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Die Dämmerung senkte sich über die Vier Länder herab. Das Licht wurde langsam grau und die Schatten allmählich immer länger. Auch die Hitze des Tages begann nachzulassen, als der rote Feuerball der Sonne im Westen versank und die heiße, trockene Luft abkühlte. Die einsetzende Stille brachte die Welt zum Schweigen, und Blätter und Gras zitterten bei Tagesende in der Erwartung der kommenden Nacht.

Dort, wo der Mermidon sich in den Regenbogensee ergoß, erhob sich schwarz, undurchdringlich und stumm die Südwache. Der Wind strich über das Wasser des Sees und des Flusses, blieb aber dem Obelisken fern, als sei er bestrebt, zu einem verlockenderen Ort zu eilen. Die Luft schimmerte um den dunklen Turm, die Hitze strahlte in Wellen von seinem Gestein ab und bildete geisterhafte, umherschnellende und umherfliegende Umrisse. Ein einsamer Jäger am Ufer des Gewässers schaute furchtsam auf, als er vorbeiging, und setzte seinen Weg dann hastig fort.

Im Inneren gingen die Schattenwesen in geisterhafter Stille ihrer Bestimmung nach, mit Kapuzen bedeckt, gesichtslos und von ihrer Aufgabe erfüllt.

Felsen-Dall stand am Fenster, betrachtete das sich verdunkelnde Land und beobachtete, wie die Farbe von der Erde wich, während die Nacht verstohlen aus dem Osten herankroch, um sich in sich selbst zu sammeln.

Die Nacht, unsere Mutter, unser Trost.

Er stand in seinen dunklen Gewändern unbeweglich da, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, die Kapuze von seinem grobknochigen, rotbärtigen Gesicht zurückgezogen. Er wirkte hart und gefühllos, und wenn er davon erfahren hätte, wäre er erfreut gewesen. Aber es war schon lange her, daß den Ersten Sucher seine Erscheinung interessierte – und es war lange her, daß er sich überhaupt die Mühe gemacht hatte, danach zu fragen. Sein Äußeres war unwichtig; er konnte alles sein, wichtig war nur, was in ihm glühte. Das gab ihm Leben.

Seine Augen brannten, während er über das, was war, hinausschaute zu dem, was eines Tages sein würde.

Zu dem, was verheißen war.

Er bewegte sich unmerklich, denn er war in der Stille des Turmes mit seinen Gedanken allein. Die anderen existierten für ihn nicht, sie waren Geister ohne Substanz. Unter sich, tief im Inneren des Turmes, konnte er die Geräusche der tätigen Magie hören, das tiefe Brummen ihres Atems, das Poltern ihres Herzens. Er lauschte darauf, ohne wirklich zu denken, eine Angewohnheit, die seinem unruhigen Geist Sicherheit verlieh. Die Macht war auf Seiten der Magie, aus dem Äther zu Substanz geworden, gestaltet und geformt und zweckgebunden. Das war das Geschenk der Schattenwesen, und es gehörte ihnen allein.

Ungeachtet der Druiden und anderer Wesen.

Er versuchte ein schwaches Lächeln, aber sein Mund weigerte sich zu gehorchen, so daß es in der festen Linie seiner Lippen verschwand. Seine behandschuhte linke Hand wand sich in der Umklammerung der bloßen Finger seiner Rechten. Macht für Macht, Stärke für Stärke. Auf seiner Brust schimmerte das silberne Wolfskopf-Emblem.

Wumm, wumm, erklang das Geräusch der tätigen Magie tief unter ihm.

Felsen-Dall wandte sich wieder der Dunkelheit des Raumes zu – eines Raumes, in dem bis vor kurzem Coll Ohmsford gefangengehalten worden war. Jetzt war der Talbewohner fort – entkommen, wie er glaubte, aber tatsächlich freigelassen und auf andere Art gefangengenommen. Fort, um seinen Bruder zu finden: Par.

Denjenigen mit der wahren Magie.

Denjenigen, der ihm gehören würde.

