8

Es war bereits später Nachmittag, als Morgan Leah schließlich in Sichtweite der Grenzstadt Varfleet kam. Der Sommer ging jetzt schon langsam in den Herbst über, und die Tage waren lang und träge und angefüllt von der Hitze, die mit der Sonne aufstieg und noch bis spät nach Einbruch der Dunkelheit anhielt. Der Hochländer stand auf einem Hügel nördlich der Stadt und schaute hinab auf das Gewirr von Gebäuden und gekrümmten Straßen und dachte, daß nichts für ihn jemals wieder dasselbe sein würde.

Es war mehr als zwei Wochen her, seit er die Gesellschaft Walker Bohs geteilt hatte – des Dunklen Onkels, der Paranor suchte, dem der Schwarze Elfenstein ein Schlüssel zu den Toren der Zeit und der Entfernung, die die Druidenfestung eingeschlossen hatten, gewesen war. So lange war es her, seit der Hochländer gekommen war, um nach Padishar Creel und den Ohmsfordbrüdern zu suchen.

Zwei Wochen. Morgan seufzte. Er hätte Varfleet innerhalb von zwei Tagen erreicht haben müssen, sogar zu Fuß. Aber andererseits war in diesen zwei Wochen auch nichts so gewesen, wie er es erwartet hatte.

Er begann mit ironischem Grinsen darüber nachzudenken, was er während der vorangegangenen Wochen alles überstanden hatte. Nachdem er Walker verlassen hatte, war er am westlichen Rand des Rabb den Drachenzähnen entlang nach Süden gezogen. Er hatte den unteren Flußlauf bei Sonnenuntergang des weiten Tages erreicht und in der Nähe gelagert, denn er hatte vorgehabt, ihn bei Sonnenaufgang zu überqueren und seine Reise am nächsten Tag fortzusetzen. Die Ebenen waren heiß und staubig gewesen, und Einschlüsse derselben Krankheit, die die Vier Länder auch anderswo kennzeichnete, waren überall zu sehen gewesen, Schadflecke, wo alles vergiftet war. Er hatte gedacht, daß er diese umgangen hätte und vorbeigelangt wäre, ohne Schaden zu nehmen. Aber als er in der Dämmerung dieses dritten Morgens erwacht war, hatte er sich so heiß und fiebrig und benommen gefühlt, daß er kaum gehen konnte. Er hatte etwas Wasser getrunken und sich erneut hingelegt, weil er hoffte, daß die Krankheit so schnell vergehen würde. Aber zur Mittagszeit war er kaum noch fähig gewesen, sich aufzusetzen. Er hatte sich gezwungen aufzustehen, hatte dann erkannt, wie krank er war, und gewußt, daß er sofort Hilfe finden mußte. Sein Magen hatte sich so stark verkrampft, daß er sich nicht aufrichten konnte, und seine Kehle hatte gebrannt. Er hatte sich nicht kräftig genug gefühlt, den Fluß zu überqueren und war statt dessen flußaufwärts in die Ebenen gewandert. Er hatte Halluzinationen gehabt, als er schließlich in einem schattigen Ulmenhain auf ein Farmhaus gestoßen war. Er war zur Tür gestolpert, kaum mehr fähig, sich zu bewegen oder gar zu sprechen, und war dort zusammengebrochen.

Er hatte sieben Tage lang geschlafen, war zwischendurch gerade lange genug aus der Bewußtlosigkeit erwacht, um die kleinen Portionen Nahrung und Wasser zu sich zu nehmen, die ihm angeboten worden waren. Wer auch immer es gewesen war, der ihn hereingebracht hatte, er hatte von ihm kein Gesicht gesehen, und die Stimmen, die er gehört hatte, waren undeutlich gewesen. Er hatte zeitweise phantasiert, um sich geschlagen und aufgeschrien, hatte noch einmal die Schrecken von Eldwist und Uhl Belk durchlebt, wieder und wieder und wieder das leidgeprüfte Gesicht Quickenings gesehen, als sie im Sterben lag, und erneut den Schmerz gespürt, den er erfahren hatte, als er hilflos dabeistehen mußte. Manchmal hatte er Par und Coll Ohmsford gesehen, wie sie ihm aus großer Entfernung zuriefen, und dann mußte er immer wieder feststellen, daß er sie nicht erreichen konnte, so sehr er es auch versuchte. Es waren auch dunkle Wesen in seinen Träumen gewesen, gesichtslose Schatten, die ihn unerwartet und von hinten angegriffen hatten. Er hatte ihre Gegenwart gespürt, ohne Namen zu kennen, unmißverständlich dennoch, wer und was sie waren. Er war vor ihnen davongerannt, hatte sich vor ihnen verborgen oder verzweifelt versucht, sich gegen sie zu wehren – aber sie waren immer gerade außerhalb seiner Reichweite geblieben, hatten ihn auf Arten bedroht, die er nicht erkennen, sondern sich nur vorstellen konnte.

