5

Die Abwasserkanäle unter Tyrsis waren feucht und kalt und lagen in einer zwielichtigen Dunkelheit, die an Rinnen entlang und Gitter hinabsickerte wie verschüttete Tinte. Das Tageslicht war im Westen versunken, und die Nacht kauerte in den Schatten, die sich von Gebäuden und Mauern erstreckten wie ein lebendig gewordener Geist. Schritte und Stimmen entschwanden heimwärts, und die Müdigkeit des Tagesendes war wie ein Seufzen, das von dem heißen Sommerwind aufgenommen wurde, während er sich in den Höhlungen stiller, erstickender Hitze in den Rinnen der Straßen und Wege der Stadt niederließ, eine windstille Decke, die über die darunterliegenden Katakomben ausgebreitet worden war.

Padishar Creel, Par Ohmsford und der Maulwurf ertasteten sich langsam ihren Weg durch diese Katakomben, drei der Schatten, die aus der herannahenden Nacht erwuchsen. Sie waren so leise wie der Staub, der von den Schuhen auf der Straße aufgewirbelt wurde. Sie atmeten durch den Mund, denn die Gerüche der Abwasserkanäle waren beklemmend und schwer in den gewundenen Röhren. Die Abwässer der Stadt waren ein träger Fluß, der ihre Füße umspülte. Manchmal erklommen sie Eisenleitern und Steinstufen, manchmal krochen sie durch enge Tunnel, als sie sich stetig ihren Weg vom Zentrum der Stadt auf die Mauern und die Vorderseite der Klippe zu bahnten, auf den Wachturm zu, in dem Damson Rhee gefangengehalten wurde, und auf die Auseinandersetzung zu, die sie erwartete.

»Wir werden nicht ohne sie zurückkehren«, hatte Padishar erklärt. »Was auch immer notwendig sein wird, um sie zu befreien, wir werden es tun. Und wenn wir sie erst einmal befreit haben, werden wir sie nicht wieder aufgeben.«

»Maulwurf«, hatte er geflüstert und sich vor den seltsamen, kleinen Burschen hingekniet. »Du wirst uns hineinführen und, wenn möglich, auch wieder hinaus. Aber du wirst nicht kämpfen, verstanden? Halte dich heraus und in Sicherheit. Denn nur du, Maulwurf, wirst wissen, wenn wir Damson befreit haben« – es war kein Hinweis darauf erkennbar, daß sie keinen Erfolg haben könnten –, »wie wir sie wieder in Sicherheit bringen können. Einverstanden?« Und der Maulwurf hatte ernst genickt.

»Par, deine Aufgabe wird noch schwieriger sein«, hatte der Anführer der Geächteten weiter erklärt und sich als nächstes an den Talbewohner gewandt. »Wenn wir den Schattenwesen begegnen, mußt du deine Magie gebrauchen, um sie von uns fernzuhalten. Der Hochländer hat das mit seinem Schwert erreicht, als wir in der Grube gefangen waren. Dieses Mal bleibt es dir überlassen. Mir fehlen die Mittel, uns gegen diese Monster zu verteidigen. Wenn wir ihnen begegnen, Junge, dann zögere nicht.«

Par war bereits zu dem Schluß gekommen, daß der Gebrauch des Wunschgesangs bei ihren Bemühungen unvermeidlich sein würde, so daß er Padishar dies schnell versprach. Was er nicht versprechen konnte – was er dem anderen aber nicht sagte – war, daß er sich nicht mehr sicher war, daß er die Magie würde kontrollieren können. Sie hatte sich bereits als unzuverlässig erwiesen, hatte bereits gezeigt, daß sie ein Eigenleben entwickeln und Macht freisetzen konnte, die ihn vielleicht ohne weiteres verschlingen würde. Aber solche Ängste verblaßten gegenüber seinen Gefühlen für Damson Rhee. Verschüttet durch ihren gemeinsamen Kampf, der Stadt und ihren Jägern zu entkommen, und durch die Tatsache, daß er geglaubt hatte, sie sei bei ihm sicher, waren seine Gefühle bei der Nachricht über ihre Gefangennahme sofort wieder an die Oberfläche gedrungen, und jetzt tobten sie in ihm wie ein unkontrolliertes Feuer. Er liebte sie. Vielleicht hatte er sie von Anfang an geliebt, aber sicher wußte er es, seit sie nach Colls Tod zu ihm gehalten hatte. Sie war so sehr ein Teil von ihm, wie es nur irgend etwas Abgetrenntes sein konnte, und er konnte den Gedanken, sie zu verlieren, nicht ertragen. Er würde alles darum geben, sie in Sicherheit zu wissen. Er würde alles geben. Wenn das bedeutete, den Zorn einer Magie heraufzubeschwören, die ihn unwiderruflich verändern konnte, die ihn vielleicht sogar vernichten würde, dann sollte es so sein. Wenn Felsen-Dall recht hatte mit seiner Behauptung, wer und was er war, dann konnte er ohnehin nichts tun, um sich zu retten. Er würde nicht vor den Gefahren der Magie zurückschrecken, wenn Damsons Sicherheit auf dem Spiel stand. Er würde tun, was er tun mußte.

