Bei Tagesanbruch machte sich die Vorhut der Elfenarmee zum Aufbruch bereit. Wren rief Tib Arne zu sich und teilte ihm mit, daß sie ihn zu den Geächteten zurückschicken wollte, um sicherzustellen, daß diese erfuhren, daß er sie gefunden hatte, und damit er sie dazu drängte, so schnell wie möglich zu kommen. Sie versicherte, daß es wichtig sei, daß er zurückginge, denn sonst wäre sie seiner Bitte, zu bleiben, sicher nachgekommen. Sie sagte ihm, er könne gern zurückkehren, wenn die Botschaft überbracht sei. Tib schmollte ein wenig und zeigte deutlich seine Enttäuschung, aber schließlich stimmte er zu, daß sie recht hätte, und versprach, sein Bestes zu tun, damit die Geächteten bald zu Hilfe eilten. Desidio gab ihm zwei Elfenjäger als Eskorte mit – trotz seiner wiederholten Einwände, daß er niemanden brauche –, und das Trio machte sich durch das Tal auf den Weg zu den Streleheimebenen. Gloon zeigte sich nicht, und Wren war recht froh darüber.
Fast zwei Tage dauerte es, bis die Elfen die Entfernung zwischen sich und der Föderation überwunden hatten. Sie zogen über das freie Grasland schnell und stetig voran; sie wollten schnell sein und verließen sich darauf, daß die Flugreiter und die Kavalleriekundschafter ihre Entdeckung verhindern würden. Die Flugreiter erstatteten regelmäßig Bericht über das Vorankommen der Südlandarmee, die langsamer geworden war. Sie hatte einen Tag gebraucht, um den Mermidon zu überqueren, und einen weiteren für das Instandsetzen der Ausrüstung, die vom Wasser beschädigt worden war. Die Föderation war noch nicht allzu weit über das nördliche Ufer des Mermidon hinausgekommen, als sich die Elfen, am Nachmittag des zweiten Tages, ihr soweit genähert hatten, daß ein Schlagabtausch möglich war.
Die Flugreiter überbrachten diese Nachricht. Zwei von ihnen schössen an der Stelle aus der Sonne hervor, wo sie in sengender, weißer Hitze vor dem Himmel hing. Die Elfen waren an den Rändern der Westlandwälder ausgeschwärmt, nicht weit von der Stelle, an der der Mermidon, aus dem Pykon hervorgehend, eine Kehre machte. Als Wren darüber informiert wurde, daß das herannahende Heer nur noch weniger als fünf Meilen entfernt war und beständig näherkam, wies sie Desidio an, er sollte den Elfen befehlen, in den Schutz der Bäume zurückzuweichen und dort auf den Einbruch der Nacht zu warten. In der Kühle der Schatten rief sie dann die Befehlshaber der Expedition zusammen.
»Wir müssen uns entscheiden«, erklärte sie.
Sie waren zusammen fünf; Triss, Desidio, Tiger Ty, Erring Rift und sie selbst. Rift war ein großer Elf mit gebeugten Schultern, einem struppigen, schwarzen Bart, sich lichtendem Haar und Augen wie Obsidiansplitter. Er war Anführer der Flugreiter, und daher war seine Anwesenheit unabdinglich. Tiger Ty war aus Höflichkeit da und weil Wren seinem Urteil vertraute. Sie waren in lockerer Runde unter einem alten Hickorybaum versammelt und spielten mit ihren Fußspitzen mit Nußschalen und Zweigen, während sie ihr zuhörten.
»Wir haben sie gefunden«, fuhr sie fort, »aber das genügt nicht. Jetzt müssen wir entscheiden, was wir weiterhin tun wollen. Es ist eine gewaltige Armee, und sie bewegt sich sehr viel schneller vorwärts als wir angenommen hatten. Fünf Tage, und sie haben bereits den Mermidon überquert und sind hierhergelangt. Unsere eigene Armee ist mindestens eine Woche von diesem Punkt entfernt. Die Föderation wird nicht auf uns warten. Wenn sie in Ruhe gelassen werden, werden sie den Rhenn noch in dieser Woche erreichen. Dann werden wir unseren ersten Versuch dort unternehmen müssen, wo wir eigentlich unsern letzten unternehmen wollten.«
»Die Hitze läßt sie hier auf dem freien Grasland vielleicht ein wenig langsamer werden«, warf Desidio ein.