Sein Fieber war erst gegen Ende der ersten Woche gesunken. Als er schließlich wieder in der Lage gewesen war, die Augen zu öffnen, und sich auf das junge Ehepaar zu konzentrieren, das ihn versorgt hatte, hatte er in ihren Gesichtern so offensichtliche Erleichterung gesehen, daß er erkennen mußte, daß er nah daran gewesen war, überhaupt nicht wieder zu erwachen. Seine Krankheit hatte alle Kraft aus ihm herausgesaugt, und noch einige Tage lang hatte er gefüttert werden müssen. Es war ihm gelungen, für kurze Zeit wach zu bleiben und dann auch ein wenig zu sprechen. Die junge Ehefrau mit dem strohblonden Haar und den hellblauen Augen hatte sich um ihn gekümmert, während ihr Mann auf den Feldern arbeitete, und sie hatte besorgt gelächelt, als sie ihm erzählte, daß seine Träume offensichtlich schlechte Träume gewesen waren. Sie hatte ihm Suppe und Brot mit Wasser und eine kleine Ration Bier gegeben. Er hatte es dankbar angenommen und ihr wiederholt dafür gedankt, daß sie sich um ihn gekümmert hatte. Manchmal war ihr Mann erschienen, hatte neben ihr gestanden und auf ihn hinabgeschaut, offen und rotgesichtig von der Sonne, mit freundlichen Augen und einem breiten Lächeln. Er hatte einmal erwähnt, daß Morgans Schwert sicher beiseite gelegt worden war, daß es nicht verlorengegangen war. Offensichtlich war auch das ein Teil der Alpträume gewesen.

Am Ende der zweiten Woche hatte Morgan seine Mahlzeiten mit ihnen an ihrem Eßtisch einnehmen können und war jeden Tag kräftiger geworden. Seine Erinnerungen waren jedoch geblieben – das Gefühl von Schmerz und Übelkeit, das Empfinden von Hilflosigkeit und Angst, daß die Krankheit die Tür zu der Dunkelheit war, die am Ende seines Lebens kommen würde. Die Erinnerungen waren geblieben, denn Morgan war in den vergangenen Wochen zu häufig dem Tode nahe gewesen, als daß er sie einfach hätte beiseite schieben können. Er war geprägt von dem, was er erfahren hatte und litt genauso sicher, als wäre er im Kampf verwundet worden, und sogar der Farmer und seine Frau hatten in seinen Augen und in seinem Gesicht sehen können, was ihm angetan worden war. Sie hatten niemals um eine Erklärung gebeten, aber sie hatten es sehen können.

Er hatte angeboten, sie für ihre Fürsorge zu bezahlen, und sie hatten es, wie nicht anderes zu erwarten, abgelehnt. Als er sich nach siebzehn Tagen von ihnen verabschiedet hatte, hatte er die Hälfte des Geldes, das ihm noch verblieben war, der Frau in die Tasche ihrer abgetragenen Schürze gleiten lassen, als sie einmal nicht hingesehen hatte. Sie hatten hinter ihm hergeschaut, wie Eltern hinter einem Kind herschauen, bis es außer Sicht ist.

