Innerhalb von Sekunden waren sie durch die Tür zur Treppe und auf das Podest hinausgelangt. Eine Welle aus Geräuschen und Wut erhob sich aus dem Gang hinter ihnen, in dem Padishar die Föderationssoldaten in Schach hielt.
Par wirbelte herum und trat die Turmtür zu.
Wo entlang?
Von unten konnte er das Poltern von Stiefeln und die Rufe von Männern hören, die die Treppe erklommen. Hinabsteigen konnten sie nicht mehr.
»Laß mich los!« schrie Damson wütend und riß sich von ihm los. Ihre grünen Augen glänzten vor Tränen und Zorn. »Du hast ihn im Stich gelassen!«
Par hörte kaum zu. Sie mußten aufwärts gehen, den Weg zurück, den sie gekommen waren, dorthin zurück, wo der Maulwurf wartete. Es sei denn, Padishar hatte recht gehabt, und der Maulwurf hatte sie tatsächlich verraten. Denkbar war es. Der Maulwurf war vielleicht vor Tagen, als die Föderation sie zuerst in seinem Lager gefunden hatte, gefangengenommen worden. Aber, nein, wenn er da gefangengenommen worden wäre, hätte er ihnen sicherlich nicht zur Flucht aus der Kornmühle verholfen. Er hätte zugelassen, daß die Föderation sie erwischt und es damit gutsein lassen. Aber was war, wenn er gefangengenommen worden war, als er dieses letzte Mal auf die Suche nach Damson gegangen war – gefangengenommen und bekehrt und in ein Schattenwesen verwandelt?
Damson zog an seinem Arm. »Wir müssen zurückgehen, Par! Er braucht uns! Er ist mein Vater!« Sie knirschte mit den Zähnen. »Er ist auch zu dir zurückgekommen!«
Par wirbelte zu ihr herum, packte ihre Arme und zog sie so nah an sich heran, daß er die Hitze ihres Atems auf seinem Gesicht spüren konnte. »Ich werde dies nur einmal sagen. Ich habe ihm mein Versprechen gegeben. Was auch immer geschehen würde, du solltest in Sicherheit gebracht werden. Er hat sich für dich aufgegeben, Damson, und das darf nicht umsonst gewesen sein! Jetzt lauf!«
Er wandte sie abrupt um und schob sie auf die Treppe zu. Sie rannten die Stufen hinauf und hörten, wie die Geräusche der Verfolger näherkamen. Pars Gesicht zeigte grimmige Entschlossenheit. Wenn der Maulwurf sie verraten hatte, waren sie erledigt, egal, wohin sie liefen. Wenn er es nicht getan hatte, bestand ihre einzige Chance darin, ihn zu finden.
Sie erreichten den nächsten Treppenabsatz, und Par hielt vergebens nach der verborgenen Tür Ausschau. Er konnte sich nicht daran erinnern, wo sie war, denn er hatte nicht gut genug aufgepaßt, als sie hindurchgegangen waren. Jetzt sah alles gleich aus.
»Maulwurf!« rief er verzweifelt.
Sofort teilte sich die Wand zu seiner Linken, und das pelzige Gesicht des Maulwurfs spähte daraus hervor. »Hier! Hier, liebliche Damson!« rief er aufgeregt.
Sie eilten durch die Öffnung hindurch, und der Maulwurf schob die Wand hinter ihnen zu. »Padishar?« fragte er ängstlich, und durch die Art, wie er dies sagte, und durch den Ausdruck, der in seine feuchten Augen trat, gelangte Par zu der Überzeugung, daß kein Verrat stattgefunden hatte, selbst wenn er es niemals würde erklären können.
»Sie haben ihn«, antwortete der Talbewohner und zwang sich, Damson direkt anzusehen. Sie wandte sich sofort ab.