»Ein Feuer würde sie noch wirkungsvoller verlangsamen«, schlug Rift vor. Er rieb seinen Bart. »Geschickt angelegt, würde der Wind es genau auf sie zutreiben.«
»Und auch genau auf die Westlandwälder«, sagte Triss.
»Oder der Wind treibt es auf einmal auf uns zu«, sagte Wren kopfschüttelnd. »Das ist zu gefährlich, außer als letzte Rettung. Nein, ich denke, wir haben eine bessere Wahl.«
»Ein Gefecht«, erklärte Desidio ruhig. »Wie Ihr es die ganze Zeit geplant hattet, Mylady. Was mir aber durch den Befehl des Hauptmanns verboten ist.«
Wren lächelte und sah ihn direkt an. »Ich habe Euch gesagt, daß die Zeit kommen könnte, wo es notwendig ist, daß Ihr mir zuhört. Jetzt ist die Zeit, Truppenführer. Ich weiß, wie Eure Befehle lauten. Ich weiß, was ich Hauptmann Oridio versprochen habe. Ich weiß aber auch, was ich ihm nicht versprochen habe.«
Sie verlagerte ihr Gewicht und beugte sich vor. »Wenn wir hier sitzenbleiben und nichts tun, wird die Föderation den Rhenn vor uns erreichen und uns einschließen. Arborlon wird verloren sein. Es wird für niemanden mehr Zeit sein, uns zu Hilfe zu kommen, weder für die Geächteten noch für sonst jemanden. Wir müssen diese Armee aufhalten, damit wir selbst genug Zeit bekommen, wirkungsvoll handeln zu können. Befehle sind Befehle, Truppenführer, aber auf dem Schlachtfeld bestimmen die Ereignisse, inwieweit man sich an diese Befehle halten muß.«
Desidio sagte nichts.
»Wir haben beide versprochen, daß die Vorhut nicht in den Kampf gegen die Föderationsarmee geführt wird, bis Hauptmann Oridio angekommen ist. Sehr gut, wir werden dieses Versprechen halten. Aber nichts bindet die Bürgerwehr, die ich befehlige, oder das der Flugreiter, die frei nach ihrem eigenen Willen handeln können. Ich denke, wir sollten Möglichkeiten überlegen, wie sie vielleicht gegen diesen Feind eingesetzt werden können.«
»Ein Dutzend Flugreiter und einhundert Angehörige der Bürgerwehr?« Desidio hob fragend die Augenbrauen.
»Mehr als genug für das, was sie, meiner Meinung nach, im Sinn hat«, schaltete sich Tiger Ty ein. »Wir sollten sie zu Ende anhören.«
Desidio nickte. Erring Rift rieb sein Kinn stärker, und sein Blick war gespannt. Triss machte den Eindruck, als sprächen sie über das Wetter.
»Wir sind zu wenige, um die Föderationsarmee offen angreifen zu können«, sagte sie, und ihr Blick schweifte über ihre Gesichter. »Aber wir haben Geschwindigkeit und Schnelligkeit und das Überraschungsmoment auf unserer Seite, und das könnten wertvolle Waffen während eines Nachtangriffs sein, wenn er dazu gedacht ist, sie zu zersprengen und zu verwirren. Die Flugreiter können von überallher angreifen, und die Bürgerwehr ist darin geübt, dazusein, ohne gesehen zu werden. Was wäre, wenn wir sie im Dunkeln angreifen, wenn sie es nicht erwarten? Was wäre, wenn wir sie dort treffen, wo sie verwundbar sind?«
Triss nickte. »Ihr Wagen und der Proviant.«
Erring Rift klatschte in die Hände. »Ihre Sturmböcke!«
»Wir könnten sie anzünden«, flüsterte Tiger Ty eifrig. »Sie in Grund und Boden brennen, während sie schlafen!«
»Mehr als das«, schaltete sich Wren schnell wieder ein und zog die Aufmerksamkeit damit wieder auf sich. »Wir können sie verwirren und ängstigen. Nachts können sie nicht sehen. Daraus sollten wir unseren Vorteil ziehen. Tut alles, was Ihr vorgeschlagen habt, aber laßt sie denken, daß eine ganze Armee dort draußen ist. Greift sie ganz plötzlich aus einem Dutzend Richtungen an und seid wieder verschwunden, bevor sie feststellen können, was geschehen ist. Hinterlaßt bei ihnen den Eindruck, daß sie von allen Seiten belagert werden. Danach werden sie nicht mehr so schnell vorrücken. Selbst wenn sie den Schock überwunden haben, werden sie uns verstärkt suchen, und das wird sie langsamer werden lassen.«
Erring Rift lachte. »Wie eine wahre Fahrende gesprochen!« rief er begeistert aus und fügte dann hastig hinzu: »Mylady.«
»Und was soll ich dabei tun?« fragte Desidio ruhig. »Und was die Vorhut?«
Wren mochte sich irren, aber sie glaubte, ein Anzeichen von Anerkennung in Desidios Stimme wahrgenommen zu haben, als hoffte er, daß sie etwas geplant hatte. Sie wollte ihn nicht enttäuschen.