Und so kam er nicht nur mit erheblicher Verspätung in Varfleet an, um die Suche nach Padishar und Par und Coll aufzunehmen, sondern er war auch mit einem neuerlichen Empfinden für die eigene Sterblichkeit ausgerüstet worden. Morgan Leah war von Eldwist und den Charnals herabgekommen, als er noch immer mit der Erinnerung an Quickenings Tod rang und niedergeschmettert war durch den Verlust, den er nach ihrem Dahinscheiden empfand. Er war voller Ehrfurcht vor ihrer Stärke, den Wunsch ihres Vaters auszuführen und ihr eigenes Leben aufzugehen, damit das Land wiederhergestellt werden könnte. Sie war ein Elementargeist, der weitaus menschlicher geworden war, als ihr Vater angenommen hatte, und blieb trotzdem für Morgan ein Rätsel, für das er wohl niemals eine Lösung finden würde. Mit dieser Erkenntnis verbunden war der unleugbare Stolz und die Kraft, die er bei dem Kampf gegen Uhl Belk und bei der Wiedererlangung der Magie des Schwertes von Leah gefunden hatte. Als das Schwert wieder zu einem Ganzen geworden war, war auch er es geworden. Quickening hatte dies bewirkt. Mit dem Verlust von Quickening hatte er sich selbst gefunden, das erkannte Morgan jetzt. Der Widerspruch zwischen dem, was verloren, und dem, was gewonnen worden war, hatte in ihm gekämpft, während er mit Walker und Horner Dees südwärts gezogen war. Es war ein Konflikt, der niemals gänzlich würde beigelegt werden können, und so hatte sein Wüten auch erst, als die Krankheit ihn überwältigt hatte, dem eher grundsätzlichen Bedürfnis Raum gegeben, einen Weg zum Überleben zu finden.

Während er jetzt auf die Stadt hinabsah, zurückgekehrt aus mehreren Alptraumwelten, aus den Leben, die er in jenen Welten gelebt hatte, so weit entfernt, daß sie von jemand anderem gelebt worden sein konnten, überlegte Morgan, daß er am Anfang eines wiederum neuen Lebens stand. Er stellte fest, daß er sich fragte, ob jene, die ihn in dem alten Leben gekannt hatten, jemals wieder erkennen würden, wer er war.

Er betrat Varfleet wie ein weiterer Reisender, der aus dem Norden herabgekommen war, ein Südländer, verwittert und gereift durch Schwierigkeiten, die seine eigene Angelegenheit waren, und er wurde von den Bewohnern der Stadt, die immerhin ihre eigenen Probleme hatten, um die sie sich kümmern mußten, doch weitgehend ignoriert. Er durchquerte die ärmeren Viertel, wo Familien in Behelfshütten lebten und Kinder auf den Straßen bettelten und wurde sich wieder der Tatsache bewußt, wie wenig das verrufene Föderationsprotektorat getan hatte, den Bewohnern von Callahorn zu helfen. Er gelangte dann in das Zentrum der Stadt, wo sich die Gerüche der Küchen und der Abwässer unangenehm vermischten, die Kaufleute ihre Waren von Karren und Ladenfronten aus mit schriller Stimme feilboten und die Händler die Bedürfnisse all jener befriedigten, die ihre Preise zahlen konnten. Föderationssoldaten patrouillierten in den Straßen. Ihre drohende Gegenwart wirkte, wo auch immer sie hingingen, genauso unbehaglich wie die Leute, die zu überwachen sie die Aufgabe hatten. Wenn man ihnen die Waffen und die Uniformen abnähme, dachte der Hochländer düster, würde es sicherlich schwierig, zu sagen, wer wer war.

Er fand einen Kleiderladen und verwendete den größten Teil seines übriggebliebenen Geldes dazu, sich Hosen, eine Tunika, einen Umhang und neue Schuhe zu kaufen. Seine eigene Kleidung war so ausgefranst und verdreckt und abgetragen, daß sie nicht mehr zu erhalten war, und er ließ alles in dem Laden zurück, als er ging, und nahm nur seine Waffen mit. Er fragte nach dem Weg zum Whistledown, denn er war sich nicht einmal jetzt sicher, was es war, und wurde von dem Ladenbesitzer informiert, daß es ein Wirtshaus sei, das er in der Stadtmitte am Wyvern Split finden werde.