»Dann kommt fort von hier«, drängte der Maulwurf. Mit der Kerze in der Hand eilte er ihnen voraus. »Beeilt euch.«
Sie kehrten in die Mauern des Turms zurück und bahnten sich ihren gewundenen Weg durch die Dunkelheit. Nur noch undeutlich konnten sie die Schreie der Soldaten hören, die in einer gedämpften Kakophonie durch den Stein drangen. Sie erreichten die Kammer und durchquerten sie eilig, um zu dem dahinterliegenden Gang zu gelangen. Draußen liefen Soldaten an den Barackenfenstern vorbei und eilten zu dem Wachturm und den Toren. Fackellicht spuckte und flackerte, als es gegen die Dunkelheit eingesetzt wurde, und der Lärm von Pfeilen, die abgeschossen wurden, und metallenen Riegeln, die hart einrasteten, war ohrenbetäubend. In einem Teich der Dunkelheit an die Mauer gepreßt, hielt der Maulwurf einen Moment lang inne und winkte sie dann erneut weiter. Sie rannten geduckt durch den leeren Gang zu der Tür, durch die sie hereingekommen waren, und hasteten durch den äußeren Hof.
Die Dunkelheit war hereingebrochen, und der Mond und die Sterne waren hinter tiefhängenden und düsteren Wolken über der Klippe verborgen. Feuer warf sein rauchiges Licht wirkungslos durch die Dunkelheit. Gestalten eilten überall umher, aber es war unmöglich, ihre Gesichter zu erkennen.
»Hier entlang!« flüsterte der Maulwurf rauh.
Sie drückten sich an der Mauer entlang und bewegten sich schnell, weil jedermann sonst sich ebenfalls hastig bewegte. Sie glitten durch die Dunkelheit und waren einfach drei weitere Körper in der allgemeinen Verwirrung.
Sie hatten die Tür fast erreicht, die wieder in den Untergrund der Stadt hinabführte, als sie bedroht wurden. Ein Ruf erklang, und eine dunkle Gestalt kam aus der Dunkelheit auf sie zu. Einen Moment lang dachte Par, Padishar sei wundersamerweise entkommen, aber dann sah er die Abzeichen eines Föderationshauptmanns auf dunkler Uniform. Alle drei gefroren bei seinem Herannahen an ihrem Platz und wußten nicht, was sie tun sollten. Der Hauptmann erreichte sie schließlich, und sein dunkles, bärtiges Gesicht kam ins Licht.
Da trat Damson auf einmal vor, weich und entspannt, und lächelte ihn an. Ein Ausdruck der Verwirrung erschien auf seinem Gesicht. Sie gab ihm noch einen Augenblick und schlug ihm dann mit der Handkante dreimal ins Gesicht. Ihre Schläge waren so schnell, daß Par sie kaum sehen konnte. Sie trat dicht an ihn heran, zog sich seine Arme über die Schultern und warf ihn zu Boden. Er keuchte und versuchte zu schreien, aber ein letzter Schlag auf seine Kehle brachte ihn für immer zum Schweigen.
Damson erhob sich und drängte an Par vorbei zu der Tür, durch die der Maulwurf bereits verschwand. Par erinnerte sich daran, wie leicht sie ihn in jener Nacht im Volkspark überwältigt hatte, als er geglaubt hatte, sie sei für die Falle der Föderation verantwortlich gewesen, die Padishar und die anderen erwischt hatte. Sie hätte dies in dem Wachturm erneut tun können, erkannte er. Sie hätte ihn zwingen können, zurückzugehen, wenn sie es gewollt hätte. Warum hatte sie es dann nicht getan?
Sie befanden sich jetzt erneut in der Innenmauer und eilten wieder zu den Kellern hinab, durch die sie gekommen waren. Die Geräusche von außen verklangen jetzt und drangen immer seltener durch die Schichten von Steinblöcken. Sie erreichten die Falltür und kletterten hindurch und stiegen die Stufen zu den darunterliegenden Tunneln hinab. Von dort eilten sie schnell durch die Dunkelheit, fort von den Stadtmauern und zurück zum Zentrum der Stadt. Bald befanden sie sich tief in den Abwässerkanälen, und alles war ruhig.
»Wir sollten... wir sollten uns einfach einen Moment ausruhen«, schlug Par schließlich vor. Er war außer Atem vom Laufen, und zudem brauchte er Zeit zum Nachdenken, Zeit, zu entscheiden, was als nächstes zu tun sei.