So waren sie losgezogen, jeder von ihnen überzeugt davon, daß Damson es wert war, für sie alles aufzugeben. Jetzt erstreckten sich die Abwasserkanäle in engen, gewundenen Tunneln vor ihnen, und die Dunkelheit schloß sich schnell um das wenige Licht, das noch verblieben war. Bald würden sie gezwungen sein, Fackellicht zu benutzen, um etwas sehen zu können, und das würde besonders gefährlich werden, wenn sie sich den Stadtmauern näherten. Denn dort würden die dunklen Wesen sicherlich sowohl unter der Erde als auch darüber Wache halten, und Fackellicht würden sie schon von weitem sehen können.

Sie eilten weiter, wobei sich die scharfen Augen und Sinne des Maulwurfs unbeirrt ihren Weg suchten, die sicheren Pfade erwählten und jene mieden, die sie vielleicht behindern würden. Während sie vorwärtsgingen, konnten sie die Geräusche der Stadt über ihnen in Bruchstücken eines Lebens herabschweben hören, das so wenig mit dem ihren verbunden war, wie das Leben von Toten. Pars Gedanken glitten davon. Alles fühlte sich so an, als ob sie in dem Gestein der Klippe, auf der Tyr erbaut worden war, verschüttet wären, wie Geister auf der Jagd gerade außerhalb der Sicht der Menschen, die sie einst gewesen waren. Es schien dem Talbewohner nach reiflicher Überlegung, daß er tatsächlich mehr Geist als Mensch war, daß er auf seiner Flucht vor den Schattenwesen und den anderen Gefahren, denen er auf seiner Reise begegnet war, auf eine Weise verwandelt worden war, die er nicht gänzlich verstand, und daß er als Ergebnis seiner Substanz beraubt und vergeistigt zurückgelassen worden war. Er bewegte sich jetzt in einer Schattenexistenz, zunehmend der Freunde und der Familie beraubt, gefangen in einem Gewirr von Magien, die bewirkten, daß er sich aufzulösen begann. Es gab sicher eine Möglichkeit, sich zu retten, das wußte er, aber irgendwie konnte er offenbar nicht erkennen, was es war.

Sie erreichten einen breiten Zusammenfluß von Röhren und verlangsamten auf einen Wink des Maulwurfs hin ihren Schritt. Dicht zusammengedrängt am Grund eines Brunnens, aus dem eine steinerne Treppe hinausführte, berieten sie sich ein letztes Mal.

»Die Treppe führt zu einem Keller in der Innenmauer«, flüsterte der Maulwurf. Seine Nase war feucht und glänzend. »Von dort müssen wir zu einem Gang steigen, ihm bis zum Eingang folgen, der wieder hinausführt, dann durch eine weitere Tür wieder hineingehen und einem zweiten Gang zu einem verborgenen Durchgang folgen, der uns durch den Wachturm hinauf dorthin führen wird, wo Damson wartet.«

Er schaute von Padishar zu Par und gespannt wieder zurück.

Der große Mann nickte. »Föderationswächter?«

Der Maulwurf blinzelte. »Überall.«

»Schattenwesen?«

»Irgendwo im Turm.«

Padishar lächelte Par schief an. »Irgendwo. Sehr aufschlußreich.« Er zuckte mit den Achseln. »In Ordnung. Erinnert euch an das, was ich gesagt habe, ihr beide. Erinnert euch daran, was ihr zu tun habt – und nicht zu tun habt.« Er sah Par an. »Wenn ich sterbe, macht ihr weiter – wenn ihr könnt. Wenn nicht, dann flüchtet zum Firerim Reach und holt dort Hilfe. Versprecht es mir.«

Par nickte und dachte dabei, daß dieses Versprechen eine Lüge war, daß er niemals flüchten würde, bevor Damson nicht in Sicherheit war, egal, was geschähe.