Er bahnte sich seinen Weg durch die Menge und die Mittagshitze und erinnerte sich erneut der Anweisungen, die Padishar Creel ihm vor Wochen gegeben hatte. Er sollte zum Whistledown gehen und einer Frau namens Matty Roh den Falkenring zeigen. Sie würde wissen, wie Padishar zu finden wäre. Morgan fingerte nach dem Falkenring tief in seiner Tasche, wo er solange sicher verstaut sein würde, bis er ihn brauchte. Er sann darüber nach, wie oft er bezweifelt hatte, daß dies einmal geschehen würde. Der rauhe Umriß des Falkenemblems drückte gegen seine Haut, als er den Ring umdrehte, und brachte die Erinnerung an den Anführer der Geächteten zurück. Er fragte sich, ob Padishar Creel in diesen letzten Wochen genauso häufig wie er gezwungen gewesen war, von den Toten zurückzukehren. Diese Möglichkeit brachte ein bitteres Lächeln auf seine Lippen.

Er fand den Wyvern Split und wandte sich der Längsseite des von Wirtshäusern, Gasthöfen und Freudenhäusern umstandenen Platzes zu. Kein sehr ansehnlicher Teil der Stadt, aber ein geschäftiger. Er rückte das Schwert von Leah zurecht, das über seinen Rücken gebunden war, zog die Riemen fest und fühlte sich traurig und müde und gleichzeitig heiter – eine seltsame Mischung, aber dennoch seltsam angemessen. Krankheit und Verlust hatten ihn mitgenommen, aber daß er beides überlebt hatte, hatte seine Entschlossenheit gestärkt. Es gab nicht vieles dort draußen, wie er glaubte, was er nicht überstehen konnte. Er brauchte diese Überzeugung. Wochenlang hatte er gesehen, wie seine Freunde und Begleiter ihm entglitten, einige hatte er an das Schicksal und einige an die Machenschaften anderer verloren. Er hatte wiederholt gesehen, wie seine alten Pläne sich wandelten, hatte seinen Kurs wieder und wieder ändern müssen, um einem höheren – oder zumindest einem anderen – Zweck zu dienen. Er hatte in jedem Fall getan, was er für richtig gehalten hatte, und er hatte keinen Grund, an sich selbst zu zweifeln. Aber er war es müde, sein Leben immer wieder umstellen zu müssen. Es erinnerte ihn an einen Raum, in dem sich die Möbel jedes Mal, wenn er sich umwandte und schaute, an einem anderen Platz befanden. Er hatte Steffs Wunsch zu sterben gewürdigt und war nach Culhaven zurückgegangen, um Granny Elise und Auntie Jut zu retten. Dann hatte er sich Quickening und ihrer Reise nach Eldwist verschrieben. Jetzt war es an der Zeit, daß er tat, was er sich selbst versprochen hatte, seit er Tyrsis und der Grube entkommen war. Es war an der Zeit, Par und Coll zu finden, ihnen allen Schutz zu geben, den er ihnen geben konnte, dafür zu sorgen, daß er bei ihnen bleiben konnte, bis...

Er zuckte im Geiste die Achseln. Nun, solange bis sie ihn nicht mehr brauchten, vermutete er – wann auch immer das sein mochte.

Und wo waren sie jetzt, fragte er sich zum sicherlich hundertsten Mal. Was war aus ihnen geworden, seit sie selbst entkommen waren?

An die beiden zu denken bereitete ihm Unbehagen. Das tat es immer. Zuviel Zeit war vergangen, seit er sie verlassen hatte. Die Gefahr durch die Schattenwesen war zu groß, als daß es gut war, daß die Talbewohner allein dort draußen blieben. Er hoffte, daß Padishar sie inzwischen gefunden hatte. Er hoffte, daß sie es leichter gehabt hatten als er.

Aber er hätte nicht gewagt, darauf zu wetten.

Er überquerte den Platz und sah das Whistledown. Ein verwittertes Holzschild, auf dem über dem Namen eine Flöte und ein schäumender Krug eingeschnitzt waren, wies auf das Gasthaus hin. Es war ein Holzhaus wie alle anderen, die eng darum herum standen, teilte eine gemeinsame Wand mit den Gebäuden zur Rechten und zur Linken, ragte drei Stockwerke in den Himmel empor, mit Fenstern mit Vorhängen im zweiten und dritten Stockwerk, wo sich entweder die Wohnräume der Besitzer und ihrer Familien oder Mieträume befanden. Der Platz war voller Menschen, die von diesem Ort zu einem anderen kamen oder gingen. Es gab gar nicht wenige, die von Wirtshaus zu Wirtshaus torkelten, einige so betrunken, daß sie kaum stehen konnten. Morgan umging sie, trat beiseite, um jene, denen er begegnete, vorbeizulassen, roch den Schweiß und den Schmutz ihrer Körper und den Gestank der Straßen. Wyvern Split, so dachte er, war wirklich die Gosse.