»Hier«, sagte der Maulwurf und führte sie zu einer Plattform, die einer über ein Gewirr von Tunneln und Röhren hinwegführenden Leiter als Fundament diente. Über ihnen schien trübes Licht durch ein Gitter. Die Straßen waren ruhig und ohne Leben. »Ich werde zurückgehen und sicherstellen, daß wir nicht verfolgt werden.«
Er verschwand in die Dunkelheit und ließ die Kerze bei ihnen zurück. Der Talbewohner und das Mädchen beobachteten seinen Weggang und machten es sich dann bequem. Sie saßen mit dem Rücken an der Wand Seite an Seite nebeneinander und hatten die Kerze vor sich. Par fühlte sich ausgelaugt. Er schaute in die Dunkelheit jenseits der Kerzenflamme, und Erschöpfung breitete sich in ihm aus. Er konnte Damson atmen hören und die Hitze ihres Körpers spüren.
»Du weißt, was sie ihm antun werden«, sagte sie schließlich. Er antwortete nicht und schaute unbeirrt geradeaus. »Sie werden ihn zu einem der ihren machen. Sie werden ihn benutzen.«
Wenn es ihnen gelingt, ihn lebend zu bekommen, dachte Par. Und vielleicht nicht einmal dann. Felsen-Dall ist unberechenbar.
»Warum hast du mich nicht gezwungen, zu ihm zurückzugehen?« fragte er sie.
Es entstand ein langes Schweigen, bevor sie sprach. »Das würde ich dir niemals antun.«
Er sagte einen Moment lang nichts und ließ ihre Worte in sich nachklingen. »Es tut mir leid wegen Padishar«, sagte er schließlich. »Ich wollte ihn auch nicht zurücklassen.«
»Das weiß ich«, sagte sie leise.
Sie sagte es so entschieden, daß er zu ihr hinübersah, um sicherzugehen, daß er sie richtig verstanden hatte. Ihr Blick begegnete dem seinen. »Ich weiß«, wiederholte sie. Der Schmerz in ihrer Stimme war spürbar. »Es war nicht dein Fehler. Padishar hat dir das Versprechen abgenommen, mich zuerst zu retten. Er hätte es auch mich versprechen lassen, wenn die Situation umgekehrt gewesen wäre.« Sie schaute wieder fort. »Ich war nur ärgerlich, als ich sah...« Sie schüttelte den Kopf.
»Bist du in Ordnung?«
Sie nickte schweigend, und ihre Augen schlössen sich.
»Wissen sie, wer du bist?«
Sie schaute erneut zu ihm herüber. »Nein. Warum sollten sie?«
Er atmete tief durch. »Der Maulwurf. Das da hinten war eine Falle, Damson. Sie haben auf uns gewartet. Sie hatten irgendeinen Grund für die Vermutung, daß wir dich holen würden. Welchen besseren Grund gibt es als den, daß sie wußten, daß du Padishar Creels Tochter bist? Padishar glaubt, daß der Maulwurf uns verraten hat.«
Wieder wurde Verärgerung in ihren Augen sichtbar. »Par, der Maulwurf hat uns gerettet! Dich ohnehin. Ich hatte nur Pech. Die Föderation hat mich von den Auseinandersetzungen in den Straßen her erkannt, und sie wußten, daß ich dir geholfen hatte, aus der Kornmühle zu entkommen.« Sie zögerte. »Das war auch eine Falle, nicht wahr? Sie wußten...« Sie hielt inne. Offensichtlich war sie unsicher, wo dies hinführen würde.
»Es hätte der Maulwurf sein können«, wiederholte Par hartnäckig. »Vielleicht ist er gefangengenommen worden, als er kam, um nach dir zu suchen. Oder irgendwann davor.«
»Und er soll uns dennoch zur Flucht verholfen haben?« fragte sie ungläubig. »Warum? Welchen Sinn hätte das? Die Föderation hätte uns alle gefangengenommen, wenn er uns nicht aus dem Wachturm fortgebracht hätte.«
»Ich weiß. Das habe ich auch gedacht.« Er schüttelte den Kopf. »Aber sie finden uns immer wieder, Damson. Wie kann ihnen das gelingen? Die Schattenwesen scheinen ein Ohr an jeder Mauer zu haben. Das ist heimtückisch. Manchmal scheint es, als könnte man niemandem mehr trauen.«
Sie lächelte bitter. »Das kann man auch nicht mehr, Par. Hast du das denn noch nicht bemerkt? Es gibt nur noch dich und mich. Und können wir einander überhaupt trauen?«
Er sah sie entsetzt an. Traurigkeit trat in ihre Augen, und sie streckte schnell die Arme aus, legte sie um ihn und zog ihn nah an sich heran.
