Der Wind blies über Wren Elessedils Gesicht und kühlte es nach der Hitze der Mittagssonne ab. Ihr kurzgeschnittenes Haar schwang von einer Seite zur anderen, während er darüber hinwegstrich, und das pfeifende Rauschen, das in ihren Ohren klang, schloß alle anderen Geräusche aus. Es lag eine Kadenz darin, die trotz ihrer Macht einschläfernd und tröstend wirkte und die sich um sie legte wie ein warmer Umhang in einer kalten Nacht. Sie lächelte, schloß die Augen und überließ sich dieser Umarmung.
Wren saß rittlings auf dem riesigen Rock Spirit, der im Westland noch über die Wälder südlich und östlich von Arborlon flog und sich dem Mermidon näherte, wo er über den weiten Sumpf, den sie Shroudslip nannten, hinwegstrich und dann zu den Ebenen von Tirfing hinabstieß. Tiger Ty saß mit gespreizten Beinen vor ihr, wo der Hals Spirits in die Schultern überging, unmittelbar vor den großen Schwingen. Sowohl der Flugreiter als auch die Elfenkönigin waren fest in die Gurte des Vogels eingebunden und gegen die Möglichkeit eines Falls gesichert. Der Himmel war hell und wolkenlos, und das Licht der Sonne badete das Land von Horizont zu Horizont in geschmolzenes Gold. Unter ihnen, wo sich die Erde in einem Mosaik von Grün und Braun ausbreitete, war es während der langen, trägen Tage des späten Sommers heiß und feucht, und alles Leben schien stillzustehen. Aber hier, hoch über der Hitze, wo der Wind stetig und kühl blies, schwebte Wren ungehindert durch Raum und Zeit, und in ihr war dieses Gefühl, entkommen zu sein, das ein Flug immer unweigerlich hervorrief.
Ihre Augen öffneten sich, und Bitterkeit lag in ihrem Lächeln. Sie hatte soviel Zeit damit verbracht, ein Entkommen in der einen oder anderen Form zu suchen, daß sie das Gefühl erkannte. Jedenfalls empfand sie das so.
Es war jetzt zehn Tage her, seit sie in die Vier Länder zurückgekehrt war. Der Alptraum von Morrowindl lag hinter ihr und begann in den Tiefen ihrer Erinnerung zu versinken. Ihr Schlaf wurde noch immer von Träumen dessen, was gewesen war, heimgesucht – von Monstern, die die kleine Gesellschaft die aufgebrochenen Berghänge des Killeshan hinab bis zu den Stranden verfolgt hatten, von den Gesichtern jener, die dabei gestorben waren, von der Angst und der Qual, die sie empfunden hatte, und von dem furchtbaren Gefühl des Verlusts, das sie, wie sie glaubte, niemals wieder verlassen würde. Sie erwachte noch immer zitternd und frierend trotz der Sommerhitze aus jenen Träumen und verließ ihr Bett, um allein durch die Gänge des Palastes zu wandern, wie ein umherirrender Geist. Sogar jetzt flüsterte ihr Morrowindl, das in einer lodernden Feuersbrunst wieder ins Meer zurückgekehrt war, aus der Vergangenheit zu, aus seinem Wassergrab, und seine Stimme war eine ständige Erinnerung daran, wie sie hierher gekommen war und was es sie gekostet hatte.
Aber es war wenig Zeit, bei dem zu verweilen, was gewesen war, denn die Anforderungen der Gegenwart überschatteten alles. Sie war Königin der Elfen, und ihr war die Sicherheit und das Wohlergehen ihres Volkes anvertraut. Es war die Aufgabe, die Ellenroh ihr übertragen hatte, es war eine Aufgabe, die sie angenommen hatte. Aber nicht alle jene, für die ihr die Verantwortung auferlegt worden war, glaubten an sie. Es war nicht leicht, die Elfen davon zu überzeugen, daß sie diejenige war, die sie anführen sollte. Nachdem der erste Überschwang der Begeisterung, von Morrowindl freigekommen und wieder ins Westland zurückgebracht worden zu sein, verblaßt war, begannen sie, Fragen zu stellen. Wer war dieses kaum erwachsene Mädchen, das sich zu ihrer Königin erklärt hatte – dieses Mädchen, das nicht einmal eine reinrassige Elfin war, sondern eine Mischung aus Elf und Mensch? Wer hatte entschieden, daß sie sie anführen sollte, sie regieren und Entscheidungen treffen sollte, die ihr Leben betreffen würden? Es wurde behauptet, sie sei die Enkelin von Ellenroh, die Tochter von Alleyne, ein Kind der Elessedils und die letzte dieser Familie, die noch regieren konnte. Aber sie war auch eine Fremde, die aus dem Nirgendwo gekommen und unbekannt und ungeprüft war. Wer war sie, daß sie Königin sein sollte?
Eton Shart und Barsimmon Oridio waren unter jenen, die weiterhin zweifelten – ihr Erster Verwalter und der Befehlshaber ihrer Armeen, Männer, die zu verlieren sie sich nicht leisten konnte. Sie sagten es ihr nicht ins Gesicht, aber ihre Reserviertheit war offensichtlich. Sie hatten Ellenroh lange Zeit treu gedient, und sie hatten nicht erwartet, daß sie sie verlieren würden. Schlimmer noch, sie hatten nicht erwartet, daß plötzlich jemand, den sie kaum kannten, ihren Platz einnehmen würde. Sicherlich nicht eine Außenseiterin, und noch dazu ein Mädchen. Wren verstand ihre Zurückhaltung. Sie erkannte auch, daß sie sie nicht unerwidert bestehen lassen konnte.
Triss und die Bürgerwehr waren ihre wahre Unterstützung. Triss war mit ihr aus Morrowindl herausgelangt, hatte ihren Kampf mit der Macht der Elfensteine miterlebt, mit den Dämonen, die sie verfolgt hatten, und mit der Verantwortung, die ihr übertragen worden war. Er akzeptierte sie als Königin, weil er dort gewesen war, als Ellenroh sie dazu ernannt und sein Treuegelöbnis gefordert hatte. Triss hatte sie dem Hochkonzil, dem Heer und besonders der Bürgerwehr, die mit ihrem Schutz beauftragt war, gegenüber zur Königin erklärt. Die Bürgerwehr hatte sie, anders als die anderen Bereiche des Elfenstaates, sofort und ohne Vorbehalte akzeptiert. Nachdem sie Ellenroh verloren hatten, setzten sie sich jetzt voll und ganz für sie ein. Nichts würde dieser Königin Schaden zufügen können, schworen sie. Diese Königin würde ihren vollen Schutz genießen. Es war die Art Unterstützung, die sie verzweifelt brauchte, und Triss stellte als Hauptmann der Bürgerwehr sicher, daß sie sie hatte.
