Nachdem die Elfen stundenlang stetig marschiert waren, verbrachten sie den Rest jener Nacht in einem Wald nördlich des Pykons, der sich zwischen den gewaltigen Waldmassen von Drey und den Ebenen erstreckte, auf denen in der Ferne die Föderation ihr Lager errichtet hatte. Die ganze Nacht über konnten sie die Feuer der brennenden Sturmböcke und Proviantwagen sehen, die den Horizont mit einem hellen Schimmer überzogen, und bis in die Stille und Abgeschiedenheit des Waldes konnten sie schwache Rufe und Schreie hören.
Sie schliefen unruhig und standen in der Dämmerung auf, um sich zu waschen, etwas zu essen und sich für den Tag zu rüsten. Desidio sandte Reiter nach Norden, nach Arborlon, die sowohl die Nachricht über den Angriff als auch eine persönliche Bitte von Wren an Barsimmon Oridio übermitteln sollten, daß der Hauptteil der Armee so schnell wie möglich südlich ziehen möge. Kavalleriepatrouillen wurden mit dem Befehl ausgesandt, sich zu vergewissern, ob nicht noch eine weitere Südlandarmee außer der, von der sie wußten, in der Nähe war. Besondere Aufmerksamkeit sollten sie auf die Garnisonen in den Städten Callahorns richten. Flugreiter flogen gen Süden, um das Ausmaß des Schadens zu ergründen, den ihr Angriff in der letzten Nacht der Föderationsarmee zugefügt hatte. Besonders berücksichtigen sollten sie die Frage, wie bald die Kolonne wohl wieder weiterziehen würde. Der Tag war bewölkt und grau, und die Rocks konnten vor dem dunklen Hintergrund der Westlandberge und -wälder ungesehen fliegen. Die restlichen Elfen wurden, nachdem sie die Tiere versorgt und die Kriegsausrüstung gesäubert und instand gesetzt hatten, fortgeschickt, bis zum Mittag zu schlafen.
Wren verbrachte den Morgen mit ihren Befehlshabern Desidio, Triss und Erring Rift. Tiger Ty war gen Süden geflogen, da er davon überzeugt war, daß jegliche Einschätzung des Zustands der Föderationsarmee seiner persönlichen Überprüfung unterliegen mußte. Wren war sowohl müde als auch aufgeregt, gleichzeitig überfließend vor Energie und starr vor Erschöpfung, und sie wußte, daß auch sie selbst einige Stunden Schlaf brauchte, damit sie wieder klar denken könnte. Dennoch forderte sie ihre Befehlshaber – und besonders Desidio, jetzt, wo sie ihn für sich gewonnen hatte – auf, sich zu überlegen, was ihre kleine Streitmacht als nächstes tun konnte. Zum Großteil würde dies davon abhängen, was die Föderation tat. Trotzdem gab es immer noch sehr viele unterschiedliche Möglichkeiten, und Wren wollte ihre Überlegungen erst einmal grundsätzlich in die richtige Richtung lenken. Mit etwas Glück würden die Südländer erst in einigen Tagen weiterziehen können, und das würde der anrückenden Elfenarmee Zeit genug verschaffen, den Rhenn zu erreichen. Wenn die Föderierten jedoch gleich weiterzogen, war es Wrens Aufgabe und die der Vorhut, eine Möglichkeit zu ersinnen, sie erneut aufzuhalten. Sie hatte unter keinen Umständen die Absicht, tatenlos abzuwarten. Sie konnten sich nicht einfach reglos verhalten. Mit dem Angriff der letzten Nacht hatten sie einen wichtigen Sieg über den so viel stärkeren Gegner errungen, und sie durften den errungenen Vorteil nicht gleich wieder aufs Spiel setzen. In der Föderationsarmee würde jetzt sicher jeder über die Schulter nach ihnen Ausschau halten, und sie wollte erreichen, daß sie so lange wie möglich ausspähten. Es war wichtig, daß ihre Befehlshaber genauso dachten wie sie.