Padishar griff über seine Schulter nach hinten, zog die Riemen fest, die das Breitschwert auf seinem Rücken festhielten, und überprüfte dann die langen Messer und das Kurzschwert an seiner Hüfte. Der Griff eines weiteren langen Messers ragte aus einem Schuh hervor. Sie alle waren sorgfältig in die Scheiden gesteckt und in Tuch eingewickelt worden, damit das Metall nicht rasseln oder das Licht reflektieren konnte. Par trug nur das Schwert von Shannara bei sich. Der Maulwurf besaß gar keine Waffen.

Padishar schaute erneut auf. »In Ordnung. Gehen wir hinein.«

In einer Linie erklommen sie die Treppe, kauerten sich eng an den Stein und bahnten sich ihren Weg auf das schwache Licht zu, das über ihnen schien. Ein Gitter kam in Sicht, Eisenstäbe, die ein Netz aus Schatten die Stufen hinunter und über ihre Körper warfen. Über ihnen war Stille, ein leeres, hohles Nichts.

Als sie das Gitter erreicht hatten, blieb der Maulwurf stehen, um zu lauschen, wobei er den Kopf neigte wie ein Tier auf der Jagd – oder in Gefahr –, griff dann aufwärts und schob das Gitter mit überraschender Kraft fast lautlos in die Höhe. Er verließ die Treppe, hielt das Gitter, während die beiden anderen schnell ins Freie stiegen, und legte es dann vorsichtig wieder auf seinen Platz.

Sie standen in einem Keller, der mit mehreren anderen Räumen verbunden war, die alle in beide Richtungen so weit verliefen, wie man sehen konnte. Überall waren Vorräte aufgestapelt, Kisten mit Waffen, Werkzeugen, Kleidung und verschiedenen anderen Gütern, alle sorgfältig beschriftet und an den dicken Steinmauern auf Holzbrettern aufgestapelt. In einem angrenzenden Raum waren Fässer untergebracht, und die verrosteten Rahmen alter Betten bildeten in der Düsterkeit ein kaum wahrnehmbares Labyrinth aus Metallknochen. Hoch oben an den Wänden, direkt unter der Kellerdecke und unmittelbar über dem Erdboden ließ eine Reihe schmaler, vergitterter Fenster dünne Streifen des schwindenden Lichts herein.

Der Maulwurf führte sie durch das Labyrinth von Kellerräumen voran, an den Stapeln von Vorräten vorbei und um das Durcheinander von Kisten herum zu einer Stelle, an der eine zweite Treppe zu einer schweren Holztür hinaufführte. Sie stiegen die Treppe vorsichtig hinauf, und Par spürte, wie sich die Haare auf seinem Rücken und in seinem Nacken bei dem Gedanken an die Möglichkeit, daß unsichtbare Augen vielleicht jede ihrer Bewegungen verfolgten, kribbelnd aufrichteten. Er spähte nach links und nach rechts, über sich und rund um sich herum, aber er sah nichts.

An der Tür blieben sie erneut stehen, während der Maulwurf ein kleines Metallwerkzeug dazu benutzte, das Schloß aufspringen zu lassen. Innerhalb von Sekunden waren sie durch die Tür hindurch und bewegten sich schnell den dahinterliegenden Gang entlang. Sie befanden sich jetzt in der Innenmauer der Zitadelle, der zweiten Verteidigungslinie der Stadt, die gleichzeitig Standort der Baracken war, die die meisten Föderationsgarnisonen beherbergten. Der Gang war gerade und schmal und von Türen und Fenstern unterbrochen, die sie jedermann verraten konnten. Aber niemand erschien während der Augenblicke, die sie brauchten, um den Eingang zu erreichen, den der Maulwurf suchte, und sie waren bereits durch eine weitere Tür gelangt, bevor Par auch nur Zeit hatte, beruhigt aufzuatmen.

