22

Danach schwiegen sie. Sie saßen Seite an Seite auf einer Werkbank, berührten sich noch immer und schauten in die Dunkelheit hinaus. Mehrere Male dachte Morgan daran, aufzustehen und sich zu entfernen, aber er hatte Angst, daß sie den Grund dafür mißverstehen würde, und blieb daher, wo er war. Der Klang von Gelächter durchdrang die Stille des Hofes von irgendwo außerhalb her. Es dröhnte rauh und unwillkommen und schien Nerven, die bereits stark beansprucht waren, noch mehr zu strapazieren. Morgan wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war. Er wußte, daß er etwas sagen sollte. Er hätte dem dunklen Bild ihrer Worte etwas entgegensetzen müssen. Aber er wußte nicht, wie er das tun sollte.

Ein Hund bellte in der Ferne. Es war ein lang anhaltender, abgehackter Laut, der mit beißender Schärfe verhallte.

»Es gefällt Euch nicht, daß ich ihn getötet habe«, sagte sie schließlich. Es war keine Frage, es war die Feststellung einer Tatsache.

»Nein, es gefällt mir nicht.«

»Denkt Ihr, ich hätte etwas anderes tun sollen?«

»Ja.« Er gestand dies nur ungern ein. Er mochte es nicht, wie er klang. Aber er konnte nicht anders.

»Was hättet Ihr getan?«

»Ich weiß es nicht.«

Sie legte ihre Hände auf seine Schultern und wandte sich um, bis sie einander ansahen. Ihre Augen waren Nadelstiche blauen Lichts. »Schaut mich an.« Er tat es. »Ihr hättet dasselbe getan.«

Er nickte, aber er war nicht überzeugt davon.

»Ihr hättet es getan, denn wenn Ihr aufhört, darüber nachzudenken, dann gab es keine andere Wahl. Dieser Mann wußte, wer ich war. Er wußte, was ich vorhatte. Er hat mich bestimmt nicht mißverstanden. Wenn ich ihn am Leben gelassen hätte, selbst wenn ich ihn gefesselt und irgendwo versteckt hätte, hätte er entkommen können. Oder gefunden werden können. Oder etwas anderes. Wenn das geschehen wäre, wären wir erledigt gewesen. Eure Pläne, wie auch immer sie aussehen mögen, hätten keine Chance mehr gehabt. Und ich muß nach Varfleet zurückkehren. Dort hätte er mich sehen können, und dann hätte er es gewußt. Versteht Ihr?«

Er nickte erneut. »Ja.«

»Aber es gefällt Euch noch immer nicht.« Ihre rauhe, leise Stimme war nur ein Flüstern. Sie schüttelte den Kopf, so daß ihr schwarzes Haar flog. Tiefe Traurigkeit lag in ihrer Stimme. »Mir auch nicht, Morgan Leah. Aber ich habe schon vor langer Zeit gelernt, daß es eine Menge Dinge gibt, die ich tun muß, um überleben zu können, obwohl sie mir nicht gefallen. Und ich kann es nicht ändern. Es ist lange her, daß ich ein Heim oder eine Familie oder ein Land oder etwas oder jemanden außer mir selbst gehabt habe, worauf ich mich verlassen konnte.«

Er unterbrach sie und war plötzlich beschämt. »Ich weiß.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das tut Ihr nicht.«

»Doch. Was Ihr getan habt, war notwendig, und ich sollte es nicht falsch finden. Wahrscheinlich stört mich allein die Vorstellung davon. Ich habe einfach ein anderes Bild von Euch.«

Sie lächelte traurig. »Das kommt nur daher, daß Ihr mich nicht richtig kennt, Morgan. Ihr seht mich eine kurze Zeit lang auf eine Weise, und so bin ich dann für Euch. Aber ich bin eine ganze Menge mehr, als Ihr bis jetzt kennengelernt habt. Ich habe schon zuvor Menschen getötet. Ich habe sie von Angesicht zu Angesicht getötet und auch aus dem Hinterhalt. Ich habe es getan, um überleben zu können.« Tränen traten in ihre Augen. »Wenn Ihr das nicht verstehen könnt...«

Sie hielt inne, biß sich auf die Lippen, erhob sich abrupt und trat fort. Er versuchte nicht, sie aufzuhalten. Er beobachtete, wie sie zur anderen Seite des Hofes ging und sich, mit dem Rücken gegen die Wand, in den tiefen Schatten auf die Steine setzte. Lange Zeit verharrte sie dort regungslos im Dunkeln. Die Zeit verging, und Morgans Augen wurden schwer. Er hatte seit der vorigen Nacht nicht mehr geschlafen und auch da nur schlecht. Die Dämmerung würde eher hereinbrechen, als er dachte, und er würde erschöpft sein. Er hatte noch keinen Befreiungsplan für Padishar Creel – er hatte die Angelegenheit noch nicht einmal überdacht. Er fühlte sich aller Gedanken und Hoffnungen beraubt.

Schließlich breitete er seinen Umhang auf dem Boden des Schuppens aus, bildete mit den Lumpen, die sie hereingetragen hatten, ein Kissen und legte sich hin. Er versuchte, über Padishar nachzudenken, aber er schlief fast augenblicklich ein.

Irgendwann während der Nacht wurde er von einer Bewegung neben sich geweckt. Er spürte, wie sich Matty Roh neben ihm zusammenrollte und sich ihr Körper eng gegen den seinen schmiegte. Ein schlanker Arm griff um ihn herum, und ihre Hand fand die seine.

So lagen sie den Rest der Nacht beisammen.

Es dämmerte schon fast, als er davon geweckt wurde, daß Damson ihn an der Schulter berührte. Ein Hellerwerden war in den Zwischenräumen der Schatten zu erkennen, das den hereinbrechenden Tag ankündigte, schwache und silbrige Linien vor den Mauern, die sie umgaben. Er blinzelte sich den Schlaf aus den Augen und erkannte, wer neben ihm kauerte. Er lag noch immer mit Matty verschlungen da und stieß sie jetzt sanft an. Zusammen standen sie steif und unbeholfen auf.