Sie war zufrieden, daß sie dies erreicht hatte, als ihre Besprechungen endeten, und daher ging sie schließlich auch schlafen. Sie schlief fast bis zum Mittag und sah beim Erwachen, daß Tiger Ty mit der Flugreiterpatrouille zurückgekehrt war. Sie brachten gute Neuigkeiten. Die Föderationsarmee machte keinerlei Anstalten, sofort weiterzuziehen. Alle Sturmböcke und der größte Teil ihrer Vorräte waren zu Asche verbrannt. Das Lager befand sich noch genau dort, wo die Elfen es letzte Nacht angegriffen hatten, und alle Bemühungen der Armee schienen darauf ausgerichtet zu sein, sich um die Verletzten zu kümmern, die Toten zu begraben und festzustellen, was ihnen von ihrem Proviant geblieben war. Kundschafter patrouillierten am Rande des Lagers, und Suchtrupps sondierten das Terrain, aber der Hauptteil des Heeres war noch immer damit beschäftigt, sich wieder zu sammeln.
Dennoch war Tiger Ty nicht zufrieden.
»Es ist eine Sache, heute festzustellen, daß sie sich wieder formieren«, erklärte er Wren, ohne auf die anderen zu hören. »Es war zu erwarten, daß sie nach einem Angriff wie diesem festsitzen. Sie haben wirklichen Schaden erlitten, und sie müssen ein wenig ihre Wunden lecken. Aber Ihr solltet Euch da nicht täuschen. Sie werden das tun, was wir tun: Sie werden darüber nachdenken, wie sie auf unseren Überfall reagieren sollen. Wenn sie morgen noch immer dort sind, sollten wir uns das näher ansehen. Denn dann haben sie bestimmt etwas geplant. Darauf könnt Ihr Euch verlassen.«
Wren nickte und führte ihn davon, damit sie sich mit Triss beim Mittagessen zusammensetzen konnten. Triss stimmte Tiger Tys Gedankengängen zu. Es war eine erfahrene Armee, der sie gegenüberstanden, und ihre Befehlshaber würden sehr bemüht sein, den augenblicklichen Vorteil, den die Elfen errungen hatten, zurückzuerobern.
Sie hatten ihre Mahlzeit gerade beendet, als eine Elfenpatrouille mit einem zerschlagenen und aufgelösten Tib Arne im Schlepptau hereinritt. Die Patrouille hatte das untere Ende des Callahorns auf den Streleheim zu erkundet, als sie auf den Jungen gestoßen waren, der auf der Suche nach den Elfen über die Ebenen gewandert war. Da sie ihn allein und verletzt vorgefunden hatten, hatten sie ihn mitgenommen und direkt hierhergebracht.
Tib hatte Schnitte und Quetschungen im Gesicht und war von Kopf bis Fuß mit Dreck und Staub bedeckt. Er war sehr erschöpft und konnte zunächst kaum sprechen. Wren brachte ihn zu einer Stelle, an der er sich hinsetzen konnte, und säuberte ihm mit einem feuchten Tuch das Gesicht. Triss und Tiger Ty standen in der Nähe, weil sie wissen wollten, was er zu sagen hatte.
»Erzähle mir, was geschehen ist«, drängte Wren ihn, nachdem sie ihn ausreichend beruhigt hatte, daß er wieder sprechen konnte.
»Es tut mir leid, meine Königin«, entschuldigte er sich. Er machte ein beschämtes Gesicht und litt darunter, daß er die Kontrolle über sich verloren hatte. »Ich war einen Tag und eine Nacht lang dort draußen, ohne etwas zu essen oder zu trinken zu haben, und ich habe auch nicht geschlafen.«
»Was ist mit dir geschehen?« wiederholte sie.
»Wir wurden angegriffen, ich und die Männer, die Ihr mit mir ausgesandt hattet. Das war nicht weit von den Drachenzähnen entfernt. Es war Nacht, als sie kamen, mehr als ein Dutzend von ihnen. Wir hatten ein Lager errichtet, und sie stürmten auf uns zu. Eure Männer kämpften so gut, wie sie konnten. Aber sie wurden getötet. Ich wäre sicherlich auch getötet worden, wenn Gloon nicht gewesen wäre. Er kam mir zu Hilfe, schoß auf meine Angreifer herab, und ich entkam in die Dunkelheit. Ich konnte Gloons Schrei hören und die Rufe der Männer, die gegen ihn kämpften, und dann nichts mehr. Ich habe mich die ganze Nacht lang in der Dunkelheit verborgen gehalten und ging dann zurück, um Euch zu finden. Ich hatte Angst, ohne Gloon weiterzugehen, Angst, daß mich andere Patrouillen aufgreifen würden.«
»Ist der Kampfhaubenwürger tot?« fragte Tiger Ty abrupt.