»Der Proviant und die Sturmböcke werden der Nachhut der Armee unterstellt sein. Die Flugreiter und die Bürgerwehr werden aus dieser Richtung kommen. Wenn Ihr seht, daß der Weg frei ist, Truppenführer, wird ein Angriff von Euren Bogenschützen und der Kavallerie entlang der Vorderseite und der Flanke der Föderationsarmee ein nicht unerhebliches Maß an zusätzlicher Verwirrung bewirken.«
Desidio dachte darüber nach. »Sie sind vielleicht wachsamer, als Ihr glaubt. Sie sind vielleicht darauf vorbereitet.«
»Innerhalb der Grenzen ihres eigenen Protektorats? Wo sie während ihres gesamten Marsches nach Norden keinen einzigen Elf gesehen haben?« Sie schüttelte den Kopf. »Inzwischen werden sie sich fragen, ob sie überhaupt jemanden vorfinden werden.«
»Vielleicht gibt es Schattenwesen«, sagte Triss ruhig.
Wren nickte. »Aber die Schattenwesen werden als Menschen verkleidet sein und sich der Armee nicht offenbaren wollen. Erinnert Euch, Triss – sie manipulieren, indem sie im Verborgenen bleiben. Wenn sie sich zeigen, verlieren sie ihre Anonymität und versetzen ihre eigene Armee in Panik. Ich glaube nicht, daß sie das riskieren werden. Ich glaube nicht, daß sie auch nur Zeit haben werden, darüber nachzudenken, wenn wir sie in einem unbewachten Moment erwischen.«
»Das werden wir nur einmal tun können.«
Sie lächelte schwach. »Also sollten wir lieber das beste daraus machen, nicht wahr?« Sie sah Desidio an. »Könnt Ihr uns helfen?«
Er sah sie trübselig an. »Was Ihr wissen wollt ist doch, ob ich gegen die Befehle von Hauptmann Oridio handeln werde?« Er seufzte. »Sie sind deutlich, aber andererseits ist einem Befehlshaber auf dem Schlachtfeld ein gewisses Maß an unabhängigem Denken erlaubt. Außerdem habt Ihr recht mit Eurer Beurteilung dessen, was geschieht, wenn wir nichts tun.«
Er sah die anderen an. »Ihr seid alle dabei?« Sie nickten, jeder von ihnen. Dann schaute er erneut zu Wren. »Dann muß ich tun, was ich kann, um Euch vor Euch selbst zu retten, selbst wenn das bedeutet, die Offensive zu ergreifen. Der Hauptmann wird die Logik des Ganzen erkennen, wie ich hoffe. Er weiß, daß ich keine Befehlsgewalt über die Flugreiter oder die Bürgerwehr habe und sicherlich keine über Euch, Mylady.« Er hielt inne und fügte dann trübselig hinzu: »Ich gestehe, ich bin überrascht, wie leicht Ihr mich überzeugen konntet.«
»Die Vernunft hat Euch überzeugt, Truppenführer«, korrigierte sie ihn. »Das ist ein Unterschied.«
Sie sahen einander noch einmal ruhig an. »Ist die Angelegenheit damit geklärt?« fragte Tiger Ty mürrisch.
»Bis auf die Strategie«, erwiderte Wren. »Ich überlasse sie Euch. Aber denkt daran, daß ich Euch begleiten werde. Nein, Tiger Ty, keine Diskussion. Seht Triss an – er macht sich nicht einmal mehr die Mühe, es zu versuchen.«
Der Flugreiter sah sie finster an und verkniff sich jeglichen Einwand, den er gerade hatte vorbringen wollen.
»Wann werden wir beginnen, Mylady?« fragte Erring Rift. Seine schwarzen Augen funkelten.