»Sie sind hier«, sagte Damson einfach. Ihre Augen enthüllten nichts von dem, was sie dachte, nachdem sie sie zusammen vorgefunden hatte. Sie deutete über ihre Schulter. »Der Maulwurf hält sie in einem Keller in der Nähe verborgen. Er hat mich letzte Nacht gefunden, kurz nachdem ich Euch verlassen hatte, hat mich durch die Tunnel geführt, und gemeinsam haben wir Chandos und die anderen hereingebracht. Wir sind bereit. Habt Ihr Padishar gefunden?«

Morgan nickte. Er war jetzt vollständig wach. »Matty hat ihn gefunden.« Er betrachtete das Elfengesicht. »Ich hätte es, glaube ich, nicht gekonnt.«

Damson lächelte die junge Frau dankbar an und ergriff deren schlanke Hände mit den ihren. »Danke, Matty. Ich hatte Angst, daß dies alles umsonst gewesen sein könnte.«

Mattys kobaltblaue Augen schimmerten wie Steine. »Dankt mir noch nicht. Wir müssen ihn dort erst herausholen. Er wird in den Zellen des Wachhauses der Grube gefangengehalten.«

Damsons Kiefer verkrampfte sich. »Natürlich. Sie mußten ihn dorthin bringen, nicht wahr?« Sie wirbelte herum. »Morgan, wie werden wir...«

»Wir sollten uns besser beeilen«, sagte er und unterbrach sie schnell. »Ich werde es Euch sagen, wenn wir die anderen erreicht haben.«

Wenn mir bis dahin etwas einfällt, fügte er im stillen hinzu. Aber die Anfänge eines Gedankens formten sich bereits in seinem Unterbewußtsein, ein Plan, der beim Erwachen plötzlich aufgetaucht war. Er warf sich den Umhang um, und zusammen verließen die drei den kleinen Hof, gingen durch das Vorderhaus wieder hinaus und betraten die Straße.

Dort war es still und leer. Die Straße war ein schwarzer Gang, der durch Gebäudemauern schnitt, bis er in einem Gewirr von Querstraßen und Durchgängen verschwand. Sie gingen schnell voran, hielten sich hinter ihren Schatten an den Mauern und drängten durch die Schwärze der vergehenden Nacht. Morgans Geist arbeitete jetzt. Er überdachte die Möglichkeiten wieder und wieder, überprüfte sie und bedachte die Alternativen. Sie wollten Padishar gegen Mittag hinrichten. Er sollte an den Stadttoren aufgehängt werden. Um das tun zu können, würden sie ihn vom Wachhaus an der Grube zu der Außenmauer transportieren müssen. Wie würden sie dies bewerkstelligen? Sie würden ihn sicherlich die Tyrsian-Allee hinabbringen, die breit und leicht zu überwachen war. Würde er laufen? Nein, das war zu langsam. Auf dem Pferderücken oder in einem Wagen? Ja, in einem Wagen stehend, damit jedermann ihn sehen konnte...

Sie wandten sich einem Gang zu, der zwischen zwei Gebäuden zu einer Sackgasse führte. Auf halbem Wege hinab befand sich eine Tür, und sie traten hindurch. Innen war es dunkel, aber sie bahnten sich ihren Weg bis zu einer Tür in der entgegengesetzten Wand, die sich zu einem flackernden Lampenlicht hin öffnete. Chandos stand mit struppigem, schwarzem Bart in der Tür. Er hielt das Schwert in der Hand. Der kleine Trupp von vierundzwanzig Leuten hatte fast die ganze Nacht gebraucht, um durch die Tunnel nach Tyrsis hineinzugelangen, aber sie schienen frisch und ungeduldig, und Entschlossenheit lag in ihren Augen. Chandos reichte Morgan das Schwert von Leah, und der Hochländer band es auf seinen Rücken. Er war genauso begierig wie sie.

Er sah sich nach dem Maulwurf um und konnte ihn nirgends entdecken. Als er nach ihm fragte, sagte Damson ihm, er halte Wache.

»Ich werde ihn brauchen, damit er mir zeigt, wo die Tunnel unter den Straßen verlaufen«, verkündete er. »Und ich werde Euch brauchen, damit Ihr mir eine Karte der Stadt zeichnet, damit er das tun kann.«

»Hast du einen Plan, Hochländer?« fragte Chandos und drängte sich nahe heran.

Gute Frage, dachte Morgan. »Ja«, erwiderte er und hoffte, daß er recht hatte.

Dann zog er sie nahe heran und erklärte ihnen, wie dieser Plan aussah.

Die Dämmerung zog grau und bedrückend herauf, und die Gewitterwolken bewegten sich zum Rande des Callahorns. Trotz der aufgewühlten, schwarzen Wolken, die ihre dunklen Schatten östlich über den Runne warfen, war es heiß und stickig in der Stadt Tyrsis, als ihre Bewohner erwachten, um ihre Tagesarbeit zu beginnen. Die Luft war erfüllt von dem Geruch von Schweiß und Staub und Essensdunst vom Vortag. Männer und Frauen schauten zum Himmel und warteten sehnsüchtig auf den bevorstehenden Regen, damit er ihnen zumindest ein geringes Maß an Erleichterung gewährte.

Als der Morgen dem Mittag zuging, begann sich Erregung wegen der bevorstehenden Hinrichtung des Geächteten Padishar Creel auszubreiten. Die Menge versammelte sich erwartungsvoll, erregt und matt von der Hitze an den Stadttoren. Sie wartete begierig auf jegliche Form von Zerstreuung. Läden wurden geschlossen, Verkäufer räumten ihre Stände ab, und die Arbeit wurde beiseite gelegt, als die Stimmung immer ausgelassener wurde. Es gab Possenreißer, Gauner, Verkäufer von Getränken und Süßigkeiten, Straßenhändler und Mimen, aber auch Föderationsposten überall, die mit ihren schwarzen und scharlachroten Uniformen von der inneren bis zur äußeren Mauer die Tyrsian-Allee säumten. Als die Mittagszeit näher kam und die Gewitterwolken den Himmel von Horizont zu Horizont ausfüllten und Regen als dünner Schleier zu fallen begann, wurde es dunkler.