Tib brach in Tränen aus. »Ich glaube ja. Ich habe ihn nicht mehr gesehen. Ich habe nach ihm gepfiffen, als es hell war, aber er ist nicht gekommen.« Er sah Wren niedergeschlagen an. »Es tut mir leid, daß ich versagt habe, Mylady. Ich weiß nicht, wie sie uns so leicht finden konnten. Es war, als hätten sie es gewußt!«
»Mach dir keine Gedanken, Tib«, tröstete sie ihn und legte ihre Hand auf seine Schulter. »Du hast dein Bestes getan. Es tut mir leid wegen Gloon.«
»Ich weiß«, murmelte er und faßte sich wieder.
»Du wirst jetzt hier bei uns bleiben«, sagte sie zu ihm. »Wir werden eine andere Möglichkeit finden, die Geächteten zu informieren, und wenn nicht, werden wir einfach darauf warten, daß sie uns finden.«
Sie ließ Nahrung und Getränke für den Jungen bringen, wickelte ihn in eine Wolldecke und zog dann Tiger Ty und Triss beiseite. Sie standen unter einer hoch aufragenden Eiche, durch deren Laubwerk das Licht vom wolkenverhangenen Himmel schwach und grau sickerte.
»Was denkt Ihr?« fragte sie sie.
Triss schüttelte den Kopf. »Es waren erfahrene Männer, die den Jungen begleitet haben. Sie hätten eigentlich nicht unvorbereitet überrascht werden können. Ich denke, sie hatten entweder großes Pech, oder der Junge hat recht, und es hat bereits jemand auf sie gewartet.«
»Ich werde Euch sagen, was ich glaube«, sagte Tiger Ty. »Ich glaube, es ist sogar dann sehr schwer, einen Kampfhaubenwürger zu töten, wenn man ihn sieht, ganz zu schweigen davon, wenn man ihn nicht sehen kann.«
Sie sah ihn an. »Was wollt Ihr damit sagen?«
Sein Stirnrunzeln vertiefte sich. »Es bedeutet, daß mich an alledem etwas stört. Glaubt Ihr nicht, daß dieser Junge eine seltsame Wahl war, um uns Nachricht von den Geächteten zu bringen?«
Sie sah ihn einen Moment schweigend an und dachte darüber nach. »Er ist jung, ja. Aber gerade darum fällt er wahrscheinlich weniger auf. Und er scheint selbstbewußt genug zu sein.« Sie hielt inne. »Ihr traut ihm nicht, Tiger Ty?«
»Das will ich nicht sagen.« Er furchte angestrengt die Brauen. »Ich denke nur, wir sollten vorsichtig sein.«
Sie nickte, denn sie wußte es besser, als daß sie Tiger Tys Verdacht abgetan hätte. »Triss?«
Der Hauptmann der Bürgerwehr zog an den Verbänden um seinen gebrochenen Arm. Die Schlinge war gestern vor dem Angriff abgenommen worden, und nur ein Paar schmale Schienen an seinem Unterarm war geblieben.
Er schaute nicht auf, während er ein loses Band wieder festzog. »Ich glaube, Tiger Ty hat recht. Es schadet nichts, vorsichtig zu sein.«
Sie verschränkte die Arme. »In Ordnung. Bestimmt jemanden, der auf ihn achten soll.« Sie wandte sich Tiger Ty zu. »Ich möchte, daß Ihr etwas Wichtiges für mich erledigt. Ich möchte, daß Ihr dort weitermacht, wo Tib aufgehört hat. Nehmt Spirit und fliegt gen Osten. Seht zu, ob Ihr die Geächteten finden könnt und führt sie hierher. Nur für den Fall, daß sie Schwierigkeiten haben, uns zu erreichen. Dafür braucht Ihr vielleicht mehrere Tage, und Ihr müßt sie ausfindig machen, ohne daß wir Euch helfen können. Ich kann Euch nicht einmal sagen, wo Ihr mit der Suche anfangen sollt. Aber wenn es fünftausend Geächtete sind, sollten sie nicht schwer zu finden sein.«
Tiger Ty runzelte erneut die Stirn. »Es gefällt mir nicht, daß ich Euch verlassen soll. Schickt jemand anders.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das müßt Ihr tun. Bei Euch kann ich mich darauf verlassen, daß die Suche erfolgreich sein wird. Macht Euch um mich keine Sorgen. Triss und die Bürgerwehr werden mich beschützen. Es wird mir gutgehen.«
Der knorrige Flugreiter schüttelte den Kopf. »Es gefällt mir nicht, aber ich werde gehen, wenn Ihr es befehlt.«
Da es auch möglich war, daß er Par oder Coll Ohmsford oder Walker Boh oder auch Morgan Leah auf seiner Reise traf, gab sie ihm eine kurze Beschreibung von jedem einzelnen und nannte ihm eine Möglichkeit, wie er sicher sein konnte, wer sie waren. Als sie geendet hatte, gab sie ihm die Hand und wünschte ihm Glück.