Er erreichte die geöffneten Türen des Whistledown, trat ein und war überrascht, als er feststellte, daß das Innere des Bierhauses völlig anders aussah. Obwohl es schlicht und karg möbliert war, waren die Böden sauber geschrubbt, die hölzerne Oberfläche der Theke auf Hochglanz poliert und die Tische und Sessel und Stühle ordentlich aufgestellt. Über allem lag der Geruch von Zedernholz und Firnis. Bierfässer schimmerten in ihren Gestellen an der Wand hinter der Theke, und das Krügeregal aus Metall war mit Glastüren versehen. Zwei schwere Schwingtüren am Ende der Theke waren geschlossen. Ein wuchtiger Steinkamin ragte an der Wand links von der Theke empor, und eine enge Treppe, die zu den oberen Stockwerken führte, nahm den größten Teil der rechten Wand ein. Auf der Theke selbst waren Schüsseln und Geschirrtücher gestapelt.

Aber es war etwas anderes, was Morgans Blick anzog und festhielt, etwas, was so offensichtlich fehl am Platz war, daß er ein zweites Mal hinschauen mußte, um sicher zu sein, daß er sich nicht getäuscht hatte.

Bündel von Wildblumen waren in großen Vasen auf den Regalen neben den Bierfässern und auf den Ständern mit den Krügen angeordnet.

Blumen – hier, ausgerechnet hier! Er schüttelte den Kopf.

Die Schwingtüren öffneten sich, und ein Junge mit einem Besen trat hindurch. Er war groß und hager, hatte kurzgeschorene, schwarze Haare und feine, fast zarte Gesichtszüge. Er bewegte sich mit fließender Anmut, während er entlang der Theke fegte, fast als tanze er, den Besen gedankenverloren vor sich hin und her schwingend. Er pfiff leise und hatte Morgan offensichtlich noch nicht registriert.

Morgan änderte seine Haltung gerade soweit, daß seine Anwesenheit bemerkt wurde, und der Junge schaute sofort auf.

»Wir haben geschlossen«, sagte er. Kobaltblaue Augen waren auf den Hochländer gerichtet, ein offener, fast herausfordernder Blick begegnete ihm. »Wir öffnen in der Dämmerung.«

Morgan schaute zurück. Das Gesicht des Jungen war glatt und unbehaart, und seine Hände waren lang und dünn. Die Kleidung, die er trug, war locker und formlos und hing an ihm wie an Stöcken. Sie war um seine schmale Taille gegürtet und an den Knöcheln zusammengebunden. Er trug Schuhe anstelle von Stiefeln, tiefgeschnittene, genähte Lederschuhe, die sich seinen Füßen angepaßt hatten.

»Ist dies das Whistledown?« fragte Morgan, der beschlossen hatte, sich dessen besser zu versichern.

Der Junge nickte. »Kommt später zurück. Nehmt zuerst ein Bad.«

Morgan blinzelte. Ein Bad nehmen? »Ich suche jemanden«, sagte er und begann sich unter dem stetigen Blick unbehaglich zu fühlen.

Der Junge zuckte die Achseln. »Ich kann Euch nicht helfen. Außer mir ist niemand hier. Versucht es auf der anderen Seite der Straße.«

»Danke. Aber ich suche nicht einfach nach irgend jemandem...« begann Morgan.

Doch der Junge wandte sich bereits ab, schwenkte den Besen wieder über den Boden und bewegte sich auf die Theke zu. »Wir haben geschlossen«, wiederholte er, als würde das die Angelegenheit klären.

Morgan begann erneut, während sich eine Spur Verwirrung in seine Stimme einschlich. »Warte einen Moment.« Er griff nach der Schulter des anderen. »Warte einen Augenblick. Sagtest du, wir seien die einzigen...?«

Der Junge fuhr herum, als Morgan ihn berührte, der Besen wurde angehoben, und sein stumpfes Ende stieß dem Hochländer hart unter die Rippen. Morgan wankte zurück, wie betäubt, fiel dann auf ein Knie und keuchte.