»Es tut mir leid«, sagte sie und er konnte spüren, daß sie weinte.
»Ich dachte, ich hätte dich für immer verloren«, flüsterte er in ihr Haar. Er spürte, wie sie leicht nickte. »Ich habe das alles so satt. Ich will nur, daß es aufhört.«
Sie hielten einander schweigend umschlungen, und Par ließ sich mit seinen Gefühlen für sie treiben, schloß die Augen und ließ die Müdigkeit in sich einsickern. Er wünschte plötzlich, sie wären wieder im Tal, wieder nach Hause zurückgekehrt zu seiner Familie und seinem alten Leben, er wünschte, daß Coll noch lebte und nichts von diesem allen jemals geschehen wäre. Er wünschte, er könnte dies alles noch einmal tun. Er würde nicht mehr so stark bestrebt sein, Allanon zu suchen. Er würde nicht mehr so überstürzt seine Suche nach dem Schwert von Shannara aufnehmen.
Und er würde nicht wieder den Fehler machen zu glauben, daß seine Magie eine Gabe sei.
Dann dachte er daran, wie sehr der Wunschgesang einst ein Teil von ihm selbst gewesen war und wie fremd er ihm jetzt schien. Er hatte sich wieder aus seiner Kontrolle befreit, als er ihn im Wachturm heraufbeschworen hatte. Trotz seiner Vorbereitungen, trotz seiner Bemühungen. Konnte er jemals wirklich sagen, daß er ihn heraufbeschworen hatte? Oder war er einfach von allein gekommen, als er jene Schattenwesen gespürt hatte? Sicherlich hatte er in jedem Fall das getan, was er sich erwählt hatte, und war wie ein Messer hervorgeschnellt, um seine Gegner zu vernichten. Par spürte, wie er bei der Erinnerung erschauerte. Er hatte sich das selbst wahrhaftig niemals gewünscht. Die Magie hatte die dunklen Wesen vernichtet, ohne einmal nachzudenken und ohne Gewissensbisse. Seine Brauen furchten sich. Nein, nicht die Magie. Er. Er hatte sie vernichtet. Er hatte es vielleicht nicht gewollt, aber er hatte es trotzdem getan. Par gefiel nicht, was das bedeutete. Die Schattenwesen waren, was sie waren, und vielleicht stimmte es, daß sie keinen Atemzug lang zögern würden, ihn zu töten. Aber das änderte nichts daran, wer und was er war. Er konnte noch immer die Augen jenes Soldaten sehen, den Padishar getötet hatte. Er sah wieder und wieder das Leben aus ihnen entweichen. Er hatte das Gefühl, endlos weinen zu müssen. Er haßte die Tatsache, daß es notwendig gewesen und er ein Teil davon gewesen war. Daß er die Gründe dafür verstand, machte es nicht annehmbarer. Und doch, was für ein Heuchler war er, daß er in einem Moment wegen eines einzigen Lebens verzweifelte und im nächsten ein halbes Dutzend beendete?
Er wollte die Antwort auf diese Frage gar nicht erfahren. Was er erkannte war, daß sich die Magie des Wunschgesangs in ihm seltsam verändert hatte und, indem sie sich verwandelte, auch ihn verändert hatte. Das ließ ihn intensiver an Felsen-Dalls Behauptung denken, daß auch er ein Schattenwesen sei. Nach alledem, worin bestand der Unterschied zwischen ihnen?
»Damson?«
Die zaghafte Stimme des Maulwurfs flüsterte aus der Dunkelheit und trennte sie von ihm, als sie aufschaute. Seltsam, dachte er, daß der Maulwurf nur mit ihr spricht.
Der kleine Bursche glitt blinzelnd und zwinkernd ins Licht. »Sie folgen uns nicht. Die Tunnel sind leer.«
Damson schaute zurück zu Par. »Was tun wir jetzt, Elfenjunge?« flüsterte sie und streckte die Hand aus, um seine Haare zurückzustreichen. »Wohin gehen wir?«
Par lächelte und nahm ihre Hand in die seine. »Ich liebe dich, Damson Rhee«, sagte er ruhig zu ihr. Seine Worte waren so leise, daß sie im Rascheln seiner Kleidung untergingen.