Dennoch würde die Unterstützung der Bürgerwehr allein auf lange Sicht nicht ausreichen. Sie mußte sowohl das Hohe Konzil als auch die Armee für sich gewinnen, wenn sie als Königin akzeptiert werden wollte. Das bedeutete, daß sie Eton Shart und Barsimmon Oridio für sich gewinnen mußte, und sie wußte nicht, wie sie das bewerkstelligen sollte. Trotz ihrer Bemühungen, sie davon zu überzeugen, welche Vorteile es mit sich brächte, wenn sie sie anerkannten, blieben sie auf Distanz. Die Zeit wurde knapp. Zehn Tage war es her, seit die Elfen ins Westland zurückgekehrt waren, und inzwischen wußten das auch die Föderation und die Schattenwesen. Mehr als ein Jahrhundert lang hatte die Föderation behauptet, die Elfen seien die Ursache für die Krankheit, die das Land befallen hatte, und hier war schließlich die Gelegenheit, die Dinge ins rechte Licht zu rücken. Unabhängig davon, daß es die falsche Gruppe von Elfen war, sann sie. Die Föderation würde sich kaum die Mühe machen, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Rottet sie alle aus, und das Problem war gelöst.
Und das war der Grund dafür, daß sie mit Tiger Ty Richtung Süden flog. Die Bemühungen, mit dieser Ausrottung zu beginnen, waren bereits im Gange.
Tiger Ty berührte Spirit leicht am Hals, und der Rock reagierte, indem er nach unten auf eine Klippe zu flog, die über den Fluß hinausragte. Der Vogel stieg leicht und anmutig abwärts, und innerhalb weniger Augenblicke waren sie auf einer grasbewachsenen Böschung am Rand eines Waldes mit breitblättrigen Bäumen gelandet. Wren löste sich aus den Gurten, kletterte herab und streckte ihre verkrampften Muskeln. Sie war noch immer nicht daran gewöhnt, auf den riesigen Rocks zu fliegen, obwohl sie dies seit ihrer Rückkehr schon mehrere Male getan hatte. Auch die Flugreiter hatten begonnen, ins Westland zurückzukehren und ließen sich wieder an dem alten Wing Hove südlich des Irrybis nieder. Wren war zu ihnen gegangen, um mit ihnen zu sprechen und sie um ihre Unterstützung zu bitten, indem sie von der Gefahr berichtete, der sie alle gegenüberstanden, wenn die Schattenwesen nicht aufgehalten wurden. Tiger Ty, ein angesehenes Mitglied der Gemeinschaft, hatte für sie gesprochen und seine eigene grobe Einschätzung ihres Charakters hinzugefügt. Ein Mädchen, das mehr Mut hat als ein Dutzend von uns, hatte er gesagt. Ein Mädchen mit scharfen Kanten, aber schnell im Denken und klug. Ein Mädchen, das Magie benutzen kann, sie aber vorsichtig und respektvoll einsetzt. Die Landelfen – und die Flugreiter – könnten Schlimmeres tun.
Sie lächelte bei der Erinnerung. Die Flugreiter hatten zugestimmt, ihr zu helfen. Fast dreißig von ihnen hatten sich bereits in Arborlon niedergelassen und wurden zu einem Teil jener Truppen, die sie persönlich befehligte.
»Möchtet Ihr etwas essen?« fragte Tiger Ty und schlenderte mit seinem typischen, rollenden Gang zu ihr heran. Er war krummbeinig und spindeldürr und dazu so grauhaarig und nußbraun wie eh und je, aber nicht mehr so mürrisch. Wenn er jetzt mit ihr sprach, war etwas Neues in seiner Stimme zu hören – etwas, was fast Achtung vermuten ließ.
Sie nickte und setzte sich dann ihm gegenüber auf das Gras. Sie nahm ein Stück Käse, einen Apfel und einen Becher Bier entgegen, schlug ihre Beine übereinander und biß gerade ein Stück von dem Käse ab, als sie eine Bewegung an ihrer Brust spürte. Ein pelziges Gesicht kam aus ihrer Tunika hervor, und Faun erschien und schnupperte zögernd in die Luft.
»Ha! Dem Baumschreier fehlt es an nichts, nicht wahr?« lachte Tiger Ty, schnitt ein Stück von seinem Käse ab und gab ihn dem kleinen Wesen. Faun nahm es vorsichtig entgegen, schlüpfte ganz aus Wrens Kleidung heraus, plumpste auf das Gras herab und begann zu essen.
»Er mag Euch«, stellte Wren fest.
Tiger Ty schnaubte. »Woran Ihr sehen könnt, daß Baumschreier nicht einmal den Verstand eines Baumstumpfs haben!«
Sie aßen schweigend, beendeten ihre Mahlzeit und setzten sich dann zufrieden zurück und schauten von der Klippe über den Fluß hinaus dorthin, wo sich die Ebenen von Tirfing in einer ungebrochenen Woge staubiger Gräser in die Ferne erstreckten.
»Wie weit noch?« fragte Wren nach kurzer Zeit.
Tiger Ty zuckte die Achseln. »Höchstens noch eine Stunde. Sie sind ziemlich schnell vorangegangen, als ich sie erblickte.«
Eine Föderationsarmee, die von einem patrouillierenden Flugreiter gesichtet worden war, hatte Wren dazu veranlaßt, trotz der Einwände von Triss und der Bürgerwehr, Arborlon zu verlassen. Es war ihrem Empfinden nach notwendig, sich den Feind genau anzusehen, bevor sie dem Hohen Konzil und seinen Skeptikern einen Plan darlegte.
Sie nahm einen letzten Schluck aus ihrem Becher. Wenn die Dinge auch bis jetzt schon schwierig gewesen waren, so hatte sie doch das Gefühl, als wären sie gerade dabei, noch um einiges schwieriger zu werden.
Sie kletterten wieder auf Spirit hinauf, gurteten sich an ihren Plätzen fest und wurden in das blendende Blau hinaufgehoben. Faun steckte bequem an ihren Körper geschmiegt in ihrer Tunika. Spirit gewann an Höhe und ging dann zu einem flachen Gleitflug über, der sie die Windungen des Mermidon entlang bis zu der Stelle führte, wo er den Shroudslip umging. Dort verließen sie den Fluß und begannen der Linie des Irrybis dort zu folgen, wo er den Tirfing östlich begrenzte. Die Zeit verging schnell, und es schienen nur Momente vergangen zu sein, als Tiger Ty einen Arm hob und gen Süden deutete.