Der Junge trat neben ihn und beugte sich herab. »Wir haben geschlossen, das sagte ich Euch doch. Ihr solltet besser aufpassen.« Er half Morgan hoch, überraschend kräftig für seine Hagerkeit, und führte ihn zur Tür. »Kommt später wieder, wenn wir geöffnet haben.«

Und das nächste, was Morgan registrierte war, daß er wieder draußen auf der Straße stand, sich an die hölzerne Außenwand des Gebäudes lehnte und die Arme um seinen Körper geschlungen hielt, als laufe er Gefahr, auseinanderzufallen – was keine unzutreffende Bezeichnung dafür war, wie er sich fühlte. Er atmete mehrere Male tief durch und wartete darauf, daß der Schmerz in seiner Brust nachließ.

Das ist lächerlich, dachte er verärgert. Ein Junge!

Schließlich gelang es ihm, sich aufzurichten. Er befestigte die Schulterriemen seines Schwertes, wo sie sich zu lösen begonnen hatten, und trat erneut durch die Türen des Whistledown.

Der Junge, der jetzt hinter der Theke fegte, wirkte nicht erfreut, als er ihn sah. »Was ist wohl Euer Problem?« fragte er Morgan direkt.

Der Hochländer trat an die Theke heran und schaute. »Was wohl mein Problem ist? Ich hatte kein Problem, bis ich hier hereinkam. Glaubst du nicht, daß du mit diesem Besen ein wenig schnell gehandelt hast?«

Der Junge zuckte die Achseln. »Ich habe Euch gebeten zu gehen, und Ihr habt es nicht getan. Was erwartet Ihr?«

»Wie wäre es mit ein wenig Hilfe? Ich hatte dir doch gesagt, daß ich jemanden suche.«

Der Junge seufzte müde. »Jeder sucht jemanden – besonders die Leute, die hier hereinkommen.« Seine Stimme war leise und weich, eine seltsame Mischung. »Sie kommen hier herein, um zu trinken und sich besser zu fühlen. Sie kommen hier herein, um Gesellschaft zu finden. Gut. Aber sie müssen dies tun, wenn wir geöffnet haben. Und wir haben nicht geöffnet. Ist Euch das jetzt klar?«

Morgan spürte, daß er seine Geduld zu verlieren begann. Er schüttelte den Kopf. »Ich werde dir sagen, was mir jetzt klar ist. Mir ist jetzt klar, daß du keine Manieren hast. Jemand sollte dir den Hintern versohlen.«

Der Junge stellte den Besen ab und legte seine schlanken Hände auf die Theke. »Also, Ihr werdet das sicher nicht tun. Jetzt wendet Euch um und geht durch diese Tür wieder hinaus. Und vergeßt, was ich zuvor gesagt habe. Kommt auch später nicht zurück. Kommt überhaupt nicht wieder zurück.«

Einen Moment lang hatte Morgan Lust, über die Theke hinwegzugreifen, den Jungen am Genick zu packen und ihn herüberzuziehen. Aber die Erinnerung an diesen Besengriff war noch zu frisch, als daß er sich zu voreiligem Handeln ermutigt fühlte, und außerdem schien der Junge kein bißchen Angst vor ihm zu haben.

Morgan unterdrückte seinen Ärger, kreuzte die Arme vor der Brust und blieb stehen. »Ist sonst noch jemand hier, den ich sprechen kann?« fragte er.

Der Junge schüttelte den Kopf.

»Die Inhaberin vielleicht?«

Der Junge schüttelte den Kopf.

»Nein?« Morgan beschloß, es darauf ankommen zu lassen.

»Ist der Name der Inhaberin Matty Roh?«

Ein Flackern der Erkenntnis flammte in den kobaltblauen Augen auf, verweilte einen Moment und war dann fort. »Nein.«

Morgan nickte gemächlich. »Aber du weißt, wer Matty Roh ist, nicht wahr?« Er traf damit eine Feststellung.