Jetzt standen sie in einem schattigen Windfang, der auf einen Hof hinausführte, der zwischen den inneren und den äußeren Mauern der Stadt lag. Föderationssoldaten standen an den Toren und auf den Festungsmauern Wache. Sie waren nur noch als verschwommene Umrisse in der zunehmenden Dunkelheit erkennbar. Lichter flackerten durch die Fenster der Schlafquartiere und Wachhäuser und auch von den Festungsmauern und den Toren herüber. Beschuhte Füße schabten in der Stille. Stimmen erhoben sich zu leisem Murmeln. Irgendwo schärfte ein Schleifstein Metall. Par spürte, wie sich sein Magen verkrampfte. Die Geräusche geschäftigen Tuns erklangen überall um sie herum.

Sie schmiegten sich noch viele weitere Minuten lang in die Schatten des Windfangs, lauschten und beobachteten, warteten, bevor sie weiterzugehen versuchten. Par konnte Padishars Atem hören, als sich der alte Mann neben ihn an die Wand kauerte. Sein eigener Atem verriet den schnellen Schlag seines Herzens. Bewegungen der Magie des Wunschgesangs waren tief in seiner Brust zu spüren, ganz tief innen, wo die Gefühle ihren Ursprung hatten, und er kämpfte darum, sie unter Kontrolle zu halten. Er stellte fest, daß er erneut darüber nachdachte, was geschehen würde, wenn er die Magie einzusetzen versuchte. Sie war da, und er würde sie gebrauchen – dessen war er sich sicher. Aber ob sie ihm gehorchen würde, war eine vollkommen andere Sache, und es schien ihm plötzlich, daß, wenn sie ihn tatsächlich überwältigen würde und zu dem werden ließ, was er nach Felsen-Dalls Warnung werden mußte, nichts ihn daran hindern konnte, seine Freunde anzugreifen.

Damson, sagte er sich, Damson und das, was sie ihm bedeutete, würden die Magie unter Kontrolle halten.

Schließlich ging der Maulwurf weiter, glitt von dem schattigen Eingang fort und an dem groben Stein der großen Mauer entlang. Padishar folgte ihm sofort, und Par stellte, fast bevor er wußte, was er tat, fest, daß er sich beeilte, Schritt zu halten. Sie eilten vorsichtig durch die Dunkelheit und versuchten, wenn das Licht der Fackeln ihren Weg in sanften Teichen erhellte, mit dem Stein zu verschmelzen, und stellten sich vor, unsichtbar zu sein, damit sie es tatsächlich würden. Föderationssoldaten bewegten sich weiterhin rund um sie herum, unglaublich laut, unbehaglich nah, und es schien Par sicher, daß sie jeden Augenblick entdeckt werden mußten.

Aber bereits Sekunden später standen sie vor einer weiteren Tür, die unverschlossen war, und traten dann hindurch in das dahinterliegende Licht...

Ein verblüffter Föderationssoldat stand vor ihnen. Den Speer hielt er nachlässig in der Hand, während er sich darauf vorbereitete, seinen Wachposten einzunehmen. Sein Kinn sank herab, und eine Sekunde lang stand er da wie festgefroren. Sein Zögern kostete ihn das Leben. Padishar war sofort über ihm. Eine Hand legte sich blitzschnell auf seinen Mund, und die Klinge eines langen Messers blitzte in der anderen auf und verschwand dann. Par sah, wie sich die Augen des Soldaten überrascht weiteten. Er sah den Schmerz und dann die Leere. Der Soldat sackte in Padishars Armen zusammen wie eine Stoffpuppe. Der Speer fiel herab, und die schnellen Hände des Maulwurfs fingen ihn auf, bevor er auf dem Boden auftreffen konnte. In einem Gang aus Stein und altem Holz, der von Feuer beleuchtet wurde, das an den grob verputzten Wänden an pechgetränkten Fackeln flackerte, standen die Eindringlinge atemlos und regungslos da, hielten den toten Soldat zwischen sich und lauschten auf die Stille.

Dann hob Padishar den Körper hoch, trug ihn zurück in die Schatten einer Nische, wo er nicht mehr zu sehen war. Par sah ihm zu, als sei er irgendwie weit von dem Geschehen entfernt, und er fühlte sich so kalt wie der Stein um ihn herum. Er versuchte, nicht hinzusehen. Er hörte noch immer den Laut, den der Soldat von sich gegeben hatte, als er starb. Er sah noch immer den Ausdruck in seinen Augen vor sich.

Sie eilten schnell den Gang hinab und achteten darauf, ob Soldaten auftauchten, lauschten darauf, ob die Stille gestört würde. Aber sie trafen niemanden mehr, und bevor Par es richtig erkannte, waren sie durch eine kleine, eisenbeschlagene Tür getreten, die selbst in der schattigen Nische, in die sie eingesetzt war, kaum zu erkennen war.