Eine riesige Staubsäule erhob sich in die Schwüle der Sommerhitze, die über den Ebenen hing. Tiger Ty schaute zu ihr zurück, und sie nickte.
Die Föderationsarmee.
Sie flogen genau südlich weiter, folgten einer Linie parallel zu der Armee und hielten sich im Schatten der Klippen. Tiger Ty wollte einen Kreis zurück beschreiben und mit der Sonne im Rücken von hinten an die Armee herankommen. Auf diese Weise würden sie nicht gesehen werden. Bisher wußte niemand etwas von den Flugreitern. Wren hatte entschieden, daß es besser war, wenn es so blieb.
Schnell eilten sie gen Süden, und als die Staubsäule ein gutes Stück hinter ihnen lag, beschrieben sie über die Ebenen hinweg eine Kurve nach links. Sie führten den Kreis weiter, bis sich die Sonne direkt hinter ihnen befand, und schwenkten dann wieder auf die Staubsäule zu. Sie stiegen höher als zuvor und versuchten, so viel blendendes Licht wie möglich hinter sich zu bringen, falls jemand den Himmel absuchen sollte.
Minuten später kam die Föderationsarmee in Sicht.
Sie war ein großer, dunkler Fleck vor dem von der Sonne verbrannten Grasland, drei Einheiten stark, Kolonne um Kolonne schwarz und rot gekleideter Soldaten und Reiter mit großen Eisen- und Holzkriegsgerätschaften, Sturmböcken, Wagen und Verpflegung. Die Armee schien sich endlos zu erstrecken, und der Staub in ihrem Kielwasser verhüllte meilenweit alles um sie herum. Wren spürte, wie ihr Mut angesichts der Größe des Feindes sank. Die Elfen konnten kaum ein Zehntel der Stärke aufbringen, die die Föderation versammelt hatte, und es wurde berichtet, daß noch weitere fünftausend Soldaten in Tyrsis stationiert seien. Wenn sie gezwungen waren, dieser Armee direkt gegenüberzutreten, würden die Elfen vernichtet werden.
Was natürlich der quälendste Gedanke war, dachte sie unglücklich.
Sie zählte sorgfältig die Linien, Kolonnen und Einheiten, während Tiger Ty Spirit nahe an die letzten Reihen der Armee heranführte und den Rock dann wieder scharf umlenkte, erneut gen Süden, noch immer im beschützenden, blendenden Licht der Sonne. Von unten hatten sie keine Rufe gehört oder Arme deuten sehen. Anscheinend waren sie nicht bemerkt worden.
Sie brauchten den größten Teil des restlichen Tages, um zurückzufliegen, und Wren nutzte die Zeit, um über das nachzudenken, was sie dem Hohen Konzil an diesem Abend sagen wollte. Sie ertappte sich bei dem Gedanken, daß es schön wäre, einfach weiterfliegen und an einen Ort reisen zu können, der so weit entfernt war, daß die Föderation sie niemals finden würde. Aber natürlich gab es keinen solchen Ort. Denn selbst wenn die Föderation sie nicht finden konnte, die Schattenwesen konnten es. Sie hatten es auf Morrowindl bewiesen. Die Schattenwesen verbreiteten ihre Krankheit überall, und niemand würde jemals wieder vor ihr sicher sein, bevor nicht ein Heilmittel gefunden war.
Die Sonne ging schon fast unter, als Arborlon, die Heimatstadt der Elfen, wieder in Sicht kam. Sie war eine Abstufung von Holzfarben, Metallstreben und Flecken hellen Stoffs inmitten des Grün. Spirit flog in weitem Bogen über den Rill Song. Das blaue Wasser des Flusses bekam im schwindenden Licht Diamantspitzen, und schließlich landete der Rock sanft auf den grasbewachsenen Klippen des Carolan. Wren hatte sich kaum aus ihren Gurten gelöst und war zur Erde geglitten, als die Bürgerwehr, Triss allen voran, auch schon von der Stadt herabeilte, um sicherzustellen, daß ihr nichts geschähe. Sie winkte ihnen beruhigend zu, lächelte zur Begrüßung und beugte sich dann schnell zu Tiger Ty hinüber.
»Kein Wort davon, was wir gesehen haben«, flüsterte sie. »Noch nicht.«
Die glühend schwarzen Augen des Flugreiters hielten sie fest. »Bis Ihr Euch mit dem Hohen Konzil trefft?«
Sie nickte. »Bis dann.«
»Es wird ihnen nicht gefallen, was Ihr ihnen zu sagen habt – nicht, daß das etwas Neues wäre. Holzköpfige Maultiere!«
Sie lächelte schnell und verstohlen. »Ihr kennt mich. Ich möchte unnötige Schwierigkeiten immer vermeiden.«
Das rauhe Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. »Trefft Ihr sie heute abend?«
»Wahrscheinlich noch in dieser Stunde.«
»Habt Ihr etwas dagegen, wenn ich mich dazusetze? Und ein wenig dabei helfe, Schwierigkeiten zu vermeiden?«
Sie warf ihm einen dankbaren Blick zu. »Danke, Tiger Ty. Die Flugreiter sollten dabei auch vertreten sein. Ihr könnt höchstwahrscheinlich teilnehmen.«
Sie wandte sich dann ab, als Triss und die anderen Mitglieder der Bürgerwehr herankamen. Erleichterung lag auf den harten Gesichtern.
»Mylady, seid Ihr wohlauf?« fragte Triss leise. Das war seine übliche Begrüßung. Er hatte von Morrowindl noch immer Kratzer und Quetschungen von ihrem Kampf mit dem Wisteron. Sein gebrochener linker Arm war geschient worden und ruhte in einer Stoffschlinge. Aber sein hageres Gesicht zeigte wieder Stärke, und Zuversicht und Entschlossenheit spiegelten sich in seinen Augen. Es war ihm besser gelungen als ihr, die Zerreißprobe auf Morrowindl zu verarbeiten.
»Es geht mir gut«, antwortete sie, auch das war ihre übliche Erwiderung. »Ich möchte, daß Ihr die Mitglieder des Hohen Konzils zusammenruft, Triss. Sie alle, noch in dieser Stunde.«
»Ja, Mylady«, bestätigte er, wandte sich ab und verschwand über die Klippe.
Wren winkte kurz Tiger Ty zu und ging dann hinter Triss her. Sie beschrieb einen Bogen auf die Gärten des Lebens und den Elessedilpalast zu. Die Schatten vertieften sich, und die Luft war angefüllt von quälenden Essensgerüchen. Sie griff in ihre Tunika und holte Faun hervor, um ihn auf ihre Schulter zu setzen, während sie weiterging. Sie atmete die Waldluft ein und streckte sich über die Essensgerüche hinweg nach den Baum- und Grasdüften aus, die dahinter lagen. Kühl und tröstlich in der ersterbenden Hitze des Tages wehte eine Brise vom Fluß herauf.