Wren erhob sich. »Heute nacht natürlich. Sobald sie schlafen.« Sie machte einige Schritte von ihnen fort. »Ich werde mich waschen und etwas essen. Laßt mich wissen, wenn Euer Plan steht.«
Sie lächelte zufrieden über die Stille, die folgte, und schaute nicht zurück.
Der Tag verging und färbte den westlichen Horizont rot und purpurn und die Wolken formierten sich und veränderten sich dann langsam wieder. Die Hitze blieb, als die Sonne verschwand und die Farben verblaßten, und hinterließ eine übelriechende Feuchtigkeit in der windstillen Luft, durch die die Kleidung klebte und die Haut juckte. Die Elfen aßen früh und versuchten dann zu schlafen, aber selbst im Schatten der Wälder war wenig Erleichterung zu finden. Als die Mitternacht herannahte, wurden Desidios Elfen-Jäger geweckt, zogen sich an und bewaffneten sich, bewegten sich dann aus den Bäumen hervor über das Grasland und glitten leise auf die Erhebung im Norden zu, die die schlafende Föderationsarmee überragte.
Wren ging mit ihnen, denn sie wollte sich erst einmal einen Überblick vom Boden aus verschaffen, bevor sie mit den Flugreitern hinaufflog. Sie zog mit einer Abordnung der Bürgerwehr hinaus, die von Desidio und Triss angeführt wurde. Zur Tarnung waren alle in grüne und braune Waldfarben gekleidet und trugen hohe Stiefel, Gürtel und Handschuhe, um sich gegen Dickicht und Gestrüpp zu schützen. Sie trug einen Rucksack, um Faun mitnehmen zu können (der nicht hatte zurückbleiben wollen), und hatte sich einen Lederbeutel um den Hals gebunden, um die Elfensteine nahe bei sich zu haben. Ein Riemen mit langen Messern war um ihre Taille geschlungen, und ein Dolch steckte in einem ihrer Stiefel. Für alles gewappnet, dachte sie. Sie ritten ein kurzes Stück auf die Ebenen hinaus, stiegen dann ab und bahnten sich zu Fuß ihren Weg zu den vordersten Linien der Elfen-Jäger, die in der Dunkelheit kauerten.
Mit Triss und Desidio kroch sie dann allein vorwärts bis zu einer Stelle, von der aus sie auf das Lager der Föderation hinabsehen konnte.
Die Armee war gewaltig. Obwohl sie es mit Tiger Ty aus der Luft gesehen hatte, war sie nicht darauf vorbereitet, wie riesig sie jetzt wirkte. Sie breitete sich in einem Gewirr von Hunderten von Herdfeuern so weit aus, wie man blicken konnte, und überschwemmte die Ebene mit soviel Licht, daß es die Sterne mit ihrer Helligkeit verdrängte. Gespräche und Gelächter schwebten so deutlich herüber, als kämen die Stimmen nur aus wenigen Metern Entfernung heran. Vor dem Himmel zeichneten sich die riesigen Sturmböcke durch den Feuerschein ab, große, skelettartige Massen hölzerner Knochen und eiserner Gelenke, die wie mißgebildete Riesen aufragten. Wagen drängten sich in Gruppen zusammen. Sie waren vollgeladen mit Vorräten und Waffen, und der Geruch von Öl und Pech schwebte auf dem Wind heran. Obwohl es inzwischen nach Mitternacht war, gab es viele, die noch immer nicht schliefen, die von Feuer zu Feuer wanderten, von dem Zusammenklingen von Gläsern und Zinnbechern angespornt, angezogen von dem Rufen und Schreien und dem Versprechen von Getränken und Gesellschaft.
Wren sah Triss an. Die Föderation verhielt sich ganz ungezwungen und war offenbar überzeugt davon, daß ihre Größe und Stärke sie vor jeder Gefahr schützen würde. Sie formte mit ihren Lippen fragend das Wort »Wächter«. Triss zuckte die Achseln, deutete nach links und dann nach rechts und wies auf die Wächter hin, die die Befehlshaber der Föderation aufgestellt hatten. Es waren nur wenige, und sie standen weit verstreut. Sie hatte recht gehabt mit ihrer Vermutung. Die Südländer erwarteten keine Schwierigkeiten.