Die Tür schloß sich hinter ihnen, und sie standen in einer Dunkelheit, die so vollständig war wie die einer mondlosen Nacht. Par konnte Holz und Staub riechen und die Rauheit von Brettern unter seinen Füßen spüren. Sie hielten einen Moment lang inne, während der Maulwurf den Raum durchstöberte. Dann wurde ein Feuerstein angeschlagen – einmal, zweimal –, und die kleine Flamme einer Kerze warf ihren schwachen Schein. Sie befanden sich in einer kaum sechs Fuß im Quadrat großen Kammer, die mit seltsamen Gegenständen und Schutt angefüllt war. Der Maulwurf schob die Gegenstände vorsichtig beiseite und legte damit an der Rückseite des Raums eine Stelle frei und drückte dann gegen die Wand. Ein Abschnitt dieser Wand gab plötzlich nach und gab eine Tür frei, die für das bloße Auge unsichtbar gewesen war und jetzt einwärts schwang.

Schnell traten sie hindurch. Ein schmaler Zwischenraum eröffnete sich zwischen den Steinmauern und den hölzernen Stützbalken, mit so niedriger Decke, daß Padishar gezwungen war, zu kriechen, damit er sich nicht den Kopf stieß. Als er seine große Hand hob und Vorsicht gebot, sah Par Blut an der Hand und spürte plötzlich die Nähe seines eigenen Todes, als sei dies etwas, was die toten Augen des Soldaten vorhergesagt hatten.

Der Maulwurf glitt an ihm vorbei und begann sie durch die Mauern hinabzuführen, wobei er sie an Steinvorsprüngen, Eisennägeln und gezackten Holzsplittern vorbeimanövrierte. Spinnweben strichen über ihre Gesichter, und kleine Nagetiere rannten quiekend durch die Dunkelheit vor ihnen. Die Flamme der Kerze war nur ein schwacher Schein vor der Schwärze.

Sie begannen schließlich aufwärts zu steigen, wobei sie in die Stützbalken gehauene Sprossen und in den Fels geschlagene Stufen fanden, eine Mischung aus Leitern und Rampen, die sich durch die Mauern aufwärts wanden. Sie befanden sich jetzt in dem Turm und bahnten sich ihren Weg auf seine Spitze und auf Damsons Gefängnis zu. Von Zeit zu Zeit hörten sie Stimmen, doch die klangen gedämpft und schwach. Es wurde beständig wärmer und stickiger, und Par begann zu schwitzen. Der Gang wurde schmaler und bereitete ihnen immer größere Schwierigkeiten. Padishar hatte Probleme, sich hindurchzuzwängen.

Dann blieb der Maulwurf plötzlich abrupt stehen und gefror an seinem Platz. Der Anführer der Geächteten und der Talbewohner blieben stehen und lauschten in die Dunkelheit geduckt. Nur die Stille war zu hören, aber Par spürte dennoch etwas – das Gefühl von etwas, das lebte und sich bewegte, unmittelbar durch diese Mauern hindurch, genau auf der anderen Seite. In ihm rührte sich die Magie des Wunschgesangs wie eine hungrige Katze, und ihr Feuer knisterte eifrig. Par schloß die Augen und konzentrierte sich darauf, ihren Klang verstummen zu lassen.

Was er jenseits der Mauer erspürte, war ein Schattenwesen.

Er spürte, wie sich sein Atem in seiner Kehle verfing, während sich in seinem Geist ein Bild von dem schwarzen Wesen formte und die Vision durch seine Magie lebendig wurde. Es stahl sich einen Gang in dem Turm entlang, mit Kapuze und Umhang bekleidet und mit den Fingern auf der Jagd nach Beute wie mit Tentakeln die Luft prüfend. Konnte es sie ebenfalls spüren? Wußte es, daß sie da waren? Die Magie rasselte wie eine Schlange in Par Ohmsford, wand sich, spannte sich an und sammelte Kraft. Par brachte sie zum Schweigen, denn er wollte ihr nicht nachgeben. Zu früh! Es war zu früh!

Die Luft flüsterte in seinen Ohren, als sei sie lebendig. Er biß die Zähne zusammen und hielt stand.