Inmitten der Stadt lag der Volkspark still und verlassen da. Der Wind, der das herannahende Unwetter ankündigte, ließ die Blätter der Bäume rascheln und bewegte die Banner am Eingang des Wachhauses. Ein Wagen war angekommen. Er wurde von einem Pferdegespann gezogen und war von Föderationswächtern umgeben. Segeltuch war über Metallbänder gezogen, die den Holzboden überspannten, und die Räder und Seiten waren eisenbeschlagen. Die Pferde stampften und schäumten zwischen ihren Deichseln, und die Hitze legte einen Schweißfilm über die Gesichter der Männer in den Uniformen. Blicke suchten die Bäume und Wege des Parks ab und auch die die Grube umgebenden Mauern und die Schatten, die überall zusammengeballt hingen. Die Eisenspitzen der Spieße und Äxte schimmerten dumpf. Gespräche wurden leise und verstohlen gehalten, als könne jemand lauschen.

Dann schwangen die Türen des Wachhauses auf, und eine Gruppe Soldaten strömte, mit Padishar Creel im Schlepptau, daraus hervor. Die Arme des Anführers der Geächteten waren fest auf seinen Rücken gebunden, und er war geknebelt. Sein Gang war unsicher und seine Haltung unschlüssig und schmerzgebeugt. Blut und Quetschungen und Schnitte waren überall auf seinem Gesicht zu sehen. Er hob trotz der offensichtlichen Schmerzen den Kopf, und sein Blick war hart und wild, während er seine Gefangenenwärter betrachtete. Nur wenige begegneten diesem Blick, die meisten richteten ihre Aufmerksamkeit woandershin und warteten, bis er vorbeigegangen war, um dann einen verstohlenen Blick in seine Richtung zu werfen. Der Geächtete wurde zur Rückseite des Wagens gebracht und hineingestoßen. Segeltuchlappen wurden zurechtgezurrt, der Wagen umgewandt, und die Soldaten begannen sich auf beiden Seiten in Reihen aufzustellen. Als alles bereit war, setzte sich der Zug langsam in Bewegung.

Es dauerte lange, bis er aus dem Park herausgelangt war, und die Pferde wurden dabei sorgfältig gezügelt. Die Reihen der Soldaten umschlossen den Wagen als massive Mauer. Es waren mehr als fünfzig bewaffnete Männer mit harten Gesichtern, die sich da einen Weg durch die Bäume und auf die Tyrsian-Allee hinaus bahnten. Die wenigen Leute, denen sie begegneten, wurden schnell zurückgedrängt, und der Wagen rollte langsam in die Stadt hinein. Gebäude erhoben sich zu beiden Seiten, und Köpfe lehnten aus den Fenstern. Die Soldaten schwärmten aus, gingen in Gruppen voran, um Eingänge und Nischen zu durchsuchen, um Querstraßen und Gänge zu überprüfen, um jedes Hindernis, das sie fanden, aus dem Weg zu räumen. Der Regen fiel jetzt stetig, platschte auf die Steine des Weges, färbte sie dunkel und begann Pfützen zu bilden. Donner rollte aus der Ferne heran, ein langes, beständiges Dröhnen, das durch die Mauern der Stadt hallte. Der Regen wurde heftiger, und es wurde zunehmend schwieriger, etwas zu erkennen.

Der Wagen hatte eine Stelle erreicht, an der eine Reihe von Querstraßen kreuzten, als die Frau erschien. Sie schrie hysterisch und rief den Soldaten zu, sie sollten anhalten. Ihre Kleidung war in Unordnung geraten, und Tränen liefen über ihr Gesicht. Sie hatten den Anführer der Geächteten bei sich, nicht wahr? Sie brachten ihn zu seiner Hinrichtung, nicht wahr? Gut, schrie sie haßerfüllt heraus, denn er war für den Tod ihres Mannes und ihres Sohnes verantwortlich, die für die Föderation gekämpft hatten. Gute Männer waren sie, und sie wollte ihn hängen sehen. Sie wollte sichergehen, daß sie dort war, wenn es geschähe.

Der Zug kam zum Halten, als andere erschienen, um den Schrei aufzunehmen. Durch die zornige Rede der Frau wurden sie angespornt. »Hängt den Anführer der Geächteten!« schrien sie ärgerlich heraus. Sie drängten vorwärts, warfen ihre Hände hoch und gestikulierten wild. Die Soldaten hielten den zerrissenen Haufen mit Spießen und Speeren zurück, und der befehlshabende Offizier der Einheit befahl ihnen, zurückzuweichen.

Niemand bemerkte, wie unterdessen das Kanalgitter unter dem Wagen beiseite glitt, oder sah die schattenhaften Gestalten, die einer nach dem anderen aus der Dunkelheit hervorglitten und sich darunterkauerten.

»Hängt ihn hier und jetzt!« schrie die Menge und drängte weiter gegen die Reihen der Soldaten. Der Föderationsoffizier hatte sein Schwert gezogen und schrie seinen Männern verärgert zu, sie sollten den Weg frei machen.

Dann sprangen die Gestalten unter dem Wagen plötzlich an allen Seiten auf, einige auf den Fahrersitz, einige ins Innere. Die Fahrer und der Offizier wurden auf die Straße geworfen und umklammerten ihre Kehlen. Einige Soldaten wurden an der Rückseite aus dem Wagen geworfen und blieben als verkrümmte Haufen blutend und still auf der Straße liegen. Die Soldaten, die den Wagen umstanden, wandten sich instinktiv um, um zu sehen, was vor sich ging, und fielen im Handumdrehen, als die Geächteten, die hier den größten Teil der Menge bildeten, sie mit ihren Dolchen töteten. Schreie und Rufe stiegen auf, und die Soldaten drängten wild vor und zurück und versuchten, ihre Waffen einzusetzen.