Er erhob sich. »Wir verlassen die Stadt. Wir werden versuchen, Hilfe zu finden. Von Morgan oder den Geächteten oder von sonst jemandem. Wir können nicht allein weitermachen.« Er schaute auf die zusammengekauerte Gestalt des Maulwurfs hinab. »Maulwurf, kannst du uns aus der Stadt heraushelfen?«
Der Maulwurf sah Damson an. »Es gibt Tunnel unter der Stadt, die euch zu der Ebene bringen werden. Ich kann sie euch zeigen.«
Par wandte sich wieder Damson zu. Einen Moment lang sagte sie nichts. Ihre grünen Augen waren von unausgesprochenen Gedanken erfüllt. »In Ordnung, Par, ich werde mitgehen«, sagte sie schließlich. »Ich weiß, daß wir nicht bleiben können. Zeit und Glück gehen für uns hier in Tyrsis dem Ende entgegen.« Sie trat nahe an ihn heran. »Aber jetzt mußt du mir dein Versprechen geben – genauso wie du es Padishar gegeben hast. Versprich mir, daß wir zu ihm zurückkehren werden – daß wir ihn nicht dem Tod überlassen werden.«
Sie denkt keinen Augenblick lang an die Möglichkeit, daß er bereits tot sein könnte. Sie glaubt, daß er stärker ist. Und das denke ich vermutlich auch.
»Ich verspreche es«, flüsterte er.
Sie lehnte sich dicht an ihn und küßte ihn fest auf den Mund. »Ich liebe dich auch, Par Ohmsford«, sagte sie. »Ich liebe dich bis zum Ende.«
Sie brauchten die ganze Nacht, um das Labyrinth der Tunnel, die unter Tyrsis lagen, und die alten Gänge, die lange genug als Schlupfwinkel für die Verteidiger der Stadt gedient hatten und jetzt ihr Fluchtweg waren, zu durchqueren. Die Tunnel kreuzten sich wieder und wieder, manchmal breit und hoch genug, daß Wagen hätten hindurchgelangen können, manchmal kaum weit genug für den Maulwurf und seine Gefährten. An manchen Stellen war der Fels trocken und staubig und roch nach alter Erde, und es gab keinerlei Spuren, daß er benutzt wurde, und manchmal war er feucht und kalt und roch nach Abwässern. Ratten quiekten bei ihrem Herannahen und verschwanden in den Mauern. Insekten krochen davon wie trockene Blätter, die über Fels geweht werden. Das Geräusch ihrer Stiefel und ihres Atems hallte hohl durch die Gänge, und es schien, als würden sie die Stadt wahrscheinlich nicht unentdeckt verlassen können. Aber der Maulwurf wählte ihren Weg sorgfältig und führte sie sehr häufig von der direkten Route fort, setzte den Weg auf der Grundlage der Dinge fort, die er allein spürte und kannte. Er sprach die Stunden über kein Wort. Er führte sie durch seine schweigende Unterwelt voran wie ein Geist auf der Jagd. Hin und wieder hielt er inne, um zu ihnen zurückzuschauen oder etwas zu betrachten, was er auf dem Tunnelboden gefunden hatte, oder um die Dunkelheit zu prüfen, die rund um sie herum auf sie eindrang. Er wirkte verwirrt und abwesend in seinem Sinnen. Par und Damson blieben jeweils mit ihm stehen. Sie warteten und beobachteten ihn und fragten sich, was er wohl dachte. Sie fragten niemals. Par wollte es, aber wenn Damson es für besser hielt, ruhig zu bleiben, war er überzeugt, daß er es ihr gleichtun mußte. Schließlich erreichten sie eine Stelle, an der die Dunkelheit vor ihnen durch einen flüchtigen Silberschimmer unterbrochen wurde. Sie stolperten durch einen Vorhang alter Spinnweben und Staub darauf zu und kletterten einen Felshang hinauf, der sich nach oben hin verengte, bis sie fast kriechen mußten. Büsche versperrten den Weg vor ihnen. Sie waren so dicht, daß der Maulwurf gezwungen war, mit einem langen Messer, das er irgendwie in seinem Pelz verborgen gehalten hatte, einen Weg für sie zu eröffnen. Sie schoben die abgetrennten Zweige beiseite, krochen durch das letzte Blattwerk, das ihnen den Weg versperrte, und drangen ans Licht.