Mitglieder der Bürgerwehr verteilten sich um sie herum. Sie würden jetzt bei ihr bleiben, wo auch immer sie hinging, vollständig verschmolzen mit der Dunkelheit, unsichtbare Beschützer gegen jede Art von Bedrohung. Sie lächelte. Sie sorgten sich so um ihre Sicherheit, und doch war sie eher in der Lage, sich gegen Gefahren zu schützen als sie, besser geübt und besser ausgerüstet. Sie hielten sich für notwendig, und sie tat nichts, um diesen Glauben zu entkräften. Aber sie wußte immer, wo sie waren, und konnte sie immer dort draußen spüren, während sie über sie wachten. Sogar in der tiefsten Nacht. Sie war darin geübt, sich solcher Dinge bewußt zu sein, seit sie ein Kind gewesen war. Dafür hatte sie den besten Lehrer gehabt.
Garth. Die Erinnerungen drangen auf sie ein, und sie verdrängte sie. Garth war tot.
Sie erreichte den Eingang zu den Gärten des Lebens. Die Schwarze Wache stand in Habachtstellung, als sie sich näherte. Sie beschützte den Ellcrys, den Baum des Verbotenen. Ihre Augen folgten ihr, während sie vorbeiging, obwohl sie sie nicht beachtete. Sie betrat die Gärten und lauschte in deren Abgeschiedenheit auf das Zirpen und Klicken erwachender Insekten, roch die Blumen und Gräser hier deutlicher, den reichen Duft der schwarzen Erde und sah die Dunkelheit herabsinken. Sie kletterte den Hügel hinauf zu der Stelle, an der der Ellcrys stand, und blieb davor stehen. Sie tat dies jede Nacht, und es war zu einem Ritual geworden. Manchmal tat sie nichts anderes, als dort zu stehen, zu schauen und nachzudenken. Manchmal streckte sie die Hand aus und berührte den Baum, als wolle sie ihn wissen lassen, daß sie da war. Den Ellcrys zu besuchen, schien ihr neue Kräfte zu verleihen, frische Entschlossenheit, ihr Leben weiterzuführen. Die Verwandtschaft, die sie dem Baum gegenüber empfand, gegenüber der Frau, die er einst gewesen war, gegenüber seiner Kraft, stärkte sie. Von Fleisch und Blut zu Blättern und Zweigen, von Frau zu Baum, von sterblichem zu ewigem Leben.
Auf ihrer Schulter rieb sich Faun an ihrem Hals, als wolle er ihr versichern, daß alles in Ordnung sei.
Alle Rassen benötigten ein Heilmittel, sann sie, indem sie das Thema wechselte, wenn nicht sogar die Stimmung, und dachte erneut an die Armee, die sich näherte, an die Bedrohung durch die Schattenwesen, die sie beenden mußte. Dafür mußte sie einen Weg finden. Es würde mehr notwendig sein, als die Elfen bieten konnten, um das zu vollbringen, das wußte sie. Soviel hatte Allanon den Ohmsfords gesagt, als er sie zur Erfüllung ihrer verschiedenen Aufgaben ausgesandt hatte – Par, um das Schwert von Shannara zu finden, Walker Boh, um die Druiden und Paranor zu finden, und Wren, um die Elfen zu finden. Hatten Par und Walker genauso viel Erfolg gehabt wie sie? Waren jetzt alle Aufgaben erfüllt? Sie wußte, daß sie es herausfinden mußte. Irgendwie mußte sie mit den anderen, die sich am Hadeshorn versammelt hatten, in Verbindung treten. Einerseits mußte sie erfahren, was aus ihnen geworden war, und andererseits mußte sie sie davon in Kenntnis setzen, was ihr widerfahren war. Sie mußte ihnen die Wahrheit über die Schattenwesen sagen, daß die Schattenwesen Elfen waren, die die alte Feenmagie wiederentdeckt hatten und auf die gleiche Weise wie fünfhundert Jahre zuvor der Dämonenlord und seine Schädelträger durch sie vernichtet worden waren. Wie sie diese Magie entdeckt hatten und wie sie sie unterstützte, blieb ein Geheimnis. Aber das Wissen, das sie hatte, mußte an die anderen weitergegeben werden. Sie spürte es instinktiv. Bis das vollbracht war, würde jegliches Heilmittel gegen die Krankheit der Schattenwesen unerreichbar bleiben.
Was aber war zu tun? Einige unter den Elfen waren bereits aus Arborlon hinaus in weiter entfernte Gebiete des Westlands gezogen, um dort neue Heime zu errichten. Farmer hatten begonnen, sich im Sarandanon niederzulassen, in dem fruchtbaren Tal, das dem Elfenvolk jahrhundertelang als Kornkammer gedient hatte. Fallensteller und Jäger hatten begonnen, nördlich zur Breakline und südlich zum Rock Spuren zu ziehen. Handwerker waren bestrebt, neue Märkte für ihre Waren zu eröffnen. Überall drängte man darauf, alte Heimstätten und Städte erneut aufzusuchen. Und am wichtigsten von allem war, daß die Heiler und ihre Gehilfen ausgezogen waren, um jene Stellen aufzusuchen, an denen die Krankheit des Westlands am schlimmsten war und um dort zu versuchen, ihre Verbreitung einzudämmen – womit sie eine Elfentradition fortführten, die bereits seit Anbeginn der Zeit bestand. Denn die Elfen waren schon immer Heiler gewesen, ein Volk, das eins mit der Erde zu sein glaubte, in die es hineingeboren worden war, die Künder jener Philosophie, daß der Welt die sie ernährte, etwas zurückgegeben werden mußte. Wie sich auch die Elfenheiler in Storlock um die Menschen der Erde sorgten, waren die Elfen im Gegenzug der Erde der Menschen verschrieben.
Aber sie und die Farmer, Fallensteller, Jäger, Händler und andere waren im Westland in Gefahr, es sei denn, das Elfenheer beschützte sie vor der von außen aufkommenden Bedrohung. Wenn die Königin der Elfen keinen Weg finden konnte, die Föderation lang genug in Schach zu halten, um den Schattenwesen ein Ende bereiten zu können...
Sie ließ den Gedanken unbeendet und wandte sich angewidert von dem Ellcrys ab. So vieles war notwendig, und sie konnte es, so sehr sie es auch versuchte, sicher nicht allein bewerkstelligen.