Sie glitten den Hang wieder hinab, bis sie außer Sichtweite des Lagers waren, erhoben sich dann und gingen durch die Linien der Bogenschützen und Kavalleristen den Weg zurück. Als sie in sicherer Entfernung waren, zog sie Triss und Desidio nah zu sich heran.
»Geht so nahe heran wie möglich, Truppenführer«, flüsterte sie Desidio zu. »Wartet auf die Flugreiter, bevor ihr von hinten angreift. Kümmert Euch um die Feuer, und greift dann an. Die Bogenschützen, gefolgt von der Kavallerie, wie geplant, und dann schnell fort. Geht kein Risiko ein. Laßt sie nicht mehr von Euch sehen, als notwendig. Wir wollen, daß sie ihre Phantasie zu Hilfe nehmen, wenn sie bestimmen, wie viele wir sind.«
Desidio nickte. Er konnte seine Aufgabe besser einschätzen als sie, aber sie war die Königin, und es war nicht an ihm, ihr das zu sagen. Sie lächelte schwach, nahm seine Hand in ihre, um ihre Zuversicht auszudrücken, wandte sich dann mit Triss ab und kroch davon. Die Eskorte wartete bereits, und sie stiegen wieder auf und ritten zurück in die Wälder.
Die Flugreiter und der Hauptteil der Bürgerwehr warteten auf einer Lichtung. Ein Dutzend Körbe waren aus Zweigen geflochten und mit Lederriemen zusammengebunden worden. Jeder war groß genug, um ein Dutzend Männer aufzunehmen. Bewaffnet mit Langbögen und Kurzschwertern kletterten die Elfen-Jäger hinein. Jeder Korb würde von einem Rock auf die Ebenen hinter der Föderationsarmee gebracht werden. Wren eilte zu Tiger Ty, der bereits auf Spirit saß, zog sich hinter ihm hinauf und band die Gurte fest, die sie sicher auf ihrem Platz halten würden. Triss kletterte in einen Korb, der vorn befestigt war. Erring Rift stieß einen leisen Pfiff aus, und einer nach dem anderen erhoben sich die Rocks himmelwärts, die Klauen um Bänder gekrallt, die die Körbe an vier Ecken trugen. Sanft hoben sie diese an, trugen sie vorsichtig von der Erde fort, durch die Bäume hinauf und in den dunkler werdenden Himmel empor.
Der Wind rauschte in kühlen Wogen über Wren Elessedils Gesicht, als Spirit aus den Bäumen aufstieg und ostwärts auf die Ebenen zuschwebte. Die Feuer der Föderationsarmee kamen sehr schnell in Sicht, und ihre Reichweite schien von hier aus sogar noch größer. Erring Rift übernahm mit seinem Rock Grayl die Führung, leitete die Formation südwärts an der Baumlinie entlang und so weit von dem Licht fort wie möglich. Sie flogen leise die Baumlinie hinab, beobachteten, wie sich die Feuer ausbreiteten und dann wieder zusammenzogen, als sie jenseits ihres Scheins wieder in die Dunkelheit gelangten. Als sie weit genug hinabgeflogen waren, führte Rift sie wieder auf das Licht zu, schwang weit über die Ebenen, so daß sie jenseits in der Mitte herankommen würden.
Wren klammerte sich mit einer Hand an Tiger Ty, um Halt und Kontakt zu haben. Der Flugreiter saß sicher und fest auf seinem Platz, blieb während des Fluges vornübergebeugt und hatte das Gesicht abgewandt. Keiner von ihnen sprach.
Als sie so nahe herangekommen waren, wie sie wagen konnten, ohne gesehen zu werden, begannen die Rocks auf die Erde hinunterzugleiten. Die Körbe wurden hinabgelassen und die Bänder gelöst. Die Bürgerwehr strömte aus den Transportbehältnissen aus und verschwand in die Nacht. Die Rocks erhoben sich erneut, Wren noch immer hinter Tiger Ty, und schwebten in weitem Bogen hinaus und davon. Triss blieben wenige Minuten, um sich der Wachen zu entledigen, und dann war es soweit.
Die Rocks beschrieben erneut einen Bogen zurück, richteten sich aus und strebten dann direkt auf das Föderationslager zu. Immer schneller wurden sie dabei. Dies war der gefährlichste Teil der Aktion – so gefährlich, daß es Tiger Ty verboten war, mehr zu tun, als die Königin der Elfen als Beobachter mit sich zu führen. Was auch immer sonst geschehen würde, sie mußte sicher davonkommen. Sie eilten auf das Lager der Föderation zu und gingen ungefähr fünfzig Fuß über dem Boden, als sie über die ersten der Feuer hinwegflogen, in einen Gleitflug über.