Morgan Leah erschien auf dem Fahrersitz des Wagens, riß an den Zügeln und schrie den Pferden einen Befehl zu. Der Wagen fuhr ruckartig an, als die Pferde mit wildem Blick losgaloppierten. Soldaten warfen sich auf den Hochländer, versuchten sich hinaufzuziehen, um ihn aufzuhalten, aber sofort war Matty Roh da und vernichtete sie mit schneller, tödlicher Klinge. Der Wagen brach durch die erste Linie der Reihen, das Gespann zertrampelte einige Männer unter seinen Hufen, und die Räder des Wagens zermalmten noch weitere. Morgan riß an den Zügeln und führte das Gespann in eine Seitenstraße hinein. Hinter ihm tobten die Kämpfe weiter, Männer rangen miteinander oder setzten ihre Waffen ein. Der Trupp der Föderierten wurde dezimiert. Kaum eine Handvoll Soldaten stand noch, und diese wenigen waren an die Wand eines Gebäudes zurückgewichen und hämmerten gegen die Türen.

Damson Rhee eilte heran. Sie hatte längst von ihrer Rolle als trauernde Witwe abgelassen, griff nach der Lehne des Fahrersitzes und zog sich hoch, als der Wagen vorbeirollte. Die Freigeborenen eilten ebenfalls hinter ihnen her und kamen langsam näher heran. Eine Sekunde lang schien es, als würde Morgans Plan funktionieren. Aber dann bewegte sich etwas in den Schatten an der Seite, und Morgan wurde kurzzeitig abgelenkt und wandte sich danach um. Während er dies tat, sackte der Wagen in ein wassergefülltes Loch, eine Achse brach, ein Rad fiel ab, und die Deichseln splitterten. Der Wagen kippte ruckartig auf eine Seite, und den Bruchteil einer Sekunde später stand er kopfüber und warf alle auf die Straße.

Morgan lag mit Damson und Matty Roh verschlungen da. Langsam kamen sie schmutzig und mit Quetschungen wieder auf die Füße. Der Wagen war zerstört, das Segeltuch zerrissen und das Holz zersplittert und zerbrochen. In der Ferne verschwand das erschreckte Gespann in der Dämmerung. Chandos kroch unter dem Wrack hervor, die stämmigen Arme um Padishar geschlungen. Der Anführer der Geächteten hatte seine Hände befreit und löste gerade den Knebel. Feuer brannte in seinen Augen, als er versuchte, allein zu stehen.

»Haltet nicht ein!« keuchte er. »Geht weiter!«

Die anderen Freigeborenen erreichten sie. Ihre Kleidung war blutgetränkt und zerrissen. Sie waren weniger als zuvor, und einige waren verwundet. Rufe und Schreie folgten ihnen, und ein weiterer Trupp Soldaten eilte auf den Platz.

»Schnell! Hier entlang!« rief Damson drängend und begann zu laufen.

Sie mühten sich durch ein Labyrinth regengetränkter Gebäude die verschmutzte Straße hinab. Dunst stieg von dem feuchten, erhitzten Gestein auf, als sich die Luft abkühlte und alles, was weiter als zwanzig Fuß entfernt war, hinter einem Schleier verschwand. Immer mehr Föderationssoldaten erschienen, drangen mit gezogenen Waffen aus den Seitenstraßen heran. Die Geächteten traten ihnen entgegen, drängten sie zurück und kämpften darum, freizukommen. Matty Roh schlug sich katzenschnell und tödlich an vorderster Front und eröffnete für die anderen einen Weg. Chandos und Morgan kämpften zu beiden Seiten Padishars, dem noch die Kraft fehlte, sich selbst zu beschützen, obwohl er bereit war, es zu versuchen. Er fiel ständig hin, und schließlich mußte Chandos ihn hochheben und tragen.

Sie erreichten eine Brücke, die ein trockenes Flußbett überspannte, und stolperten müde hinüber. Ohne den Wagen, der sie hätte befördern können, ermüdeten sie schnell. Fast die Hälfte jener, die mit in die Stadt gekommen waren, um Padishar zu befreien, waren bereits tot. Mehrere jener, die übriggeblieben waren, waren so schwer verwundet, daß sie nicht mehr kämpfen konnten. Föderationssoldaten kamen von überall her auf sie zu. Sie wurden von den Toren herangerufen, wohin die Kunde von der Flucht getragen worden war. Die kleine Gesellschaft kämpfte tapfer um ihr Vorwärtskommen, aber die Zeit wurde knapp. Bald würden zu viele Soldaten da sein, als daß sie ihnen noch aus dem Weg gehen konnten. Auch der Dunst und der Regen würden sie dann nicht verbergen können.

Eine Gruppe von Reitern drang aus dem Dunst hervor, erschien so schnell, daß keine Chance zum Entkommen blieb. Morgan sah, wie sich Matty zur Seite warf, und versuchte, es ihr gleichzutun. Einige von ihnen wurden beiseite gestoßen, als die Geächteten überrannt wurden. Die Pferde stolperten und gingen in dem Handgemenge zu Boden, und auch ihre Reiter fielen. Schreie und Rufe erhoben sich aus der kämpfenden Masse. Chandos war verschwunden, unter einem Berg von Körpern begraben. Padishar sprang zur Seite und fiel auf die Knie. Morgan erhob sich und stand auf einmal ganz allein mitten auf der Brücke und schwang das Schwert von Leah auf alles zu, was in seine Reichweite gelangte. Er stieß den Schlachtruf seiner Familie aus: »Leah! Leah!« Er suchte Kraft in seinem Klang und kämpfte darum, jene, die geblieben waren, um ihm zur Seite zu stehen, wieder um sich zu versammeln.

Eine Sekunde lang dachte er, sie wären verloren.

Dann kam Chandos wieder in Sicht. Er blutete und war in furchtbarem Zustand, aber er stieß Föderationssoldaten beiseite wie totes Holz, während er zu der Stelle stolperte, an der Padishar an der Brückenmauer lehnte, und den Anführer der Geächteten wieder hochzog. Damson rief ihnen von irgendwo vor ihnen etwas zu und drängte sie vorwärts. Matty Roh erschien erneut, schoß auf den letzten noch stehenden Föderationssoldaten zu, tötete ihn mit einem einzigen Schlag und eilte weiter. Morgan und die Geächteten folgten ihr und glitten dabei auf der blutigen Nässe, die die Oberfläche der Brücke bedeckte, aus.