»Seid vorsichtig, Wren von den Elfen«, warnte er rauh und hielt ihre Hand einen Moment lang fest in der seinen geborgen. »Die Gefahren dieser Welt sind denen Morrowindls nicht allzu unähnlich.«
Sie lächelte und nickte, und dann war er fort. Sie beobachtete, wie er einige Vorräte und Decken zusammenpackte, sie auf Spirit befestigte, hinaufkletterte und in das Grau entschwebte. Sie schaute noch lange Zeit, nachdem er außer Sicht geraten war, himmelwärts. Die Wolken wurden dunkler. Es würde bei Einbruch der Nacht regnen.
Wir werden besseren Schutz brauchen, dachte sie. Wir werden weiterziehen müssen.
»Ruft Desidio herüber«, befahl sie Triss.
Ein ausreichend heftiger Regen würde das ganze Grasland, auf dem die Föderation lagerte, in Schlamm verwandeln. Es war vielleicht eine unbegründete Hoffnung, aber sie konnte nicht umhin, daran zu denken.
Gebt uns nur eine Woche Zeit, bat sie, den Blick auf das aufgewühlte Grau gerichtet. Nur eine Woche.
Der erste Regentropfen platschte auf ihr Gesicht.
Die Elfenvorhut sammelte sich, packte und zog sich unter die dichten Bäume des Waldes von Drey zurück, um dort das Ende des Sturms abzuwarten. Es begann heftiger zu regnen, als der Tag dem Ende zuging, und in der Dämmerung goß es in Strömen. Die Flugreiter hatten ihre Rocks weitab von den Pferden angepflockt, und die Männer hatten Segeltuch zwischen die Bäume gespannt, um sich und ihren Proviant trockenzuhalten. Die Patrouillen waren bis auf den Meldetrupp, der nach Arborlon ziehen sollte, zurückgekehrt und hatten berichtet, daß es keinerlei Anzeichen irgendeiner weiteren Föderationsstreitmacht gab.
Sie aßen eine warme Mahlzeit, da der Rauch vom Regen verschluckt wurde, und zogen sich dann zum Schlafen zurück. Wren spielte Dutzende von Möglichkeiten durch, was als nächstes geschehen könnte, und dachte, sie würde noch stundenlang wachliegen, aber sie schlief fast sofort ein. Ihr letzter Gedanke galt Triss und der Bürgerwehr, die nahe bei ihr Wache hielten.
Als sie erwachte, regnete es noch immer genauso beständig wie am Abend zuvor. Der Himmel war bewölkt, und die Erde war durchweicht und verwandelte sich in Schlamm. Es regnete den ganzen Tag lang und auch noch am Morgen des nächsten Tages. Kundschafter zogen aus, um den Standort der Föderationsarmee zu erkunden, und kehrten mit der Nachricht zurück, daß sie nicht weitergezogen war. Wie Wren gehofft hatte, war das Grasland sumpfig und trügerisch geworden, und die Soldaten der Südlandarmee hatten ihre Kragen hochgeschlagen und warteten den Sturm ab. Sie erinnerte sich an Tiger Tys Warnung, nicht fälschlicherweise zu glauben, daß die Föderation, nur weil sie nicht weiterzog, untätig blieb, aber das Wetter war so schlecht, daß die Flugreiter nicht starten wollten, und es war wenig zu erkennen, solange sie auf dem Boden blieben.
Von Arborlon traf die Nachricht ein, daß die Hauptmacht der Elfenarmee noch immer mehrere Tage brauchen würde, bevor sie ihren Marsch nach Süden beginnen konnte. Wren knirschte enttäuscht mit den Zähnen. Das Wetter war auch den Elfen nicht wohlgesonnen.
