine Decke.

Seine Waffe, so wurde ihm gesagt, würde einen guten Preis erzielen. Aber einen sogar noch besseren Preis würden sie erzielen, wenn sie ihn der Föderation als Arbeiter für die Sklavenminen in Dechtera verkauften.

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