Am unteren Ende des Dammes sahen sie Damson in den geöffneten Toren eines großen Lagerhauses stehen und ihnen bedeuten, sie sollten sich beeilen. Sie kämpften darum, zu ihr zu gelangen, hörten Verfolgungsgeräusche – Stiefel, die durch den Schlamm gezogen wurden, Waffen, die gegen Rüstungen stießen, Flüche und Wutschreie. Sie betraten eilig das düstere Gebäude, und Damson schlug die Tore hinter ihnen zu und verriegelte sie. Der Maulwurf streckte seinen Kopf aus einer Falltür, die in den Schatten der Rückseite des Gebäudes fast verloren war, und verschwand wieder.

»Hinab in die Tunnel!« befahl Damson und deutete hinter dem Maulwurf her. »Schnell!«

Die Geächteten beeilten sich, dem nachzukommen, und jene, die dazu in der Lage waren, ließen den Verwundeten alle erdenkliche Hilfe zuteil werden. Chandos ging als erster, Padishar halbwegs ziehend und halbwegs tragend, und verschwand außer Sicht. Die Schreie ihrer Verfolger erreichten die Tore des Lagerhauses, und ein wütendes Hämmern begann. Spieße und Speere schlugen gegen die Barriere und ließen das Holz splittern. Morgan hielt auf halbem Wege zum Tunnel inne. Matty Roh stand allein vor dem drohenden Angriff und hielt das Schwert bereit.

»Matty!« rief er aus.

Der letzte der Geächteten verschwand durch die Falltür. Streitäxte zerteilten den Riegel, der den Eingang des Lagerhauses versperrt hatte, und die schweren Tore gaben nach. Matty Roh wich langsam zurück. Selbst jetzt noch gab sie nur widerwillig Boden ab. Sie schien klein und verwundbar vor dem Zusammenstoß, der ihr sicherlich bevorstand, aber sie hielt sich, als sei sie aus Eisen gemacht.

»Matty!« rief Morgan erneut und eilte dann zu ihr zurück. Er packte ihren Arm und zog sie gerade auf den Tunneleingang zu, als die Tore aufsprangen und Föderationssoldaten in den Raum strömten. Zuerst kamen Sucher, mit Umhängen mit Kapuze bekleidet, auf deren Uniformen das Wolfskopf-Emblem schimmerte. Ihre Schreie bei seinem Anblick verrieten Schadenfreude.

Morgan stand bereits vor dem Tunneleingang, wandte sich jetzt aber um und trat ihnen entgegen. Es war zu spät zu fliehen. Wenn er es versuchte, würden sie ihn von hinten niedermachen und die anderen ebenfalls erwischen. Wenn er blieb, konnte er den ersten Ansturm aufhalten, und die anderen würden einige wenige wertvolle Augenblicke gewinnen. Matty Roh kauerte an seinem Ellenbogen. Er dachte kurzzeitig daran, ihr zu sagen, sie solle weglaufen, aber ein verstohlener Blick auf ihr Gesicht sagte ihm, daß er damit nur Zeit verschwenden würde.

Der Ansturm kam von drei Seiten, aber Morgan und das Mädchen kämpften mit dem Mut der Verzweiflung und schlugen ihn zurück. Das Schwert von Leah wurde zu blauem Feuer, während es dem Angriff der Sucher begegnete, hämmerte an der Abwehr der Schattenwesen vorbei und verwandelte die dunklen Wesen zu Asche. Einige der Föderationssoldaten sahen, was geschah und wichen mit geflüsterten Rufen und Flüchen zurück. Matty Roh griff beim ersten Anzeichen eines Zurückweichens in den Reihen an. Ihr schmales Schwert schoß so schnell hervor, daß es kaum zu sehen war, und ihre Bewegungen waren flüssig und wirkungsvoll, während sie mit ihrer Waffe die Angreifer zurückdrängte. Morgan ging mit ihr, kämpfte, um ihr den Rücken freizuhalten, und fühlte sich durch den plötzlichen Ansturm der Magie vorwärtsgetrieben, die aus dem Talisman von Leah in seine Glieder drang. Er heulte erneut seinen Schlachtruf heraus: »Leah, Leah« und warf sich auf die Männer vor ihm. Die Sucher starben sofort, und die Soldaten, die ihnen gefolgt waren, stolperten und fielen bei ihrer entsetzten Flucht übereinander. Matty Roh schrie auch auf, und ihr Schrei durchdrang die Kakophonie der Schreie der Toten und Verwundeten. Morgan fühlte sich benommen, aller Gedanken beraubt, aller Bedürfnisse und Wünsche beraubt, fühlte nichts anderes mehr als das Feuer der Magie.

Dann brach der Angriff der Föderation plötzlich ganz ab, und die letzten von ihnen, die noch lebten, flohen durch die Tore des Lagerhauses wieder zurück auf die Straßen von Tyrsis. Morgan wirbelte zornig herum, er wurde von der Magie getrieben, und das Schwert von Leah strahlte Feuer aus. Er schwang den Talisman wie eine Sense, schnitt in die aufrecht stehenden Balken, die die Deckenträger stützten, schnitt so tief hinein, daß er sie zerteilte und das ganze Gebäude zusammenzubrechen begann.

»Genug!« schrie Matty, packte seinen Arm und zog ihn fort.

Er kämpfte einen Moment lang gegen sie an, erkannte dann, was geschah, und gab nach. Sie eilten auf die Falltür zu und taumelten gerade in dem Moment in Sicherheit, als die Decke einbrach und alles mit donnerndem Krachen unter sich begrub.

Unten liefen sie durch die Dunkelheit der Tunnel und eilten einfach voran, ohne darauf zu achten, wohin sie gingen. Schwach und lockend schimmerte in der Ferne ein Licht, und sie stürzten wild voran, um es zu erreichen. Die seltsame Ganzheit, die Morgan empfand, wenn er die Magie des Schwertes einsetzte, begann zu verblassen und öffnete eine Grube in ihm, die sich zu einem Hunger ausweitete, zu einem vertrauten Gefühl des Verlusts, zu den Anfängen eines verzweifelten Bedürfnisses, die Magie wieder zu erleben. Er kämpfte dagegen an, warnte sich selbst, daß er nicht zulassen dürfe, daß die Magie ihn beherrsche, wie sie es schon zuvor getan hatte, rief Bilder von Par und Walker und schließlich auch von Quickening herauf, um seine Entschlossenheit zu stärken. Er streckte die Hand nach Matty aus und nahm ihre Hand. Ihr Griff festigte sich um den seinen, als spüre sie seine Angst, und sie hielt ihn fest.