Dann stießen sie abwärts wie dunkle Pfeile aus der Nacht. Alle außer Spirit. Eine Macht von elf Rocks stürzte in das Föderationslager und strich auf die Wachfeuer zu. Sie wurden erst im letzten Moment entdeckt, und überraschtes Heulen stieg von den Männern unter ihnen auf. Aber die Warnung kam zu spät. Mit ausgebreiteten Flügeln löschten die Rocks die Wachfeuer, wobei sie sich jene aussuchten, die schon fast verglüht waren, und ergriffen mit ihren schwieligen Klauen Klumpen der glühenden Kohlen. Warum sollte man Feuer für einen Brand mit sich führen, wenn bereits welches zur Verfügung stand, hatte Erring Rift argumentiert. Schnell verschwanden die Rocks wieder und drehten nach rechts und nach links zu den Sturmböcken ab. Die Föderationssoldaten kamen in Schwärmen aus ihren Decken und Betten hervor und versuchten aus dem Gewirr von Worten, die ihnen von den bereits Wachgewordenen zugerufen wurden, schlau zu werden. Inzwischen hatten die Rocks die Sturmböcke und die Wagen mit den Vorräten erreicht. Sengende Glut stürzte aus ihren Klauen auf das trockene, verwitterte Holz. Der Wind entfachte die Kohlen im Fall, und das Holz brach sofort in Flammen aus. Einige der glühenden Kohlen wurden über staubigem, geteertem Segeltuch abgeworfen, einige über den schindelgedeckten Dächern auf den riesigen Feuertürmen, einige über den Pechbottichen, die dafür bestimmt waren, die Geschosse der Katapulte zu bestreichen.
Feuer brüllte von einem Dutzend Stellen auf und leckte hungrig empor. Die Rufe verwandelten sich in Schreie des Zorns und Schreie nach Wasser, aber die Flammen waren überall gleichzeitig. Die Rocks schössen zu jenen hinab, die die Flammen sofort zu ersticken versuchten und trieben sie fort.
Dann griff die Bürgerwehr aus der Nacht an. Die Langbogen sandten Pfeilhagel in die verwirrten Föderationssoldaten hinein und ließen sie zu Boden gehen, während sie darum kämpften, ihre Waffen zu ziehen. Sie töteten sie, bevor sie wußten, was geschah. Schwertkämpfer erschienen, tauchten plötzlich überall an den Rändern des Lagers entlang auf, schnitten Kampfpferde und Packtiere los und trieben sie in die Nacht hinaus, schütteten säckeweise Getreide aus, kippten Wasserfässer um und erschlugen jeden, der ihnen im Weg stand.
Das Föderationsheer geriet in völliges Durcheinander. Männer rannten wild umher, schlugen auf jeden und alles ein, was ihnen begegnete, häufig auch aufeinander. Offiziere versuchten die Ordnung wiederherzustellen, aber niemand war sich sicher, wer wer war, und die Bemühungen wurden in der aufbrandenden Verwirrung fortgeschwemmt.
Und dann griffen Desidios Elfen-Jäger von vorne an, die Bogenschützen zuerst, und ließen Pfeile auf das Lager regnen, eine Salve nach der anderen. Gleich darauf stürzte die Kavallerie mit erschreckendem Geheul aus der Nacht hervor. Von hoch über ihnen beobachtete Wren, wie die Elfenpferde eine Schneise in die vorderen Reihen der Föderation schlugen, tief in das Lager vordrangen und dann wieder hinausstürmten, Wachfeuer und Männer verstreuten und Soldaten und Zwangsverpflichtete in die Dunkelheit fliehen ließen.
Aber die Föderationsarmee war riesig, und die Angriffe berührten kaum ihre Ausläufer. In ihrer Mitte, wo noch Ruhe vorherrschte, formierten sich bereits Reihen von Männern und begaben sich auf den langsamen, stetigen Marsch nach außen, auf die Quelle der Schwierigkeiten zu. Hunderte von Fußsoldaten mit Schilden und Kurzschwertern strömten durch den Tumult. Ihre eigenen Männer schoben sie beiseite oder trampelten sie nieder, denn sie suchten die Eindringlinge. Im Handumdrehen waren sie an den Rand des Lagers gelangt, und der Schein der brennenden Wagen und Sturmböcke strahlte von ihren in Rüstungen steckenden Körpern ab wie Blut.