Der Erste Sucher trat vom Fenster fort und setzte sich an den blanken Holztisch. Das Gewicht seiner großen Gestalt ließ den zerbrechlichen Stuhl knarren, seine Hände falteten sich vor ihm auf dem Tisch, und sein rauhes Gesicht senkte sich.

Alle Ohmsfords waren wieder in den Vier Ländern, alle Nachkommen waren von ihrer Suche zurückgekehrt. Walker Boh war, trotz Pe Ell, von Eldwist zurückgekehrt, der Schwarze Elfenstein war zurückerlangt und seine Magie ergründet worden, Paranor war in die Welt der Menschen zurückgebracht und Walker selbst zum ersten der neuen Druiden geworden. Wren Elessedil war mit Arborlon und den Elfen von Morrowindl zurückgekehrt, hatte die Magie der Elfensteine neu entdeckt, kannte ihre eigene Identität und wußte von ihrem Erbe. Zwei der drei Aufgaben Allanons waren erfüllt worden. Zwei von drei Schritten waren getan.

Pars Aufgabe sollte die letzte sein: Finde das Schwert von Shannara. Finde das Schwert, und es wird die Wahrheit enthüllen.

Spiele, die von alten Männern und Schatten gespielt werden, grübelte Felsen-Dall. Aufgaben und Prüfungen, die Suche nach der Wahrheit. Nun, er kannte die Wahrheit besser als sie, und die Wahrheit war, daß nichts davon wichtig war, weil am Ende die Magie alles war, und die Magie gehörte den Schattenwesen. Es schmerzte ihn, daß sowohl die Elfen als auch Paranor zurückgekehrt waren, obwohl er sich bemüht hatte, dies zu verhindern. Jene, die er ausgesandt hatte, um die Nachkommen von Shannara am Erfolg zu hindern, waren gescheitert. Der Preis ihres Scheiterns war der Tod gewesen, aber das trug wenig dazu bei, seinen Verdruß zu mildern. Vielleicht hätte er verärgert sein sollen, vielleicht sogar ein wenig besorgt. Aber Felsen-Dall vertraute seiner Macht, war sich seiner Kontrolle über die Ereignisse und die Zeit sicher und überzeugt davon, daß noch immer er es war, der die Zukunft bestimmen würde. Obwohl Teel und Pe Ell ihn enttäuscht hatten, gab es gewiß andere, die dies nicht tun würden.

Wumm, wumm, flüsterte die Magie.

Und so...

Felsen-Dall schürzte die Lippen. Ein wenig Zeit war alles, was er brauchte. Ein wenig Zeit, damit die Ereignisse, die er bereits in Bewegung gesetzt hatte, ihren Lauf nehmen konnten, und dann würde es für die toten Druiden und ihre Pläne zu spät sein. Halte den Dunklen Onkel und das Mädchen voneinander fern. Laß sie nicht ihr Wissen teilen. Laß sie nicht ihre Kräfte vereinen.

Laß sie nicht die Talbewohner finden.

Eine Ablenkung war notwendig, etwas, was sie anderweitig beschäftigt halten würde. Noch besser sogar etwas, was sie vernichten würde. Armeen natürlich, um die Elfen und die Geächteten gleichermaßen zu schinden, Föderationskrieger und Schattenwesenschleicher und wen auch immer sonst er versammeln konnte, um diese Narren aus seinem Leben zu entfernen. Aber etwas Besonderes für die Kinder von Shannara mit all ihren Magien und Druidenzaubern.

Er dachte lange über die Angelegenheit nach, während sich die graue Dämmerung um ihn herum in Nacht verwandelte. Der Mond erhob sich im Osten, eine Sichel vor der Schwärze, und die Sterne erhellten sich zu deutlichen Silbernadelstichen. Ihr Glanz durchdrang die Dunkelheit, in der der Erste Sucher saß. Sein Gesicht verwandelte sich in einen Schädel.

Ja, nickte er schließlich.

Der Dunkle Onkel war besessen von seinem Druidenerbe. Sende ihm etwas, was er gegen diese Schwäche einsetzen kann, etwas, was ihn verwirren und frustrieren würde. Sende ihm die Vier Reiter.