Laß mich nicht los, betete er im stillen. Laß mich nicht fallen.

Staub und Feuchtigkeit erfüllten seine Lungen, und er hustete gegen die Dichte der Luft an und kämpfte um Atem. Seine Müdigkeit lastete schwer auf ihm, als lägen Ketten an seinen Gliedern und auf seinem Körper. Sie liefen weiter, und das Licht wurde jetzt heller und kam näher. Mattys abgehackter Atem paßte zu dem Trommeln ihrer Stiefel auf dem Stein. Das Blut pulsierte in seinen Ohren.

Dann befanden sie sich in dem Licht, einer Säule der Helligkeit von einem Abflußgitter in der darüberliegenden Straße. Regen stürzte kaskadenförmig herab und bildete einen silbernen Vorhang, und Donner rollte über den Himmel. Matty brach an einer Wand zusammen und zog ihn mit sich hinab. Sie saßen mit den Rücken gegen den kühlen Stein und keuchten.

Sie wandte sich ihm zu. Ihre Augen waren ungezähmt und wild, und ihre verlorenen Gesichtszüge leuchteten. Sie sah aus, als wollte sie vor Freude aufschreien. Sie sah aus, als hätte sie etwas entdeckt, das sie für immer verloren geglaubt hatte.

»Das war wunderbar!« sagte sie und lachte wie ein Kind.

Als sie das Erstaunen in seinem Gesicht sah, beugte sie sich schnell hinüber und küßte ihn fest auf den Mund. Sie behielt diesen Kuß lange bei, legte ihre Arme um ihn und hielt ihn fest.

Dann gab sie ihn frei, lachte erneut und zog ihn hoch. »Komm, wir müssen die anderen einholen! Komm, Morgan Leah! Lauf!«

Sie gingen den Tunnel weiter hinab, und die Geräusche des Unwetters folgten ihnen in die Dunkelheit. Sie liefen nicht weit, sondern verhielten ihren Schritt, als ihre Kraft nachließ. Ihr Sehvermögen paßte sich der Dämmerung an, und sie konnten die Bewegungen der Ratten ausmachen. Der Regen schoß die Gitter in immer heftigeren Bächen herab, und bald standen sie knöcheltief im Wasser. Von Lichtschacht zu Lichtschacht bahnten sie sich ihren Weg, lauschten auf die Geräusche sowohl jener, die ihnen vielleicht folgen würden, als auch jener, die sie suchten. Sie hörten Schreie und Rufe von den Straßen, das Galoppieren von Pferden, das Rumpeln von Wagen und das dumpfe Aufschlagen von Stiefeln. Die Stadt wimmelte von Soldaten, die nach ihnen suchten, aber im Moment waren es nur oberirdische Geräusche.

Noch immer war kein Zeichen von Damson und den Geächteten zu sehen.

Schließlich erreichten sie eine Abzweigung in dem Gang, so daß sie wählen mußten. Morgan tat sein Bestes, aber es gab nichts, was ihm bei dieser Entscheidung hätte helfen können. Wenn das Regenwasser das untere Stockwerk nicht überflutet hätte, wären dort vielleicht Spuren gewesen. Sie drängten vorwärts, Seite an Seite, Matty Roh dicht bei ihm, als fürchtete sie, sie könne ihn an die Dunkelheit verlieren. Die Entfernung zwischen den Gittern begann größer zu werden, bis der Tunnel so dunkel war, daß sie kaum noch etwas sehen konnten.

»Ich glaube, wir haben eine Abzweigung verpaßt«, sagte Morgan leise und ärgerlich.

Sie gingen wieder zurück und versuchten es erneut. Der neue Gang führte in Windungen zunächst scharf zu einer und dann zu der anderen Seite, und erneut vergrößerte sich der Abstand zwischen den Gittern, und das Licht begann schwächer zu werden. Sie fanden eine geschwärzte, in die Steinmauer getriebene Fackel, und es gelang ihnen, sie mit Mattys Feuersteinen zu entzünden. Es dauerte lange, und als die Fackel brannte, konnten sie Bewegung in den wassergefüllten Gängen hinter sich hören.

»Sie sind dort hereingekommen – oder haben einen anderen Weg gefunden«, flüsterte das Mädchen und lächelte ihm heimlich zu. »Aber sie werden uns nicht erwischen, und wenn es ihnen gelingen sollte, werden sie es bitter bereuen. Komm!«

Sie eilten durch Tunnel voran, die zunehmend enger wurden. Die Gitter verschwanden schließlich vollständig, und die Fackel wurde zu ihrer einzigen Lichtquelle. Die Stunden vergingen, und es wurde offensichtlich, daß sie sich hoffnungslos verirrt hatten. Keiner von beiden sagte es, aber sie wußten es beide. Irgendwie hatten sie die falsche Richtung eingeschlagen. Es war noch immer möglich, daß sie herausfinden würden, aber Morgan zweifelte daran. Sogar Damson, die in der Stadt lebte und oft in die Tunnel hinabkam, hatte nicht erwartet, das Labyrinth von Gängen ohne die Hilfe des Maulwurfs durchqueren zu können. Er fragte sich, was aus ihr und den anderen Geächteten geworden war. Er fragte sich, ob sie wohl annahmen, daß er und Matty tot wären.

Sie fanden eine weitere Fackel, die in besserem Zustand war, und nahmen sie als Reserve mit. Als der mit Pech bestrichene Teil der ersten abgebrannt war, benutzte Morgan den Stumpf dazu, ihre Reservefackel zu entzünden, und dann gingen sie weiter. Sie wanden sich tiefer in die Klippe hinein und konnten den Regen nicht mehr sehen und hören. Die Geräusche waren jetzt gedämpft und verklangen dann ganz. Nur ihr Atmen und ihre Schritte waren noch zu hören. Morgan versuchte, eine Richtung festzulegen, aber die Tunnel kreuzten sich so oft und führten so oft wieder zurück, daß er es aufgab. Die Stunden verrannen, aber es gab keine Möglichkeit festzustellen, wieviel Zeit vergangen war. Sie wurden hungrig und durstig, aber es war nichts zu essen oder zu trinken da.