Wren suchte die Dunkelheit ab, um festzustellen, was aus ihren Elfen geworden war. Die Rocks flogen bereits wieder gen Süden, und Tiger Ty hatte auch Spirit gewendet, um ihnen zu folgen. Sie betrachtete das Lager über ihre Schulter hinweg, während sie in die Dunkelheit davoneilten, aber es war keine Spur mehr von Desidios Jägern oder der Bürgerwehr zu erkennen. Die Föderationssoldaten drangen aus dem Feuerschein vorwärts und suchten vergeblich nach einem Feind. Der war bereits wieder verschwunden. In der Ferne standen alle Kriegsgerätschaften und der gesamte Packzug in Flammen. Ihre Feuerpyramiden brannten Hunderte von Fuß hoch in den Nachthimmel und gaben eine so intensive Hitze ab, daß Wren sie sogar dort spüren konnte, wo sie entlangflogen. Der Geruch von Rauch stieg ihr dicht in die Nase, und die Schreie der Verletzten erfüllten ihre Ohren. Überall lagen Männer, blutbefleckt und still.
Wir haben unseren Sieg, dachte sie, aber sie spürte, daß die Intensität ihrer anfänglichen Befriedigung schwand.
Sie flogen davon, Spirit kurze Zeit hinter den anderen, bis er sie dann einholte. Weit auseinandergezogen, stiegen sie zu den wartenden Körben hinab, fanden die Bürgerwehr bereits an ihrem Platz vor, ergriffen die Halteriemen, hoben die Körbe in die Luft und eilten westwärts auf die Wälder zu. Das alles dauerte nur wenige Augenblicke, und dann glitten sie über die Bäume hinweg, weit von dem Wahnsinn des Föderationslagers fort, wieder hinein in die Sicherheit, aus der sie gekommen waren.
Als sie wieder im Wald gelandet waren, rief Wren ihre Befehlshaber zu sich, um das Ausmaß ihrer eigenen Verluste festzustellen. Die Rocks waren unversehrt aus dem Angriff hervorgegangen, und bis auf einen Angehörigen war die ganze Bürgerwehr sicher zurückgekehrt. Nur drei der Elfen-Jäger waren gefallen, Kavalleristen, die von ihren Pferden gezogen worden waren. Es gab eine Reihe von Verletzungen, aber nur eine war ernster Natur. Der Angriff war ein vollständiger Erfolg gewesen.
Wren dankte Triss, Desidio und Errig Rift und befahl der Vorhut, sich bereitzuhalten. Sie sollten jetzt sofort gen Norden ziehen, bevor die Föderation versuchen konnte, nach ihnen zu suchen, und einen neuen Platz in den Westlandwäldern als Versteck auswählen. Sobald der Morgen graute, würden sie auskundschaften, welchen Schaden sie dem Feind zugefügt hatten und entscheiden, was als nächstes zu tun wäre. Diese Nacht war ein guter Anfang gewesen, aber das Ende war noch immer weit entfernt.
Eilig bereiteten sich die Elfen darauf vor, hinauszuziehen. Zufriedenes Flüstern und Händedrücken eilten von einem Mann zum anderen, während sie arbeiteten. Die Elfen hatten ihren ersten Kampf in ihrer Heimat in mehr als hundert Jahren bestritten und hatten ihn gewonnen. Morrowindls lange Nacht lag endlich hinter ihnen, und ein kleiner Teil des Zorns und der Enttäuschung, die ihr Leben ausgemacht hatte, war erlöst worden. Viele wußten, daß ihre Befreiung einen Sinn gehabt hatte.
Wren Elessedil verstand das. Als Königin der Elfen, in dieser Nacht mehr als nur dem Namen nach, als Hoffnung ihrer Großmutter auf das, was sie sein könnte, und mit Garths Versprechen, was sie sein würde, war auch etwas in ihr selbst freigesetzt worden. Sie konnte es dadurch spüren, wie die Elfen sie ansahen. Sie konnte ihren Respekt fühlen. Sie gehörte jetzt zu ihnen. Sie war eine von ihnen.
Innerhalb einer Stunde war alles bereit. Verstohlen und leise verschmolzen die Elfen aus der Vergangenheit von Morrowindl mit der Nacht.