Der Blick des Jungen blieb fest. »Ich bin es müde, mit Euch zu sprechen.«

Morgan ignorierte ihn. »Matty Roh. Sie ist es, die ich hier finden wollte. Und ich habe einen langen Weg zurückgelegt. Darum brauche ich ein Bad, wie du so direkt erklärt hast. Matty Roh. Nicht irgendeinen namenlosen Begleiter für irgendeinen unwichtigen Zweck.« Seine Stimme wurde schärfer. »Matty Roh. Du kennst den Namen, du weißt, wer sie ist. Wenn du mich also loswerden willst, dann sage mir einfach, wie ich sie finden kann, und ich werde gehen.«

Er wartete, mit verschränkten Armen und fest aufgestellten Füßen. Der Gesichtsausdruck des Jungen blieb unverändert. Sein Blick ließ Morgan niemals los. Aber seine Hände glitten hinter der Theke herab und kamen mit einem Schwert mit dünner Klinge wieder hervor. Die Art, in der er es hielt, verriet eine gewisse Vertrautheit damit.

»Nun, was soll das?« fragte Morgan ruhig. »Bin ich wirklich so unwillkommen?«

Der Junge war so still wie Stein. »Wer seid Ihr? Was wollt Ihr von Matty Roh?«

Morgan schüttelte den Kopf. »Das betrifft nur sie und mich.« Dann fügte er hinzu: »Soviel kann ich dir sagen: Ich bin nicht hier, um Ärger zu bereiten. Ich muß sie einfach sprechen.«

Der Junge betrachtete ihn eine Weile lang. Sein Blick war gerade und fest, und sein Körper völlig ruhig. Er stand hinter der Theke wie eine Statue, und Morgan hatte das unangenehme Gefühl, daß er zwischen der Möglichkeit zu fliehen und der Möglichkeit anzugreifen schwankte. Morgan beobachtete seine Augen und seine Hände, um einen Hinweis darauf zu finden, welchen Weg der Junge einschlagen würde, aber er rührte sich überhaupt nicht. Von draußen drangen die Geräusche der Straße durch die geöffneten Türen und hingen laut und aufdringlich in der Stille.

»Ich bin Matty Roh«, sagte der Junge.

Morgan Leah starrte ihn an. Fast hätte er laut aufgelacht und etwas darüber gesagt, wie lächerlich das war. Aber etwas in der Stimme des Jungen hielt ihn davon ab. Er betrachtete ihn etwas genauer – die feinen, zarten Gesichtszüge, die schlanken Hände, den hageren Körper, der unter lockerer Kleidung verborgen war, die Art, wie er sich hielt. Er erinnerte sich daran, wie sich der Junge bewegt hatte. Nichts von alledem schien ganz zu einem Jungen zu passen. Aber zu einem Mädchen...

Er nickte bedächtig. »Matty Roh«, sagte er, und seine Überraschung war noch immer offenkundig. »Ich dachte, Ihr wärt ein... daß Ihr ein...«

Das Mädchen nickte. »Das solltet Ihr auch denken.« Ihre Hand bewegte sich nicht von dem Schwert fort. »Was wollt Ihr von mir?«

Einen Moment lang erwiderte Morgan nichts, sondern kämpfte noch immer mit der Erkenntnis, daß er ein Mädchen fälschlicherweise für einen Jungen gehalten hatte. Schlimmer noch, daß er es zugelassen hatte, daß sie ihn dermaßen wie einen Narren hatte aussehen lassen. Aber sicherlich griff man auf die verfügbaren Verteidigungsmöglichkeiten zurück, wenn man an einem Ort wie Wyvern Split lebte. Das Mädchen war schlau. Er mußte zugeben, daß ihre Täuschung gelungen war.

Er griff in die Tasche seiner Tunika, entnahm ihr den Ring mit dem Falkenemblem und hielt ihn ihr hin. »Erkennt Ihr dies?«

Sie warf einen schnellen Blick auf den Ring, und ihre Hand krampfte sich um das Schwert. »Wer seid Ihr?« fragte sie.