Und das Mädchen. Wren Elessedil hatte ihren Beschützer und Ratgeber verloren. Gib ihr etwas, was diese Leere füllt. Gib ihr jemanden deiner eigenen Wahl, jemanden, der sie beruhigt und tröstet, der ihre Tränen lindert, und dann verrate sie, und nimm ihr alles.

Die anderen waren keine ernsthafte Bedrohung – nicht einmal der Anführer der Geächteten und der Hochländer. Ohne die Ohmsforderben konnten sie nichts erreichen. Wenn der Dunkle Onkel in seinem Keep gefangengenommen werden würde und die kurze Regentschaft der Elfenkönigin enden würde, würden die sorgfältig konstruierten Pläne des Schatten des Druiden um ihn herum zusammenbrechen. Allanon würde mit dem Rest seiner Geistersippe wieder im Hadeshorn versinken, der Vergangenheit übergeben, in die er gehörte.

Ja, die anderen waren unwichtig.

Aber er würde sich dennoch um sie kümmern.

Und selbst wenn alle seine Bemühungen fehlschlügen, selbst wenn er nicht mehr tun konnte als sie zu vernichten, sie zu verfolgen wie ein Hund seine Beute, so würde es dennoch genügen, wenn Par Ohmsfords Seele letztendlich ihm zufiele. Er brauchte nur das, um allen Hoffnungen seiner Feinde ein Ende zu bereiten. Nur das. Es war ein kurzer Weg zum Abgrund, und der Talbewohner bewegte sich bereits darauf zu. Sein Bruder würde der vorausstolzierende Ziegenbock sein, der ihn bringen würde, der ihn anziehen würde wie einen Wolf bei der Jagd. Coll Ohmsford stand bis jetzt tief unter dem Einfluß des Zaubers des Spiegeltuchs. Er war ein Sklave der Magie, aus der der Umhang geformt worden war. Er hatte ihn gestohlen, um sich zu verhüllen, und hatte niemals geahnt, daß Felsen-Dall genau das beabsichtigt hatte, und hatte niemals geargwöhnt, daß es eine tödliche Falle sein könnte, die ihn dem eigenen, schrecklichen Zweck des Ersten Suchers zuführen sollte. Coll Ohmsford würde seinen Bruder aufspüren und eine Konfrontation herbeiführen, weil der Umhang ihn nichts anderes tun lassen und einen Zorn in ihm verbreiten würde, gegen den nur der Tod seines Bruders Linderung versprechen würde. Par würde gezwungen sein, zu kämpfen. Und weil ihm die Magie des Schwertes von Shannara fehlen würde, weil seine konventionellen Waffen nicht ausreichen würden, um die Schattenwesenart, zu der sein Bruder jetzt gehörte, aufzuhalten, und weil er Angst haben würde, daß dies nur ein weiterer Trick sein könnte, würde er die Magie des Wunschgesangs gebrauchen.

Vielleicht würde er seinen eigenen Bruder töten, und ihn dieses Mal wirklich töten, und dann erkennen – wenn es zu spät war, die Dinge rückgängig zu machen –, was er getan hatte.

Und vielleicht auch nicht. Vielleicht würde er seinen Bruder entkommen lassen – und seinem Untergang zugeführt werden.

Der Erste Sucher zuckte die Achseln. In jedem Falle wäre das Ergebnis dasselbe. In jedem Falle wäre der Talbewohner erledigt. Der Gebrauch der Magie und der Schock, der ihn durch diese Handlungsweise überwältigen mußte, würden ihn aus dem Gleichgewicht bringen. Sie würden die Magie aus seiner Kontrolle befreien, und dann würde er Felsen-Dalls Werkzeug werden. Felsen-Dall war sich dessen sicher. Er konnte es sein, weil er die Elfenmagie, anders als die Nachkommen von Shannara und ihr Mentor, verstand, sie war seine Magie nach Blut und Recht. Er verstand, was sie war und wie sie wirkte. Er wußte, was Par nicht wußte: Was mit dem Wunschgesang geschah, warum er sich so verhielt, wie er es tat, wie er seiner Leine entkommen war, um ein wildes Wesen zu werden, das nach seinem eigenen Gutdünken jagte.