Schließlich blieb Morgan stehen und wandte sich Matty zu. »So kommen wir nirgendwohin. Wir müssen etwas anderes versuchen. Wir sollten den Weg wieder zurück zur ersten Ebene finden. Vielleicht können wir heute nacht in die Stadt hinausschlüpfen und morgen durch die Tore entkommen.«

Das war allenfalls eine geringe Hoffnung – die Föderation würde sicherlich überall nach ihnen suchen –, aber alles war besser, als hoffnungslos in der Dunkelheit umherzuirren. Die Nacht würde bald hereinbrechen, und Morgan mußte ununterbrochen an die Schattenwesen denken. Damson hatte ihm erzählt, daß sie die der Grube am nächsten gelegenen Tunnel durchstöberten. Angenommen, sie stolperten in ein Monster hinein. Es war zu gefährlich für sie, noch länger hier unten zu bleiben.

Sie gingen zurück, suchten sich einen aufwärts führenden Tunnel aus und liefen ihn hinunter, während die Fackel langsam erlosch. Sie wußten, daß die Zeit knapp wurde, wenn sie nicht bald wieder auf die Straßen der Stadt gelangten, denn ihr Licht würde verlöschen und sie würden in der Dunkelheit festsitzen. Aber jetzt hörten sie in der Ferne fortwährend Geräusche, die Bewegungen von Männern, die durch Wasser und Feuchtigkeit stapften, das Flüstern von Stimmen. Die Jäger strömten ihnen offenbar entgegen, und sie waren nicht näher daran als zuvor, einen Weg an ihnen vorbei zu finden.

Es dauerte lange, bis sie die Abwasserkanäle wieder erreicht hatten und einen Streifen Tageslicht durch ein Straßengitter fallen sahen. Das Licht war jetzt schwach und vergänglich, denn der Tag ging schnell der Dunkelheit entgegen. Der Regen war in ein sanftes Nieseln übergegangen, und die Stadt war still und machte einen verlassenen Eindruck. Sie gingen weiter, bis sie eine Leiter nach oben fanden. Morgan atmete tief ein und stieg hinauf. Als er durch das Gitter hinausspähte, sah er gegenüber von sich Föderationssoldaten, die grimmig und schweigend in der Dämmerung lauerten. Er kletterte geräuschlos wieder bergab, und sie gingen weiter.

Ihre Fackel erlosch, und das Tageslicht wurde zu Dunkelheit. Der Himmel war so bewölkt, daß in den Tunneln fast kein Licht mehr zu sehen war, und die Geräusche ihrer Jäger verklangen und wurden von dem Vorbeihuschen der Ratten und dem Tröpfeln der Abflüsse abgelöst. Alle Gitteröffnungen, die sie überprüften, waren bewacht. Sie gingen weiter, denn sie konnten nichts anderes tun, und sie fürchteten, daß sie vielleicht nicht wieder weitergehen könnten, wenn sie erst einmal stehenblieben.

Morgan begann bereits zu verzweifeln, als Augen vor ihm auftauchten. Katzenaugen, die in der Dunkelheit schimmerten und dann verschwanden.

Morgan blieb sofort stehen. »Hast du was gesehen?« flüsterte er Matty Roh zu.

Er spürte ihr Nicken mehr, als er es sah. Sie standen lange Zeit wie festgefroren, denn sie wollten sich nicht bewegen, bevor sie wußten, was dort draußen war. Diese Augen hatten keiner Ratte gehört.

Dann hörten sie ein Geräusch aus dem aufgewühlten Wasser und Stiefel, die an Stein schabten.

»Morgan?« rief jemand leise. »Seid Ihr das?«

Es war Damson. Morgan antwortete, und kurz darauf umarmte sie ihn und dann Matty und erzählte ihnen, daß sie schon seit Stunden gesucht hätte, die Tunnel von einem Ende zum anderen abgeschritten sei, um ihre Spur zu finden.

»Allein?« fragte Morgan ungläubig. Er war so erleichtert, sie zu sehen, daß ihm fast schwindlig wurde. »Habt Ihr etwas zu essen oder zu trinken?«

Sie reichte ihnen beiden einen Bierschlauch und Brot und Käse aus ihrem Gepäck. »Der Maulwurf hat mir geholfen«, sagte sie flüsternd. »Als Ihr die Decke des Lagerhauses habt einstürzen lassen, brach auch ein Teil der Tunnel ein. Vielleicht habt Ihr es nicht einmal bemerkt. Auf jeden Fall waren wir von Euch abgeschnitten, und Ihr habt schließlich den falschen Weg eingeschlagen.« Sie schüttelte ihr feuriges Haar zurück und seufzte. »Wir mußten zuerst Padishar und die anderen hinausbringen. Da war noch keine Zeit, nach Euch zu sehen. Als sie in Sicherheit waren, sind der Maulwurf und ich zurückgegangen, um Euch zu suchen.«

In der Dunkelheit auf einer Seite blinzelten und glänzten die hellen Augen des Maulwurfs. Morgan war verblüfft. »Aber wie habt Ihr uns gefunden? Wir hatten uns vollständig verirrt, Damson. Wie konntet Ihr...?«

»Ihr habt eine Spur hinterlassen«, sagte sie und legte beruhigend eine Hand auf seinen Arm.

»Eine Spur? Aber das Regenwasser hat alles fortgewaschen!«

Sie lächelte, obwohl sie sich deutlich bemühte, es nicht zu tun. »Nicht auf dem Boden, Morgan – in der Luft.« Er schüttelte verwirrt den Kopf. »Maulwurf?« rief sie. »Erzähle es ihm.«

Das pelzige Gesicht des Maulwurfs kam ins Licht. Er blinzelte fast schläfrig, und seine Nase drehte sich, als er in Richtung des Hochländers in die Luft schnüffelte. »Euer Geruch ist sehr stark«, sagte er. »Überall in den Tunneln. Die liebliche Damson hat recht. Ihr wart leicht aufzuspüren.«

Morgan sah ihn an. Er konnte Matty Rohs unterdrücktes Lachen hören und wurde rot.