Der Himmel über den Bäumen im Westen war scharlachrot gestreift, ein bunter Fleck vor dem gebirgigen Horizont, der blutrot leuchtete. Oder zumindest war das das Bild, das in Wren Elessedils Geist aufflammte.
Deine Erinnerungen werden dich niemals verlassen, dachte sie – selbst jene nicht, von denen du es dir wünschst, selbst jene nicht, von denen du dir wünschen würdest, daß sie nie gewesen wären.
Sie ging aus den Gärten hinaus hinunter, den Blick auf den Boden vor sich gerichtet. Sie fragte sich, was mit Stresa geschehen war. Es war Tage her, seit sie den Stachelkater zuletzt gesehen hatte. Anders als Faun fühlte sich Stresa eher in der Wildnis zu Hause und zog die Wälder der Stadt vor. Er hatte sein Heim irgendwo in der Nähe von Arborlon errichtet und tauchte hin und wieder unerwartet auf, weigerte sich aber beharrlich, im Heim der Elessedilfamilie zu leben. Stresa war zufrieden mit seiner neuen Heimat und glücklich in seinem einsamen Leben, und er hatte mehr als einmal versprochen, daß er dasein würde, wenn sie ihn jemals brauchte. Das Problem war, daß sie ihn mehr brauchte, als sie zugeben mochte. Aber Stresa hatte für sie bereits viel durchgemacht, und er war jetzt glücklich. Sie hatte nicht das Recht, neuerliche Forderungen an ihn zu stellen, nur um ihre eigene Unsicherheit zu lindern.
Dennoch vermißte sie ihn sehr. Stresa, dieses seltsame, geheimnisvolle Wesen aus der Welt, die die Elfen soviel gekostet hatte, würde immer ihr Freund sein.
Es war jetzt dunkel, denn die Sonne war vollständig unter dem westlichen Horizont verschwunden. Die Sterne waren ein Gewirr punktförmiger Lichter, und der Mond östlich über den Baumwipfeln eine fahler werdende Sichel. Die Nachtgeräusche klangen sanft und tröstlich und erfüllt vom Versprechen des Schlafs. Wenn es für sie doch auch so wäre, dachte sie. Der Schlaf würde in dieser Nacht nur schwer kommen, denn sie mußte sich mit dem Hohen Konzil treffen und über das Schicksal der Elfen entscheiden. Und vielleicht auch über ihr eigenes.
Sie entfernte sich von den Gärten, ging erneut an der Schwarzen Wache vorbei, lauschte auf die kaum wahrnehmbaren Geräusche der Bürgerwehr, die ihr wie Schatten folgten. Manchmal stellte sie fest, daß sie sich wünschte, wieder eine Fahrende zu sein und nicht mehr. Daß sie ihr Leben einfach neu beginnen, aller Zwänge ihres Verwalteramtes enthoben sein und neue Freiheit erreicht haben wollte. Sie würde es aufgeben, Königin zu sein. Sie würde die Elfensteine aufgeben, jene drei blauen Talismane, die in dem Lederbeutel an ihrem Hals ruhten, das Symbol der Magie, die ihr von ihrer Mutter hinterlassen worden war, der Macht, die ihr zur Handhabung übergeben worden war. Sie würde ihr Leben verströmen, als wäre es die alt gewordene Hülle einer Jahreszeit, und sie würde zu...
Zu was? Zu was würde sie werden, fragte sie sich?
In Wahrheit wußte sie es nicht mehr – vielleicht, weil es nicht mehr wichtig war.
Als sie kaum eine Viertelstunde später die Räume des Hohen Konzils betrat, warteten diejenigen, die sie berufen hatte, bereits. Sie saßen um den Konziltisch verteilt, an dem die Königin den Vorsitz hatte. Sie trat mit Tiger Ty im Schlepptau ein (er hatte bis dahin draußen gewartet, denn er war unsicher, ob er in ihrer Abwesenheit willkommen sein würde) und ging direkt zu ihrem Platz am Kopf des Tisches. Jedermann erhob sich ehrerbietig, aber sie winkte alle mechanisch wieder auf ihre Plätze.
Der Raum war höhlenartig. Hohe Mauern aus Stein und Holz stützten eine wie ein Stern geformte Decke aus massiven Eichenbalken. Am entgegengesetzten Ende wurde der Raum von einem Podium beherrscht, das den Thron der Elfenkönige und -königinnen trug. Er war mit den Standarten der regierenden Elfenhäuser geschmückt, und in seiner Mitte stand der alte runde Tisch mit den einundzwanzig Plätzen. Bänke, die Sitzplätze für die zuschauende Öffentlichkeit bildeten, wenn das vollständige Konzil tagte, standen entlang jeder Wand.
Heute abend waren außer ihr selbst sechs Mitglieder anwesend, nur der innere Kreis des Konzils. Triss war da, als Hauptmann der Bürgerwehr, Eton Shart als Erster Verwalter, Barsimmon Oridio als Hauptmann der Elfenarmeen, Perek Arundel als Handelsverwalter, Jalen Ruhl als Vertreter der Landesverteidigung und Fruaren Laurel als Vertreterin der heilenden Zunft. Nur Laurel war neu in dem Kreis. Sie war auf Empfehlung des Konzils ernannt worden, nachdem Wren mitgeteilt hatte, daß sie einen Verwalter haben wollte, der für die Heilung des Elfenwestlands verantwortlich zeichnen sollte. Laurel arbeitete hart, eine Frau in mittleren Jahren, mit einer beständigen, liebenswürdigen Art. Aber wie Wren war auch sie unerfahren. Sie nahm in den Augen des restlichen Konzils eine zweitrangige Stellung ein. Wren mochte sie, war sich aber nicht sicher, ob man während eines Kampfes auf sie zählen konnte.
Heute abend würde sie es herausfinden.
Sie stand vor ihrem Stuhl und sah das Hohe Konzil an. »Ich habe den Flugreiter Tiger Ty gebeten, an dieser Sitzung teilzunehmen, da die Angelegenheit seine Leute direkt betrifft.« Sie brachte dies als Feststellung hervor und bat nicht um Zustimmung. Dann winkte sie den knorrigen Flugreiter von seinem Platz an der Tür heran. »Setzt Euch bitte dorthin«, sagte sie und deutete auf einen leeren Platz neben Fruaren Laurel.