Sie verbrachte einen Teil ihrer Zeit mit Tib, da sie mehr über ihn erfahren wollte, und fragte sich, ob Tiger Tys Verdacht begründet war. Tib war offen und herzlich, außer wenn Gloon erwähnt wurde. Ermutigt durch ihre Zuwendung, war er bestrebt, über sich selbst zu sprechen. Er erzählte ihr, daß er in Varfleet aufgewachsen war, später seine Eltern an die Föderationsgefängnisse verloren hatte, dann von den Geächteten rekrutiert worden war, um im Widerstand zu helfen, und seitdem bei den Geächteten gelebt hatte. Er überbrachte überwiegend Nachrichten, denn er konnte fast überall hingelangen, weil er nicht so aussah, als bedeute er für irgend jemanden eine Gefahr. Er lachte darüber und brachte Wren damit ebenfalls zum Lachen. Er sagte, er sei ein- oder zweimal nordwärts zu den Festungen der Geächteten in den Drachenzähnen gezogen, sei aber nicht dorthin gegangen, um dort zu leben, da er in den Städten zu wertvoll war. Er sprach begeistert von den Zielen der Geächteten und von der Notwendigkeit, das Grenzland von der Herrschaft der Föderation zu befreien. Er sprach nicht von den Schattenwesen und ließ auch nicht erkennen, daß er etwas über sie wußte. Sie lauschte sorgfältig auf alles, was er sagte, und hörte nichts, was darauf schließen ließ, daß Tib etwas anderes war als das, was er zu sein behauptete. Sie bat Triss, ebenfalls mit dem Jungen zu sprechen, damit er sich auch eine Meinung bilden konnte. Das tat Triss, und er kam dabei zu demselben Schluß wie sie. Tib Arne schien zu sein, wer und was er behauptete. Wren war davon inzwischen überzeugt und ließ daher die Angelegenheit fallen.
Der Regen endete am frühen Morgen des dritten Tages, als sich die Wolken teilten und der Himmel zu hellem Sonnenschein aufklarte. Wasser tropfte von den Blättern und bildete in Vertiefungen Pfützen, und die Luft dampfte und wurde feucht. Desidio sandte Reiter zu den Ebenen zurück, und Erring Rift schickte zwei Flugreiter südwärts. Die Elfen zogen aus den tiefen Wäldern zum Rand des Graslands und ließen sich dort nieder, um abzuwarten.
Die Kundschafter und die Flugreiter kehrten am Mittag mit unterschiedlichen Berichten zurück. Die Elfenjäger hatten nichts gefunden, aber die Flugreiter berichteten, daß das Föderationslager abgeschlagen worden war und sich die Armee darauf vorbereitete, weiterzuziehen. Da es bereits Mittag war, konnte man nicht mit Sicherheit sagen, was dies bedeutete, denn die Armee konnte nicht darauf hoffen, bis zur Dämmerung mehr als nur wenige Meilen zurücklegen zu können. Wren lauschte all den Berichten, ließ sie sich ein zweites Mal wiederholen, durchdachte die Angelegenheit und rief dann Erring Rift herbei.
»Ich möchte aufsteigen und mir das selbst ansehen«, erklärte sie ihm. »Könnt Ihr jemanden auswählen, der mich hinaufbringt?«
Der schwarzbärtige Rift lachte. »Und der soll dann Tiger Ty gegenübertreten, wenn etwas geschieht? Keine Chance! Ich werde euch selbst mit hinaufnehmen, meine Königin. Auf diese Weise werde ich, wenn etwas schiefgeht, wenigstens nicht derjenige sein, der dafür geradezustehen hat!«
Sie informierte Triss über ihren Plan, lehnte sein Angebot ab, sie zu begleiten, und ging zu der Stelle hinüber, wo Rift sich gerade auf Grayl festgurtete. Tib holte sie mit großen, eifrigen Augen ein und fragte, ob er mitkommen dürfe. Sie lachte und lehnte es ab, versprach ihm aber, angespornt durch die Mischung aus Eifer und Enttäuschung auf seinem Gesicht, daß er ein anderes Mal mitkommen könne.
Minuten später flog sie auf Grayl südwärts, spähte auf den feuchten Baldachin der unter ihnen liegenden Wälder und auf den windbewegten Teppich des östlichen Graslands hinab. Nebel erhob sich in dampfenden Wogen von dem Land, und die Luft schimmerte wie heller Stoff. Grayl schoß schnell am Pykon vorbei die Waldlinie hinab, bis sie in Sichtweite der Föderationsarmee waren. Rift lenkte den Rock in den Schatten der Bäume und Berge und hielt sich zwischen den Südländern und dem Glanz der späten Nachmittagssonne.
Wren spähte auf das weite Lager hinab. Der Bericht war richtig gewesen. Die Armee machte mobil, packte ein, bildete Kolonnen und bereitete sich darauf vor, weiterzuziehen. Einige Abteilungen eilten bereits gen Norden. Was auch immer der Elfenangriff bewirkt haben mochte, er hatte das ursprüngliche Vorhaben der Armee nicht vereitelt. Der Marsch auf Arborlon wurde erneut geführt.