Sie richteten sich auf und schauten sich um. Die Berge, die die Klippe, auf der Tyrsis sich erhob, abschirmten, ragten hinter ihnen empor, eine gezackte, schwarze Wand vor dem Licht der im Osten aufbrechenden Dämmerung. Der Schatten ihrer Gipfel erstreckte sich im Norden und Westen über die Ebenen wie ein dunkler Fleck, der dann in den Bäumen des dahinterliegenden Waldes verschwand. Die Luft war warm und roch nach Gras, das von der Sommersonne getrocknet wurde. Vogelgesang stieg aus der Verborgenheit des Waldes auf, und Leuchtkäfer schössen über kleine, unkrautbestandene Teiche, die von Rinnsalen gebildet wurden, die aus den Felsen hinter ihnen herabliefen.
Par schaute zu Damson hinüber und lächelte. »Wir sind draußen«, sagte er weich, und sie lächelte zurück.
Er wandte sich an den Maulwurf, der in dem ungewohnten Licht unsicher blinzelte. Impulsiv griff er hinab. »Danke, Maulwurf«, sagte er. »Danke für alles.«
Das Gesicht des Maulwurfs furchte sich, und das Blinzeln wurde heftiger. Er hob zaghaft eine Hand, berührte Par und zog sie wieder zurück. »Es ist in Ordnung«, war seine sanfte Antwort.
Damson kam herüber, kniete sich vor den Maulwurf hin und legte ihre Arme um ihn. »Auf Wiedersehen für den Augenblick«, flüsterte sie. »Bring dich in Sicherheit, Maulwurf. Halte dich von den dunklen Wesen fern. Halte dich verborgen, bis wir zurückkehren.«
Die Arme des Maulwurfs hoben sich, und seine runzligen Hände strichen über die schmalen Schultern des Mädchens. »Immer, liebliche Damson. Immer, für dich.«
Sie gab ihn dann frei, und die Finger des Maulwurfs streichelten sanft ihr Gesicht. Par glaubte Tränen in den Winkeln seiner hellen Augen zu sehen. Dann wandte sich der Maulwurf von ihnen ab und verschwand wieder in der Dunkelheit.
Sie sahen ihm einen Moment lang nach und schauten dann einander an.
»Wo entlang?« fragte Par.
Sie lachte. »So ist es recht. Du weißt nicht, wo der Firerim Reach ist, nicht wahr? Ich vergesse es manchmal, denn du scheinst so sehr ein Teil der Dinge zu sein.«
Er lächelte. »Es ist schwer, sich daran zu erinnern, da ich eine Zeitlang nicht bei dir war, nicht wahr?«
Sie sah ihn fragend an. »Ich beschwere mich nicht. Und du?«
Er ging zu ihr hinüber und hielt sie einen Moment lang fest. Er sagte nichts, sondern stand einfach nur da, die Arme um sie gelegt, seine Wange an ihrem kastanienbraunen Haar und die Augen geschlossen. Er dachte über all das nach, was sie überstanden hatten, wie viele Male ihr Leben in Gefahr und wie gefährlich ihre Reise gewesen war. Dafür, daß sie so weit gekommen waren, war die Reise kurz gewesen, sann er. So wenig Zeit hatten sie gehabt, um so vieles zu entdecken.
Sie noch immer umfassend, streichelte er ihren Rücken in kleinen Kreisen und flüsterte: »Ich sage dir etwas. Manchmal scheint es, als hätte ich die ganze Zeit Angst. Die ganze Zeit, seit Coll und ich Varfleet zum ersten Mal verlassen haben. All diese vergangenen Wochen lang habe ich Angst gehabt. Alles, was geschieht, scheint etwas zu kosten. Ich habe niemals gewußt, was ich als nächstes verlieren würde, und das hasse ich. Aber was mich am meisten ängstigt, Damson Rhee, ist die Möglichkeit, daß ich dich verlieren könnte.«
Er verstärkte seine Umarmung und preßte sie an sich. »Wie denkst du darüber?« flüsterte er.
Zur Antwort umfaßte sie ihn ebenfalls fester.