Tiger Ty setzte sich. Im Raum wurde es still, während die Versammelten darauf warteten, daß Wren sprach. Die Türen zu dem Raum waren geschlossen, und bis zu dem Zeitpunkt auf Wrens Befehl hin von der Bürgerwehr versiegelt, an dem sie die Erlaubnis erteilen würde, sie wieder zu öffnen. Fackeln brannten in ihren in den Stein eingelassenen Klammern und in freistehenden Pfählen an der Vorder- und Rückseite des Raums. Rauch stieg zur Decke auf und verschwand durch Luftscharten hoch über ihnen. Der Rauch hinterließ einen leicht kupfrigen Geschmack in der Luft des Raums.
Wren streckte sich. Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihre Kleidung zu wechseln, denn sie hatte beschlossen, daß sie dem Diktat der Formalitäten keine Zugeständnisse machen wollte. Sie würden sie so akzeptieren müssen, wie sie war. Allerdings hatte sie Faun in ihren Räumen zurückgelassen. Sie wünschte, Cogline oder Walker Boh oder sonst jemand derer, die ihr einst beigestanden hatten und jetzt tot oder verstreut waren, wären bei ihr, aber es war sinnlos, sich Hilfe von irgendeiner Seite zu erhoffen. Wenn sie heute abend mit dem, was sie vorhatte, Erfolg haben wollte, würde sie dies allein bewerkstelligen müssen.
»Verwalter, Mitglieder des Konzils, meine Freunde«, begann sie und sah von einem Gesicht zum anderen. Ihre Stimme war gemessen und ruhig. »Wir sind alle einen sehr langen Weg von dort gekommen, wo wir noch vor wenigen Wochen gewesen sind. Wir haben viele Veränderungen im Leben des Elfenvolks stattfinden sehen. Keiner von uns hatte vorhersehen können, was geschehen würde. Vielleicht wünschen sich einige von uns, daß sich die Dinge anders entwickelt hätten. Aber wir sind hier, und es gibt kein Zurück. Morrowindl liegt für immer hinter uns, und die Vier Länder vor uns. Als wir vereinbart hatten, zurückzukommen, wußten wir, was uns erwarten würde – ein Kampf mit der Föderation, mit den Schattenwesen, mit heimtückisch zerstörender Elfenmagie, mit unserer Vergangenheit, die übertragen wurde, um zu unserer Zukunft zu werden. Wir wußten, was uns erwarten würde, und jetzt müssen wir uns dem stellen.«
Sie hielt inne, aber ihr Blick blieb ruhig. »Gestern haben die Flugreiter eine Föderationsarmee ausgemacht, die aus dem tiefen Südland heraufkommt. Heute bin ich, zusammen mit Tiger Ty, südwärts geflogen, um selbst einen Blick darauf zu werfen. Wir haben die Armee im Tirfing ausgemacht, einen Tagesmarsch über den Myrian hinweg. Die Armee ist zehnmal so groß wie unsere und zieht mit Belagerungs- und Kampfgerätschaften und Proviant für gut einen Monat heran. Sie kommen von Norden und von Westen. Sie suchen uns. Ich würde sagen, daß sie uns spätestens in zehn Tagen erreicht haben werden.«
Sie hielt inne und wartete auf eine Reaktion. Ihre Augen wanderten von einem Gesicht zum anderen.
»Zehnmal so groß wie unsere?« wiederholte Barsimmon Oridio zweifelnd. »Wie genau ist Eure Schätzung, Mylady?«
Wren hatte so etwas erwartet. Sie gab ihm eine Aufzählung, Kolonne für Kolonne, Einheit für Einheit, Fahrzeuge und Wagen, Fußsoldaten und Reiter und ließ nichts aus. Als sie geendet hatte, war der Hauptmann ihrer Armeen blaß geworden.
»Eine Armee dieser Größe wird uns auslöschen«, sagte Eton Shart leise. Er war gelassen wie immer, seine Hände waren vor ihm auf dem Tisch gefaltet und sein Gesichtsausdruck unlesbar.
»Wenn wir uns mit ihr einlassen«, fügte Jalen Ruhl hinzu. Der Vertreter der Landesverteidigung war schmächtig, seine Schultern waren gebeugt und seine Stimme ein tiefes Poltern in seiner schmalen Brust. »Das Westland ist groß.«
»Wollt Ihr vorschlagen, daß wir uns verbergen sollen?« fragte Barsimmon Oridio ungläubig.
»Sich zu verbergen wird nicht funktionieren«, unterbrach Eton Shart scharf. »Wir können die Stadt nicht verlassen, oder wir müssen den Ellcrys aufgeben. Wenn der Ellcrys zerstört wird, kommt das Verbotene zum Zuge. Besser wir gehen alle zugrunde, als daß das geschieht.«
Eine lange Pause entstand, während die Verwalter einander zweifelnd ansahen.
»Vielleicht irgendeine Art von Konzession?« schlug Perek Arundel vor, der von jeher Kompromisse gesucht hatte. Er war auf weiche Art gutaussehend, eher prahlerisch, aber gerissen und vermochte ein Problem schnell zu durchdenken. Er sah sich um. »Es muß einen Weg geben, Frieden mit dem Koalitionskonzil zu schließen.«
Eton Shart schüttelte erneut den Kopf. »Das ist schon zuvor versucht worden. Das Koalitionskonzil ist eine Marionette der Schattenwesen. Jeder Kompromiß wird zur Besetzung des Westlandes führen und zu dem Zugeständnis, der Föderation zu dienen. Ich glaube nicht, daß wir den ganzen Weg von Morrowindl hierher zurückgelegt haben, um uns lebenslänglich das einzuhandeln.«
Er schaute Wren an. »Was denkt Ihr, Mylady? Ich bin sicher, daß Ihr die Lage bereits für Euch selbst abgeschätzt habt.«
Wieder war sie vorbereitet. »Es scheint, als hätten wir folgende Auswahlmöglichkeiten: Entweder befestigen wir Arborlon und erwarten die Föderationsarmee hier, oder wir ziehen mit unserer Armee hinaus, um ihnen draußen entgegenzutreten.«
»Hinausziehen, um ihnen draußen entgegenzutreten?« fragte Barsimmon Oridio entsetzt. Sein schwerer Körper rührte sich kampfbereit, und sein betagtes Gesicht legte sich in Falten. »Ihr habt selbst gesagt, daß sie uns zehnfach überlegen sind. Welchen Sinn hätte es, einen Kampf zu erzwingen?«
»Es würde uns den Vorteil verschaffen, daß wir uns den Zeitpunkt und den Ort und die Umstände des Kampfes nicht diktieren lassen müssen«, erwiderte sie. Sie stand noch immer und behielt diese Haltung auch bei, damit sie weiterhin auf sie hinabsehen konnte und sie zu ihr heraufsehen mußten. »Und ich habe nichts davon gesagt, daß wir einen Kampf erzwingen sollen.«