Dann war das Schattenwesen fort. Es verblaßte wie der Gedanke eines Augenblicks, dunkel und böse und voller Haß. Die Magie des Wunschgesangs kühlte sich ab und beruhigte sich wieder. Par spürte einen Teil der Anspannung abfallen, und die Muskeln in seinem Bauch und in seiner Brust lockerten sich. Er war sich bewußt, daß Padishar ihn beobachtete, war sich des Unbehagens bewußt, das das Gesicht des anderen widerspiegelte. Padishar griff nach hinten, um fragend seine Schulter zu umfassen. Par spürte die Härte in den Fingern des anderen und stahl etwas von seiner Kraft. Schließlich gelang ihm auch ein schnelles, versicherndes Nicken.

Sie gingen weiter, stiegen noch immer aufwärts und drangen durch die Dunkelheit vorwärts. Überall war es still. Die leisen Geräusche von Föderiertenstimmen und der Klang ihrer Schritte waren vollständig verklungen. Die Nacht hatte eine Decke der Stille über sie geworfen, in der alles Lebende scheinbar in den Schlaf entglitten war. Wie sehr es täuscht, dachte Par, während er sich weitermühte. Wie gefährlich das ist.

Kurz darauf blieben sie erneut stehen, dieses Mal an einem Stück mit Mörtel bearbeitetem Felsquader, der von schweren Holzpfählen eingerahmt waren, die wiederum die Decke über ihnen abstützten. Der Maulwurf gab die Kerze an Padishar weiter und begann den Stein mit den Fingern zu erforschen. Irgend etwas klickte unter seiner vorsichtigen Berührung, und ein Abschnitt der Wand gab nach. Schwach und dunstig wurde ein schmaler Lichtstrahl sichtbar.

Der Maulwurf wandte sich wieder Padishar zu. Aus seiner Stimme klang Unruhe. »Sie halten sie irgendwo durch die zweite Tür hindurch und dann etwas weiter hinab gefangen.« Er zögerte. »Ich könnte es euch zeigen.«

»Nein«, sagte Padishar sofort. »Warte hier. Warte, bis wir zurückkommen.«

Der Maulwurf betrachtete ihn einen Moment lang und nickte dann widerwillig. »Die zweite Tür«, wiederholte er.

Mit beiden Händen stieß er die Tür in der Wand ganz auf. Padishar und Par Ohmsford traten vorsichtig hindurch.

Sie standen auf dem Podest einer Treppe, deren Stufen sowohl aufwärts als auch abwärts führten. Ihnen gegenüber war eine Tür geschlossen und verriegelt. Das Metall war voller Rost. Fackeln ruhten in in den Stein geschlagenen Halterungen, ihr Schein leuchtete die Reihe der ausgetretenen Stufen aus und ihr beißender Rauch erhob sich in die Dunkelheit des Turms.

Alles war ruhig.

Hinter ihnen schwang die verborgene Tür wieder zu.

Par sah Padishar an. Der große Mann schaute sich wachsam um. Neuerliches Unbehagen zeigte sich in seinem Blick. Er schüttelte über irgend etwas Unsichtbares den Kopf.

Sie begannen den Abstieg mit dem Rücken an der Wand und lauschten angestrengt auf drohende Geräusche. Die Treppe wand sich schlangenförmig an der Wand entlang, und die Lichtflecke der Fackeln berührten sich an den Biegungen kaum. Eine Andeutung von Nachthimmel wurde hin und wieder durch die Ritzen in den Steinen sichtbar, hoch oben und von ihnen aus jenseits aller Reichweite. Pars Magen krampfte sich zusammen. Er glaubte auf den Stufen über ihnen etwas zu hören, ein leises Schaben von Schuhen, ein Rascheln von Kleidung. Er blinzelte und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Da war nur Stille.

Sie erreichten das nächste Podest. Es gab eine einzige Tür, und sie war unbewacht und unverschlossen. Sie öffneten sie und gingen einfach hindurch. Par gefiel das nicht. Wenn dies der Ort war, an dem Damson gefangengehalten wurde, wären Wächter zu erwarten gewesen. Er schaute erneut zu Padishar, aber der große Mann schaute einen schwach beleuchteten Gang hinab, der zu der genannten zweiten Tür führte. Sie bewegten sich schnell darauf zu, und dabei spürte Par auf einmal, wie die Magie des Wunschgesangs plötzlich erneut zum Leben erwachte. Er wurde fast überwältigt von der Hitze, die sie erzeugte.