Sie wanderten durch den frühen Morgen, ohne danach noch viel zu reden, ließen die Stadt Tyrsis hinter sich und zogen gen Norden über die Ebenen zu der bewaldeten Grenze der Drachenzähne. Der Tag erwärmte sich schnell, die Kristalle des Nachttaus vergingen bei Sonnenaufgang, und die Feuchtigkeit trocknete in Staubwolken ab. Sie sahen lange Zeit niemanden, und dann auch nur Händler und Familien, die von den Bauernhöfen zum Markt in die Stadt zogen. Par stellte fest, daß er wieder an zu Hause dachte, an seine Eltern und Coll, aber dies alles schien vor langer Zeit geschehen zu sein. Er wünschte sich vielleicht, daß die Dinge wieder so wären, wie sie gewesen waren, und hätte gern alles, was seit seiner Begegnung mit Cogline geschehen war, ungeschehen gemacht, aber er wußte auch, daß er sich genauso hätte wünschen können, daß der Tag zur Nacht und die Sonne zum Mond würde. Er sah Damson an, die neben ihm ging, betrachtete die weichen, starken Linien ihres Gesichts und die Bewegungen ihres Körpers, und schob schnell beiseite, was anders hätte sein können.
Am Mittag überquerten sie den Mermidon und wandten sich den dahinterliegenden Wäldern zu, aber zuvor hielten sie inne, um eine Mahlzeit einzunehmen. Sie versorgten sich mit frischem Wasser, Beeren, Wurzeln und Gemüse. Es war kühl und still am Waldrand, während die Hitze des Tages das umgebende Land unter einer stickigen, versengenden Decke erstickte. Nach dem Essen beschlossen sie, eine Zeitlang zu schlafen, da sie von den Anstrengungen der Nacht müde waren und Nutzen aus ihrem Zufluchtsort ziehen wollten. Bis zum Kennon Paß würden sie nur noch einige Stunden brauchen, erklärte Damson, wo sie dann auch durch die Drachenzähne hindurch in das Tal gelangen würden, das einst Paranors Heimat gewesen war. Von dort würden sie nach Nordosten zum Jannisson Paß und zum Firerim Reach ziehen. In weiteren zwei Tagen, so versprach sie, würden sie dann die Geächteten erreicht haben.
Aber sie schliefen länger, als sie geplant hatten, eingelullt von der Kühle und dem tröstenden Klang des Windes in den Bäumen, und es war schon fast Sonnenuntergang, als sie wieder erwachten. Sie erhoben sich und brachen sofort auf, da sie so viel Zeit gewinnen wollten wie möglich. Wenn der Mond hervorkam, würden sie den Paß bei Nacht überqueren können. Sonst würden sie bis zum Morgen warten müssen. Auf jeden Fall wollten sie den Kennon bei Einbruch der Nacht erreicht haben.
Also reisten sie eilig weiter, ohne durch dichte Gruppen von Gestrüpp oder Gräsern in Wäldern behindert zu werden. Nach ihrem Schlaf fühlten sie sich ausgeruht und tatkräftig. Die Sonne zog gen Westen und versank in den Bäumen, bis sie durch den Schirm der Blätter und Zweige als helles Flackern von Gold und Karmesinrot erschien. Der Mond erschien am Himmel, der noch klar und blau war, und die Tagesvögel begannen vor der herannahenden Nacht still zu werden. Par fühlte sich das erste Mal seit Tagen wohl. Er war in Frieden mit sich selbst, erleichtert, aus Tyrsis herausgelangt zu sein, heraus aus ihren Abwasserkanälen und Kellern, frei von den Beschränkungen ihrer Mauern, sicher vor den Wesen, die ihn dort gejagt hatten. Er schaute oft zu Damson hinüber und lächelte dabei. Er dachte an Padishar und versuchte, nicht traurig zu sein. Seine Gedanken wanderten durch die Bäume und über den Teppich des Erdbodens hinweg wie kleine, spielende Tiere. Er ließ sie frei wandern und war zufrieden, sie ziehen lassen zu können.
Nicht ein einziges Mal kam es ihm in den Sinn, daß es klug sein könnte, ihre Spuren zu verwischen.
Der Sonnenuntergang brannte wie Feuer über den Ebenen unterhalb von Tyrsis, als der Tag der Nacht zustrebte und die Hitze sich aufzulösen begann. Die Schatten verlängerten sich und wuchsen, nahmen seltsame und bedeutungsvolle Formen an und wurden mit der Dunkelheit lebendig. Sie erhoben sich aus den Rinnen und Senken, aus Wäldern und vereinzelten Hainen, erstreckten sich hierhin und dorthin, als wollten sie ihre Beine ausstrecken, nachdem sie aus dem Schlaf erwacht waren, der sie bis zum Aufbruch zur Jagd umfangen gehalten hatte.