Erneut entstand Schweigen. Barsimmon Oridio errötete. »Aber Ihr sagtet, daß...«
»Sie sagte, wir könnten hinausziehen und ihnen entgegentreten«, unterbrach Eton Shart ihn. Er hatte sich inzwischen interessiert vorgebeugt. »Sie hat nichts davon gesagt, daß wir sie bekämpfen sollen.« Sein Blick blieb auf Wren gerichtet. »Aber was würden wir tun, wenn wir dort draußen wären, Mylady?«
»Ihnen die Hölle heißmachen. Sie ablenken. Zuschlagen und davonlaufen. Was auch immer nötig sein wird, um ihr Vorankommen zu verzögern. Sie bekämpfen, wenn wir eine Gelegenheit bekommen, sie ernstlich zu verletzen, aber eine direkte Konfrontation vermeiden, wenn wir verlieren würden.«
»Ihr Vorankommen verzögern«, wiederholte der Erste Verwalter nachdenklich. »Aber früher oder später werden sie sich uns widersetzen – oder Arborlon erreichen. Was dann?«
»Es wäre besser, wenn wir unsere Zeit damit verbringen würden, Fallen aufzustellen, die Stadt zu befestigen und Vorräte zu horten«, schlug Perek Arundel vor. »Wir haben den Dämonen widerstanden, als der Ellcrys vor zweihundert Jahren versagt hat. Wir können auch der Föderation widerstehen.«
Barsimmon Oridio grunzte und schüttelte den Kopf. »Betrachtet doch die Geschichte, Perek. Die Tore der Stadt wurden eingenommen und wir wurden überrannt. Wenn das Mädchen Chosen sich nicht erneut in den Ellcrys verwandelt hätte, wäre es für uns vorbei gewesen.« Er wandte seinen schweren Kopf ab. »Außerdem hatten wir in diesem Kampf Verbündete – nicht viele, aber einige Zwerge und das Legionsfreikorps.«
»Vielleicht werden wir wieder Verbündete haben«, erklärte Wren plötzlich und zog damit wieder aller Augen auf sich. »In den Bergen nördlich von Callahorn sammeln sich die Geächteten, eine beträchtliche Anzahl. Es gibt den Zwergenwiderstand im Ostland und die Trollvölker im Norden. Einige von ihnen könnten vielleicht davon überzeugt werden, uns zu helfen.«
»Das ist nicht sehr wahrscheinlich«, sagte der Hauptmann ihrer Heere schroff und schneidend, um der Angelegenheit ein Ende zu setzen. »Warum sollten sie das tun?«
Wren hatte die Diskussion dahin gebracht, wo sie sie hatte haben wollen. Sie hatte das Konzil dazu gebracht, ihr zuzuhören und nach einer Lösung für ein scheinbar unlösbares Dilemma zu suchen.
Sie richtete sich auf. »Weil wir ihnen einen Grund geben werden, Bar.« Sie gebrauchte seinen Kosenamen so ungezwungen und vertraulich, wie Ellenroh es getan hatte. »Weil wir ihnen etwas geben werden, was sie zuvor nicht gehabt haben. Einheit. Wir können die Rassen zu einem gemeinsamen Zweck gegen ihre Feinde vereinen. Das ist eine Chance, die Schattenwesen zu vernichten.«
Eton Shart lächelte zaghaft. »Worte, Mylady. Was bedeuten sie?«
Sie sah ihn an. Er war das größte Hindernis in dieser Angelegenheit. Sie mußte seine Unterstützung erringen. »Ich werde Euch sagen, was sie bedeuten, Eton. Sie bedeuten, daß wir zum ersten Mal seit drei Jahrhunderten eine Chance haben, sie zu besiegen.« Sie legte nachdrücklich eine Pause ein. »Erinnert Ihr Euch, was mich dazu gebracht hat, die Elfen zu suchen, Erster Verwalter? Laßt mich die Geschichte noch einmal erzählen.«
Und das tat sie, die ganze Geschichte von ihrer Reise zum Hadeshorn und dem Schatten Allanons bis zu der Suche nach Morrowindl und Arborlon. Sie wiederholte Allanons Aufgaben für die Ohmsfords. Sie hatte bisher niemandem außer Triss die Elfensteine gezeigt, aber sie nahm sie jetzt, nachdem sie ihre Erzählung beendet hatte, hervor, schüttete sie in ihre Hand und hielt sie gut sichtbar vor sich.
»Dies ist mein Vermächtnis«, sagte sie und ließ alle ihre Hand betrachten. »Ich wollte es nicht. Ich habe nicht darum gebeten, und mehr als einmal habe ich mir gewünscht, es loszuwerden. Aber ich habe meiner Großmutter versprochen, es zum Nutzen der Elfen zu gebrauchen, und das werde ich auch. Magie, um Magie zu bekämpfen. Die Schattenwesen müssen mit mir rechnen und mit den anderen, die der Schatten Allanons berufen hat – in manchen Augenblicken meine Verwandten –, und mit jedem, der dazu bestimmt ist, das Schwert von Shannara und die Druidenmacht zu gebrauchen. Ich denke, daß alle Talismane zurückgebracht wurden, nicht nur die Elfensteine – alle Formen von Magie, die die Schattenwesen fürchten. Wenn wir ihre Macht verbinden und die Männer und Frauen der Geächteten und des Widerstands und vielleicht sogar die Trolle des Nordlands vereinen können, haben wir die Chance, die wir brauchen, um diesen Kampf zu gewinnen.«
Eton Shart schüttelte den Kopf. »An all das sind viele Bedingungen geknüpft, Mylady.«
»Das Leben ist voller Bedingungen, Erster Verwalter«, erwiderte sie. »Es gibt keine Garantien. Nichts ist sicher. Besonders für uns. Aber erinnert Euch an folgendes: Die Schattenwesen kommen aus unseren Reihen, und ihre Magie ist unsere. Wir haben sie geschaffen. Wir haben ihnen durch unsere fehlgeleiteten Bemühungen, etwas wiederzuerobern, was besser in der Vergangenheit geblieben wäre, Leben gegeben. Ob es uns gefällt oder nicht, sie liegen in unserer Verantwortung. Ellenroh wußte das, als sie entschied, daß wir in die Vier Länder zurückkehren müßten. Wir sind hier, Erster Verwalter, um die Dinge ins rechte Licht zu rücken. Wir sind hier, um das zu Ende zu führen, was wir begonnen haben.«
»Und natürlich werdet Ihr uns dabei anführen?«
Er betonte die Frage gerade ausreichend, um seine Zweifel an ihrer Kraft und Fähigkeit für diese Aufgabe erkennen zu lassen. Wren unterdrückte ihre Verärgerung.