Sie rasteten gerade lange genug, um etwas zu essen, und brachen dann mit dem Maulwurf als Führer erneut auf. Sie begegneten weder Föderationssoldaten noch Schattenwesen und kamen gut voran. Während er ging, wanderten Morgans Gedanken auf einer bedächtigen, bewußten Reise der Selbstbewertung in die Vergangenheit und wieder zurück. Er betrachtete sich und sah, wie er sich verändert hatte. Als er fertig war, stellte er fest, daß er nicht unzufrieden war. Er hatte wichtige Lektionen gelernt.

Als sie nördlich der Bergflanke hervorkamen, war der Himmel erneut klar und erfüllt vom Licht des Mondes und der Sterne. Die Luft war vom Regen reingewaschen und roch nach dem Wald, und die aus dem Westen heranwehende Brise war kühl und weich wie Daunen. Sie standen zusammen auf vom Unwetter noch feuchtern Gras und schauten über die Ebenen und die Hügel zu den Drachenzähnen und über den dahinterliegenden Horizont hinaus.

Morgan sah Matty Roh an und bemerkte, daß sie ihn ebenfalls betrachtete, sie lächelte leicht, und ihre Gedanken schienen persönlich und geheim und seltsam zwingend. Sie war einfach und hübsch, zurückhaltend und direkt, und ein Dutzend weitere Widersprüche trafen auf sie zu, vielerlei Gegensätze von Stimmungen und Verhaltensweisen, die er nicht verstand, aber verstehen wollte. Er sah sie in Fragmenten der Erinnerung – als der Junge, für den er sie im Whistledown gehalten hatte, als das Mädchen mit den verunstalteten Füßen und der in Scherben liegenden Vergangenheit am Firerim Reach, als die tödlich schnelle Schwertkämpferin, die sich in Tyrsis gegen die Föderation und die Schattenwesen behauptet hatte, und als die rätselhafte Verlorene, die in einem Atemzug Dämon und Elfe sein konnte.

Er konnte nicht anders, er lächelte sie ebenfalls an und versuchte an einem Geheimnis teilzuhaben, das nur sie kannte.

Damson kniete vor dem Maulwurf. »Willst du dieses Mal nicht mit uns kommen?« fragte sie ihn. Der Maulwurf schüttelte den Kopf. »Es wird mit jedem Mal, wenn du zurückgehst, gefährlicher für dich.«

Der Maulwurf dachte nach. »Ich habe keine Angst um mich, liebliche Damson. Ich habe nur Angst um dich.«

»Die Monster, die Schattenwesen sind in der Stadt«, erinnerte sie ihn sanft.

Er antwortete mit einem kurzen Achselzucken und einem ernsten Blick. »Die Monster sind überall.«

Damson seufzte, legte ihre Arme um den kleinen Burschen und drückte ihn. »Auf Wiedersehen, Maulwurf. Danke für alles. Danke auch für Padishar. Ich schulde dir so viel.«

Der Maulwurf blinzelte. Seine hellen Augen glänzten.

Sie ließ ihn los und stand auf. »Ich werde zurückkommen, wenn ich kann«, sagte sie. »Ich verspreche es.«

»Wenn du den Talbewohner gefunden hast?« Der Maulwurf wirkte plötzlich verlegen.

»Ja, wenn ich Par Ohmsford gefunden habe. Dann werden wir beide zurückkommen.«

Der Maulwurf strich sich über das Gesicht. »Ich werde auf dich warten, liebliche Damson. Ich werde immer auf dich warten.«

Dann wandte er sich um und verschwand wieder in den Felsen. Er schmolz dahin wie einer der Nachtschatten. Morgan stand mit Matty Roh da, sah ihm nach und konnte nicht ganz glauben, daß er wirklich fort war. Die Nacht war still und kühl, bar aller Geräusche und angefüllt mit Erinnerungen, die durcheinandergerieten wie zu schnell gesprochene Worte, und es schien, als sei alles ein Traum, der mit dem Blinzeln beim Erwachen vergehen könnte.

Damson wandte sich ihm zu. »Ich werde Par suchen«, verkündete sie ruhig. »Chandos hat Padishar und die anderen zum Firerim Reach zurückgebracht, wo sie einen oder zwei Tage rasten werden, bevor sie nach Norden ziehen, um die Trolle zu treffen. Ich habe für ihn getan, was ich konnte, Morgan. Er braucht mich nicht mehr. Aber Par Ohmsford braucht mich, und ich beabsichtige, mein Versprechen zu halten, das ich ihm gegeben habe.«

Morgan nickte. »Ich verstehe. Ich komme mit Euch.«

Matty Rohs Stimme klang plötzlich unerklärlich herausfordernd: »Dann werde ich auch mitkommen«, erklärte sie. Sie suchte erst in dem einen, dann in dem anderen Gesicht nach einem Einwand, fand keinen und fragte dann in friedlicherem Tonfall: »Wer ist Par Ohmsford?«

Morgan lachte fast. Er hatte vergessen, daß Matty nur zum Teil wußte, was vor sich ging. Es gab vermutlich keinen Grund, daß sie nicht alles erfahren sollte. Sie hatte sich das Recht dazu erworben, als sie zur Befreiung von Padishar mit nach Tyrsis gekommen war.

»Erzählt es ihr unterwegs«, wandte Damson plötzlich ein und schaute unruhig über ihre Schulter. »Wir haben keinen Schutz, wenn wir hier herumstehen. Vergeßt nicht, daß sie uns noch immer jagen.«

Innerhalb weniger Momente waren sie auf dem Weg nach Osten, wanderten von der Klippe fort auf den Mermidon zu. Eine Stunde Marsch, und sie würden im Schutz der Bäume sein und einige Stunden schlafen können. Es war das Beste, was sie für diese Nacht erhoffen konnten.

Während sie gingen, erzählte Morgan erneut die Geschichte von Par Ohmsford und den Träumen von Allanon. Die drei Gestalten verschwanden langsam in der Ferne, die Mitternacht kam und ging, und der neue Tag begann.

Загрузка...