Grayl strich an der Armee vorüber, und gerade als Rift den riesigen Rock erneut umwenden wollte, berührte Wren seinen Arm und bedeutete ihm, weiterzufliegen. Sie war nicht sicher, wonach sie suchte, sie wollte nur sichergehen, daß sie nichts übersah. Kamen Reiter von den Städten des Südlandes heran, wurden Berichte ausgetauscht, wurde Verstärkung gesandt? Tiger Tys Warnung summte in ihren Ohren.
Sie flogen weiter, folgten dem schlammigen Band des Mermidon, wo er südlich aus dem Pykon heraus und an den Ebenen vorbeifloß, bevor er sich östlich oberhalb des Shroudslip auf Kern zuwand. Das Grasland erstreckte sich gen Süden und Osten leer und grün und in der Sommerhitze dampfend. Der Wind blies über ihr Gesicht und peitschte gegen ihre Augen, bis sie tränten. Erring Rift beugte sich vor, seine Hände ruhten auf Grayls Hals so beständig wie ein Fels und lenkten ihn durch die Berührung.
Vor ihnen wandte sich der Mermidon scharf nach Westen, verengte sich und weitete sich dann wieder, während er im Grasland verschwand. Der Fluß war träge und von den Regenfällen angeschwollen und mit Schutt aus den Gebirgen und Wäldern durchsetzt. Unaufhörlich wühlte er sich seinen Weg durch den ausgehöhlten Kanal weiter.
Am entgegengesetzten Ufer des Flusses wurde schimmerndes Sonnenlicht von Metall reflektiert, als sich etwas bewegte. Wren blinzelte und berührte dann Rifts Schulter. Der Flugreiter nickte. Er hatte es auch gesehen. Er verlangsamte Grayls Flug und lenkte den Rock näher an die Deckung der Bäume am nördlichen Ende des Irrybis heran.
Ein weiterer Lichtschimmer blitzte scharf auf, und Wren spähte vorsichtig nach vorn. Etwas Großes war dort unten. Nein, mehrere große Erhebungen waren es wohl. Sie alle bewegten sich, schleppten sich schwerfällig dahin wie riesige Ameisen...
Und dann konnte sie sie deutlicher sehen. Sie hatten sich unten am Ufer zusammengekauert, während sie sich darauf vorbereiteten, eine Furt zu überqueren. Offenbar waren sie aus dem Tirfing gekommen.
Kriecher.
Acht insgesamt.
Sie atmete tief ein, sah die gepanzerten, mit Stacheln versehenen Körper mit den scharfen Kanten, die Insektenbeine und Scheren, die von der Schattenwesenmagie gebildete Mischung aus Haut und Eisen.
Sie wußte über die Kriecher Bescheid.
Rift führte Grayl in scharfem Bogen zurück in die Bäume, fort von dem Anblick der Wesen am Ufer, fort von dem verräterischen Sonnenlicht. Wren schaute über die Schulter zurück, um sicherzugehen, daß sie sich nicht geirrt hatte. Es waren wirklich Kriecher, die da aus dem Südland gekommen waren. Sie waren gesandt, um der auf Arborlon zumarschierenden Föderationsarmee zu helfen – sie waren die Antwort der Schattenwesen auf ihre eigene Aktion, durch die die Armee aufgehalten worden war. Sie erinnerte sich an die Geschichte, die Garth sie als Kind gelehrt hatte, eine Geschichte, die die Menschen der Vier Länder mehr als fünfzig Jahre lang eher geflüstert als erzählt hatten: Wie die Zwerge dem Vormarsch der Föderation widerstanden hatten, bis die Kriecher gekommen waren, um sie zu vernichten.
Kriecher. Jetzt waren sie offenbar gesandt, um die Elfen zu vernichten.
Eine Grube öffnete sich in ihrem Magen, kalt und dunkel. Erring Rift sah sie an. Er wartete darauf, daß sie ihm sagen würde, was zu tun wäre. Sie deutete auf den Weg, den sie gekommen waren. Rift nickte und drängte Grayl vorwärts. Wren warf einen letzten verstohlenen Blick zurück und beobachtete, wie die Kriecher in der Hitze verschwanden.
Für den Moment sind sie nicht mehr zu sehen, dachte sie düster.
Aber was konnten die Elfen tun, wenn sie wieder erschienen?