Einer dieser Schatten bewegte sich verräterisch bewußt an den leeren Flächen entlang, die sich nördlich zum Mermidon erstreckten, eine schwach sichtbare Dunkelheit, verborgen in den langen Gräsern, durch die sie hindurchstrich. Als das Licht verschwand, wurde der Schatten kühner, richtete sich hin und wieder auf, um die Luft zu erschnuppern, bevor er sich wieder auf die Erde niederließ, um den Geruch nicht zu verlieren, dem er folgte. Er aß beim Weitergehen, ernährte sich von dem, was auch immer er fand, Wurzeln und Beeren, Insekten und kleine Tiere, alles, was ihm begegnete und nicht entkommen konnte. Vor allem aber war seine Aufmerksamkeit auf den Pfad gerichtet, dem er folgte, auf den Geruch desjenigen, den er so emsig jagte, desjenigen, der die Quelle seines Zorns war.
Am Mermidon erhob er sich auf die Hinterfüße, eine gebeugte, gekrümmte Gestalt, die in einen schimmernden, schwarzen Umhang gekleidet war, der dem Staub und Schmutz, der seinen Träger bedeckte, widerstand. Seine Hände waren so schlimm enthäutet und zerkratzt, daß sie bluteten, und waren in den Umhang verkrampft, damit er nicht ausgewaschen werden würde, wenn er diesen Fluß an einer seichten Stelle durchwatete. Den Umhang legte er nicht einen Moment lang ab, denn der Umhang stärkte ihn irgendwie, das wußte er. Der Umhang war es, der ihn beschützte.
Und dennoch schien er auch eine Quelle des Wahnsinns zu sein. Ein Teil seines Geistes flüsterte dem Wesen zu, daß dies so sei. Er flüsterte es dem Wesen als Warnung zu. Wieder und wieder.
Aber das meiste, was in den Gedanken des Wesens arbeitete, versicherte ihm, daß der Umhang gut und zum Überleben notwendig sei, und daß der Wahnsinn statt dessen von demjenigen bewirkt werde, den es verfolgte. Von ihm. War es sein Bruder? Der Name wollte nicht erscheinen. Nur das Gesicht. Der Wahnsinn summte in seinem Kopf, durch seine Ohren und aus seinem Mund heraus wie ein Schwärm Mücken, stach und biß und vereinnahmte seinen Verstand, bis es an nichts anderes mehr denken konnte.
Früher an diesem Tag, in den Schatten des späten Nachmittags, draußen in dem verhaßten Licht, in den der Wahnsinn es mit zunehmender Häufigkeit aus seiner Höhle heraustrieb, hatte das Wesen schließlich den Geruch desjenigen, den es jagte, gefunden. (Sein Name? Wie lautete sein Name?) Da es das Gebiet am Fuß der Klippe jetzt schon seit über einer Woche Nacht für Nacht durchstreifte, war es immer verzweifelter geworden. Es mußte ihn finden, ihn aufspüren, damit es Erleichterung verspüren konnte, damit der Wahnsinn enden würde.
Aber wie? Wie würde er enden?
Er wußte es nicht. Irgendwie würde es geschehen. Wenn es den Grund fand. Wenn es... ihn verletzte, wie er es verletzte...
Der Gedanke schwebte verschwommen vor seinen Augen. Aber es war Freude in dem Gedanken, darin, wie er schmeckte und sich anfühlte.
Zähne und Augen schimmerten im heller werdenden Mondlicht.
Auf der anderen Seite des Flusses nahm das Wesen seinen Weg leichtfüßig wieder auf und begann der Spur erneut zu folgen. Frisch war sie. So deutlich wie der Geruch von etwas Totem, das zum Verwesen der Sonne überlassen worden war. Nicht weit entfernt war es.
Noch einige Stunden, vielleicht weniger...
Ein Schauder durchlief das Wesen. Vorahnung. Verlangen. Die Samen des Wahnsinns in Blüte.
Coll Ohmsford hielt seine Nase zu Boden gerichtet wie ein Tier, wozu er ja auch geworden war, und verschwand zwischen den Bäumen.