Etwas stimmte nicht.

Er berührte Padishar am Arm. Der große Mann wandte sich erschreckt um, und auch Par fuhr wieder herum. Er spürte eine Bewegung hinter sich, eine dunkle Gegenwart... Die Schattenwesen! Sie waren...

Und die Tür hinter ihnen flog krachend auf. Drei Sucher in schwarzen Umhängen drangen herein, Schattenwesengestalten, die sich in ihre Gewänder duckten und krümmten. Waffen schimmerten im Fackellicht. Padishars Breitschwert wurde mit schabendem Geräusch aus der Scheide gezogen. Par griff auf seinem Rücken nach dem Schwert von Shannara, riß seine Hände aber dann von ihm fort wie von glühenden Kohlen. Er würde sich verbrennen, wenn er es berührte! Verbrennen, das wußte er!

»Padishar!« stöhnte er.

Der große Mann stürmte auf die Tür hinter ihnen zu, aber auch sie schwang weit auf, und zwei weitere Monster in schwarzen Umhängen erschienen. Beide Seiten des Ganges waren jetzt blockiert, und Par Ohmsford und Padishar Creel waren gefangen.

»Der Maulwurf!« fluchte Padishar, der sich sicher war, daß sie verraten worden waren.

Aber Par hörte ihn nicht. Die Sucher eilten herbei, um sie zu ergreifen, und die Magie des Wunschgesangs brach im Klang seines Warnrufs auf, der den Turm mit Zorn erfüllte. Sie hüllte ihn ein wie ein Wirbelwind und preßte ihn rücklings gegen einen erstaunten Padishar. Er kämpfte darum, sie unter Kontrolle zu behalten, aber sie überwältigte ihn mühelos. Dann riß sie sich in Bruchstücken weißheißen Feuers von ihm los, die auf die Schattenwesen zuflogen. Die schwarzen Gestalten warfen ihre Arme hoch, aber die Magie des Wunschgesangs schoß durch sie hindurch und verbrannte sie zu Asche. Par schrie, da er nicht anders konnte, und der Wunschgesang brach durch die Mauern hindurch wie ein Fluß durch einen Damm, durchschlug die mit Mörtel verkleideten Spalten und sprengte Löcher in den Stein. Padishar schreckte zurück, ergriff dann voller Verzweiflung Par, zog ihn hastig durch die zweite Tür und schlug sie schnell hinter ihnen zu.

Par fiel auf die Knie, und der Wunschgesang ebbte wieder ab.

»Ich... ich kann nicht atmen«, keuchte er.

Padishar riß ihn auf die Füße. »Par! Schatten, Junge! Was geschieht mit dir? Was stimmt nicht?«

Par schüttelte verzweifelt den Kopf. Die Magie entfaltete sich unkontrolliert in ihm. Sie hatte sich erneut verselbständigt und war nicht nur gedacht. Brins Magie, nicht Jairs. Ein Feuer, das er nicht kontrollieren konnte, schwelend, wartend...

Er umklammerte die Arme des anderen, und sein Atem kehrte zurück und breitete eine Kühle in ihm aus, die den Wahnsinn dämpfte. »Finde Damson!« zischte er. »Vielleicht ist sie hier, Padishar! Finde sie!«

Schreie erklangen überall um sie herum, die Schreie von Föderationssoldaten, die die Brustwehren entlangkamen und in den Wachturm eilten. Padishar ergriff Pars Tunika und zog den Talbewohner hinter sich her, während er einen Gang entlangeilte, der von schweren Holztüren gesäumt war, die alle verschlossen und verriegelt waren.

»Damson!« rief der große Mann außer sich.

Hinter ihnen, jenseits der Tür, durch die sie geflohen waren, glaubte Par das Rascheln der Gewänder von Schattenwesen zu hören.

»Sie kommen!« warnte er und spürte, wie sich die Hitze der Magie des Wunschgesangs erneut in ihm ausbreitete.

»Damson!« heulte Padishar Creel.

Eine gedämpfte Antwort erklang hinter einer der Türen. Der Anführer der Geächteten ließ Par los und eilte weiter, wobei er wieder und wieder den Namen seiner Tochter rief. Die Antwort erklang erneut, und er kam rutschend zum Halten. Wie wild hackte Padishar auf eine der Türen ein. Rufe erschollen von einer Treppe am anderen Ende des Ganges her. Wieder hämmerte er mit mehreren krachenden Schlägen auf die Tür ein und warf sich dann mit gesenkter Schulter gegen das, was von ihr noch übriggeblieben war. Die Tür flog aus den Angeln, und Padishar verschwand hinter ihr.