Par war nahe. Er war sehr nahe.

Die Gefahr, mit der Bestie zu kämpfen, liegt darin, daß man zu dieser Bestie werden wird.

Er war fast einer von ihnen.

Bald würde es geschehen.

Es bestand allerdings auch die Möglichkeit, daß der Talbewohner die Wahrheit über das Schwert von Shannara vorher entdeckte. War die Waffe, die er trug, diejenige, die Felsen-Dall so bereitwillig aufgegeben hatte? War sie wirklich der Talisman, wie er annahm, oder eine Fälschung? Par Ohmsford wußte es noch immer nicht. Das Risiko blieb, daß er es herausfinden würde. Aber selbst wenn es ihm gelänge, was würde es ihm nützen? Schwerter hatten zwei Schneiden und konnten in beide Richtungen schneiden. Die Wahrheit würde Par vielleicht mehr schaden als nützen...

Felsen-Dall erhob sich und trat erneut zum Fenster: ein Schatten in der Schwärze der Nacht, gegen das Licht faltig und eingedreht. Die Druiden verstanden nicht; das hatten sie niemals gekonnt. Allanon war schon ein Anachronismus gewesen, bevor er auch nur geworden war, was Bremen aus ihm hatte machen wollen. Druiden – sie benutzten die Magie, wie Narren mit Feuer spielten: verwundert über ihre Möglichkeiten, aber auch erschreckt über ihre Risiken. Kein Wunder, daß die Flammen sie so oft verbrannt hatten. Aber das hinderte sie nicht daran, ihre geheimnisvolle Gabe abzulehnen. Sie urteilten so schnell über andere, die die Macht handhaben zu können suchten – die Schattenwesen allen voran –, sahen sie als ihre Feinde an und vernichteten sie.

Wie sie sich selbst vernichtet hatten.

Aber es lag Ausgewogenheit und Bedeutung in der Lebensauffassung der Schattenwesen, und die Magie war kein Spielzeug, mit dem sie spielten, sondern das Herz dessen, wer und was sie waren, umarmt, beschützt und verehrt. Keine halbherzigen Maßnahmen oder selbstdienliche Vorsichtsmaßregeln, die verkündet wurden, um sicherzustellen, daß niemand an ihrer Benutzung teilhaben würde. Keine Belehrungen oder Warnungen. Keine Spielerei. Die Schattenwesen waren einfach das, zu was die Magie sie machte, und die Magie würde sie, wenn sie sie so akzeptierten, zu allem machen können.

Die Baumspitzen der Wälder und die Klippen des Runne waren dunkle Höcker vor der flachen, silbern geränderten Oberfläche des Regenbogensees. Felsen-Dall schaute über die Welt hinweg, und er sah, was die Druiden niemals hatten sehen können.

Daß sie jenen gehörte, die stark genug waren, sie zu halten, zu besitzen und zu formen. Daß sie dazu gedacht war, benutzt zu werden.

Seine Augen glühten in der Farbe des Blutes.

Es war reine Ironie, daß die Ohmsfords den Druiden so lange gedient hatten, ihre Aufgaben ausgeführt hatten, ihre Suche auf sich genommen hatten, ihren Visionen zu Wahrheiten gefolgt waren, die niemals welche gewesen waren. Die Geschichten waren Legende. Shea und Flick, Wil, Brin und Jair und jetzt Par. Es war alles umsonst gewesen. Aber hier würde es enden. Denn Par würde den Schattenwesen dienen und damit den OhmsfordDruiden-Verbindungen für immer ein Ende bereiten.

»Par. Par. Par.«

Felsen-Dall flüsterte der Nacht seinen Namen beruhigend zu. Es war eine Litanei, die seinen Geist mit Visionen der Macht erfüllte, der nichts widerstehen würde.

Lange Zeit stand er am Fenster. Er erlaubte sich, von der Zukunft zu träumen.

Dann wandte er sich plötzlich abrupt um und stieg in die Tiefen des Turmes hinab, um sich zu nähren.

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