»Morgan Leah«, sagte er. »Wir wissen beide, wer mir den Ring gegeben hat. Er hat mir gesagt, ich solle zu Euch gehen, wenn ich ihn finden müßte.«

»Ich weiß, wer Ihr seid«, erklärte sie. Ihr Blick blieb unverändert abschätzend. »Tragt Ihr noch immer ein zerbrochenes Schwert, Morgan Leah?«

Ein Bild von Quickening, wie sie sterbend dalag, flammte in seinem Geist auf. »Nein«, sagte er leise. »Es wurde wieder zu einem Ganzen.« Er schob den Schmerz beiseite, den die Erinnerung gebracht hatte, und zwang sich, über die Schulter zu greifen und das Heft des Schwertes zu berühren. »Wollt Ihr es Euch ansehen?«

Sie schüttelte ablehnend den Kopf. »Es tut mir leid, daß ich es Euch so schwer gemacht habe. Aber es ist schwierig zu wissen, wem man vertrauen kann. Die Föderation hat ihre Spione überall – Sucher häufiger als alles andere.«

Sie nahm ihr eigenes Schwert auf und ließ es wieder unter die Theke gleiten. Einen Moment lang schien sie nicht zu wissen, was sie als nächstes tun sollte. Dann sagte sie: »Möchtet Ihr etwas essen?«

Er sagte, das würde er gern, und sie führte ihn durch die Schwingtüren nach hinten in die Küche, wo sie ihn an einem kleinen Tisch Platz nehmen ließ, etwas Stew aus einem Kessel über dem Herd in eine Schüssel schöpfte, mehrere Stücke Brot abschnitt, Bier in einen Krug goß und alles zu ihm herüberbrachte. Er aß und trank eifrig, denn er hatte seit Tagen kaum etwas gegessen. Wildblumen standen in einer Vase auf dem Tisch, und er berührte sie versuchsweise. Sie beobachtete ihn schweigend, hatte immer noch denselben ernsten Ausdruck auf dem Gesicht und betrachtete ihn mit diesem offenen, neugierigen Blick. Die Küche war überraschend kühl, da eine Brise durch die geöffnete Hintertür hereinblies und den Rauchfang des Kamins durchlüftete. Geräusche von der Straße schwebten gleichzeitig herein, aber der Hochländer und das Mädchen ignorierten sie.

»Ihr habt lange gebraucht, um hierher zu gelangen«, sagte sie, als er seine Mahlzeit beendet hatte. Sie trug seine Teller zu einem Ausguß. »Er hat Euch früher erwartet.«

»Wo ist er jetzt?« fragte Morgan. Sie vermieden es unter großen Mühen, Padishar Creels Namen zu erwähnen – als ob der Föderationsspione alarmieren könnte.

»Was sagte er, wo er sein würde?« konterte sie.

Sie prüft mich noch immer, dachte Morgan. »Am Firerim Reach. Sagt mir etwas. Ihr seid sehr vorsichtig mit mir. Woher soll ich wissen, daß ich Euch vertrauen kann? Woher soll ich wissen, daß Ihr wirklich Matty Roh seid?«

Sie beendete den Abwasch, stellte die Teller zum Trocknen beiseite und wandte sich zu ihm um. »Das wißt Ihr nicht mit Sicherheit. Aber Ihr habt mich aufgesucht. Ich habe nicht Euch aufgesucht. Also müßt Ihr es riskieren.«

Er erhob sich. »Das ist nicht sehr beruhigend.«

Sie zuckte die Achseln. »Das soll es auch nicht sein. Es ist nicht meine Aufgabe, Euch zu beruhigen. Es ist meine Aufgabe, sicherzustellen, daß Ihr der seid, der zu sein Ihr behauptet.«

»Und seid Ihr jetzt sicher?«

Sie sah ihn an. »Mehr oder weniger.«

Ihr Blick war undurchdringlich. Er schüttelte den Kopf. »Wann werdet Ihr es genau wissen?«

»Bald.«

»Und was ist, wenn Ihr beschließt, daß ich lüge? Was ist, wenn Ihr beschließt, daß ich jemand anderer bin?«

Sie trat vor, bis sie ihm auf der anderen Seite des Tisches direkt gegenüberstand, bis das Blau ihrer Augen so hell war, daß es alles Licht zu verschlingen schien.

»Wir wollen hoffen, daß Ihr die Antwort auf diese Frage nicht herausfinden müßt«, sagte sie. Sie hielt seinen Blick herausfordernd fest. »Das Whistledown bleibt bis Mitternacht geöffnet. Wenn es schließt, werden wir darüber sprechen, was als nächstes geschehen soll.«

Er hätte schwören können, daß sie beinahe lächelte, als sie sich abwandte.

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