Par eilte zu der Öffnung und blieb stehen. Padishar stand dort blutig und benommen, und Damson Rhee umarmte ihn. Ihr rotes Haar war staubig und wirr und ihr bleiches Gesicht von Schmutz bedeckt. Ihre Augen brannten, als sie den Blick hob, um den Talbewohner anzusehen.

»Par«, flüsterte sie leise und eilte zu ihm, um auch ihn zu umarmen.

Der Durchgang hinter ihnen war von den Geräuschen bewaffneter Männer erfüllt. Par wandte sich um und wollte dem Angriff begegnen, aber Padishar Creel war sofort an ihm vorbei und in den Gang hinausgeeilt. Ein erschreckendes Klirren von Waffen erklang.

»Par!« rief der große Mann. »Nimm sie und lauf!«

Ohne nachzudenken, ergriff Par Damsons Arm und zog sie hinter sich her durch die Tür. Padishar stand einem Haufen Föderationssoldaten Auge in Auge gegenüber. Weitere erschienen hinter ihnen auf der Treppe. Der Anführer der Geächteten drängte die meisten durch pure Kraft zurück und wirbelte zornig umher.

»Teufel, Junge – lauf! Jetzt! Erinnere dich an unsere Vereinbarung!«

Dann griffen ihn die Soldaten erneut an, und er kämpfte um sein Leben. Zwei gingen zu Boden, dann ein weiterer, aber es kamen immer mehr, die ihre Plätze einnehmen konnten. Zu viele, dachte Par. Zu viele, als daß Padishar ihnen hätte standhalten können. Par spürte, wie sich seine Brust verkrampfte. Er mußte seinem Freund helfen. Aber das würde bedeuten, daß er die Magie des Wunschgesangs einsetzen mußte, das Feuer, das er nicht kontrollieren konnte. Es würde bedeuten, daß er zusehen mußte, wie jene Männer in Stücke gerissen wurden. Es würde bedeuten, daß vielleicht auch Padishar in Stücke gerissen wurde.

Und er hatte dem großen Mann sein Versprechen gegeben.

»Padishar«, hörte er Damson in sein Ohr flüstern, und er spürte, wie sie auf den großen Mann zueilen wollte.

Entschlossen ergriff er sie und zog sie den Weg zurück, den sie gekommen waren. Fort von dem Kampf. Er hatte seine Wahl getroffen. »Par!« schrie sie verärgert, aber er schüttelte abwehrend den Kopf. Sie erreichten die geschlossene Tür. Befanden sich hinter ihr die Schattenwesen? Par konnte nichts hören, aber er konnte über die Kampfgeräusche hinter ihm hinweg ohnehin nichts hören.

»Wir können ihn nicht zurücklassen!« schrie Damson.

Er zog sie nahe an sich heran. »Wir müssen es.« Vor ihm ragte die hölzerne Tür auf und verbarg drohend und schweigend was darunterlag. Er stützte sich ab und beschwor die Magie des Wunschgesangs herauf, denn dieses Mal hatte er keine Wahl. Die Magie regte sich eifrig.

Bitte, dachte er, nur dieses eine Mal möchte ich sie kontrollie- ren können!

Er riß die Tür auf und war bereit, die Magie weißheiß und tödlich den dahinterliegenden Gang hinabschießen zu lassen. Aber Stille empfing ihn, und Mondlicht floß durch Risse in dem zerschmetterten Stein herab. Schutt bedeckte den Boden. Der Gang war leer.

Er warf einen letzten Blick zu Padishar Creel zurück, der durch seinen erbitterten Kampf eine einsame Barriere gegen den Fluß von Föderationssoldaten errichtete, die durchzubrechen versuchten. Es gab keine Hoffnung für Padishar, das wußte er. Es war von Anfang an eine Falle gewesen. Und die Falle begann sich bereits zu schließen.

Es war jedoch immer noch Zeit, Damson zu retten.

Und sie hatten vereinbart, das zu tun, was auch immer es kosten würde.

Mit Damson, die noch immer an seinen Arm geklammert war, eilte er in den leeren Gang vor ihnen und ließ Padishar Creel zurück.

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