»Ich bin die Königin«, erklärte sie ruhig.
Eton Shart nickte. »Aber Ihr seid sehr jung, Mylady. Und Ihr habt noch nicht lange regiert. Ihr müßt einiges Zögern von jenen, die schon länger bei den Regierungsgeschäften geholfen haben, erwartet haben.«
»Was ich erwarte, ist Eure Unterstützung, Erster Verwalter.«
»Bedingungslose Unterstützung für irgend jemanden wäre Narrheit.«
»Ein Widerwille, zuzugeben, daß in der Jugend vielleicht auch Weisheit liegt, wäre ebenfalls Narrheit. Werdet deutlicher.«
Eton Sharts sanftes Gesicht spannte sich an. Überall rund um den Tisch war unbehagliche Bewegung zu spüren. Niemand sah ihn an. Er stand in dieser Angelegenheit genauso allein wie Wren.
»Ich will Euch nicht in Frage stellen...«, begann er.
»Doch, das tut Ihr, Erster Verwalter«, fauchte sie.
»Ihr müßtet daran denken, daß ich nicht dabei war, als Ihr zur Königin ernannt wurdet, und ich...«
»Haltet genau jetzt ein!« Jetzt war sie wirklich zornig, und sie machte sich nicht die Mühe, es zu verbergen. »Ihr habt recht, Eton Shart. Ihr wart nicht dabei. Ihr wart nicht da, um Ellenroh Elessedil sterben zu sehen. Oder Gavilan. Oder die Eule. Oder Eowen Cerise. Ihr wart nicht da, um sehen zu können, wie Garth uns bei unserem Kampf gegen den Wisteron sein Leben geopfert hat. Ihr mußtet ihm nicht sterben helfen, Erster Verwalter, wie ich es tun mußte, denn ihn am Leben zu lassen, hätte ihn dazu verdammt, eines der Schattenwesen zu werden!«
Sie brachte sich mühsam wieder unter Kontrolle. »Ich habe alles aufgegeben, um die Elfen zu retten – meine Vergangenheit, meine Freiheit, meine Freunde, alles. Ich bereue es nicht. Ich habe es getan, weil meine Großmutter mich darum gebeten hat und weil ich sie geliebt habe. Ich habe es getan, weil die Elfen mein Volk sind, und obwohl ich lange Zeit fortgewesen bin, bin ich dennoch immer noch eine von ihnen. Eine von Euch, Erster Verwalter. Damit ist meine Erklärung beendet. Ich bin weder Euch noch jemand anderem Rechenschaft schuldig. Entweder bin ich Königin oder nicht. Ellenroh glaubte, ich sei es. Das hat mir genügt. Es sollte auch Euch genügen. Damit endet die Diskussion.«
Sie ließ ihren Blick bedeutungsvoll auf Eton Shart ruhen. »Wir müssen Freunde und Verbündete sein, Eton Shart, wenn wir eine Chance gegen die Föderation und die Schattenwesen haben wollen. Es muß zweifelsfreies Vertrauen zwischen uns bestehen. Das wird nicht immer leicht sein, aber wir müssen daran arbeiten, einander zu verstehen. Wir müssen uns Unterstützung und Ermutigung geben, nicht Herabsetzung und Verachtung. Es gibt in unserem Leben keinen Platz für weniger. Obwohl wir es uns vielleicht anders wünschten, müssen wir akzeptieren, was das Schicksal für uns bestimmt hat.«
Sie atmete tief durch und sah die anderen an. »Wie auch Ellenroh es einst getan hat, bitte ich Euch jetzt um Eure Unterstützung. Ich denke, wir sollten hinausziehen, um der Föderationsarmee entgegenzutreten und ihr das Leben so schwer wie möglich zu machen. Ich denke, wir werden feststellen, daß es andere gibt, die uns helfen werden. Uns zu verbergen, das wird uns nichts nützen. Wenn wir uns isolieren, ist es genau das, worauf die Föderation hofft. Wir dürfen ihnen nicht die Befriedigung geben, uns ängstlich und allein vorzufinden. Wir sind das älteste Volk auf Erden, und diese Rolle müssen wir erfüllen. Wir müssen die Mitglieder der anderen, jüngeren Rassen anführen. Wir müssen ihnen Hoffnung geben.«
Sie sah sie an. »Wer steht hinter mir?«
Triss erhob sich sofort. Tiger Ty erhob sich mit ihm, aber er wirkte entschieden unbehaglich. Dann stand zu Wrens freudiger Überraschung auch Fruaren Laurel auf, die die ganze Zeit über kein Wort gesagt hatte.
Sie wartete. Vier waren aufgestanden, vier waren sitzengeblieben. Von den Vieren, die sich erhoben hatten, waren nur drei Mitglieder des Hohen Konzils. Tiger Ty war nur ein Abgesandter seines Volks. Wenn sich nichts änderte, würde es Wren an der Unterstützung mangeln, die sie brauchte.
Sie wandte ihren Blick Eton Shart zu, streckte ihm dann ihre Hand hin. Es war eine gleichzeitig versöhnliche, wie auch herausfordernde Geste, und er sah sie mit fragendem Blick überrascht an, zögerte einen Moment unentschlossen und streckte dann seinerseits die Hand aus, um die ihre zu ergreifen. Und dann erhob er sich. »Mylady«, sagte er und verbeugte sich. »Wie Ihr bereits sagtet: Wir müssen zusammenhalten.«
Auch Barsimmon Oridio erhob sich. »Besser ein Kampfhahn als ein gerupftes Huhn«, grollte er. Er schüttelte den Kopf und sah Wren dann mit beinahe bewunderndem Blick aus seinen betagten Augen an. »Eure Großmutter hätte uns auf die gleiche Weise beraten, Mylady.«
Jalen Ruhl und Perek Arundel standen widerwillig auf, wobei sie einander hilflose Blicke zuwarfen. Sie waren nicht überzeugt, aber sie wollten sich ihr nicht allein entgegenstellen. Wren nickte ihnen freundlich zu. Sie würde nehmen, was sie bekommen konnte.
»Danke«, sagte sie ruhig. Sie drückte Eton Shart die Hand und ließ dann los. »Dank Euch allen. Wir sollten uns in kommenden Zeiten daran erinnern, daß nur unser Glaube und unser gegenseitiges Vertrauen uns erhalten kann.«
Sie blickte in die Runde und betrachtete jedes Gesicht, genauso wie die Augen der anderen auf sie gerichtet waren. Zumindest für den Moment war sie wahrhaft ihre Königin.