Walker begrub Cogline in den Wäldern unterhalb Paranors. Er bettete ihn auf einer Lichtung zur Ruhe, die ein Fluß, der sich durch eine Reihe flacher Stromschnellen schlängelte, kühlte und die von Eichen und Hickorybäumen gesäumt wurde, deren belaubte Zweige einen Teppich aus Wildblumen und grünen Gräsern mit schattigen Mustern bedeckten. Jeden Tag würde sich mit dem Zug der Sonne gen Westen das Farbenspiel verändern. Es war eine Umgebung, die Walker an die verborgenen Täler am Hearthstone erinnerte, die sie beide so gern bewandert hatten. Er wählte einen Platz auf der Lichtung, von dem aus die Spitzen Paranors deutlich zu sehen waren. Cogline, der sich bis zum Ende als irregeleiteter Druide gefühlt hatte, war endlich heimgekehrt.
Als er fertig war, verweilte Walker noch eine Zeitlang auf der Lichtung. Er fühlte sich zerschlagen und erschöpft, aber die tiefsten Wunden waren jene, die er nicht sehen konnte, und es bedeutete für ihn ein gewisses Maß an Trost, inmitten der uralten Bäume zu stehen und die Waldluft zu atmen. Vögel sangen, ein Windstoß ließ die Blätter und Gräser rascheln, der Fluß kräuselte sich, und die Geräusche waren tröstlich und friedlich. Er wollte noch nicht nach Paranor zurückkehren. Er wollte nicht an den geschwärzten, verkohlten Überresten der Vier Reiter und ihrer Schlangenreittiere vorbei hinaufgehen. Er wollte alles, was in seinem Leben geschehen war, auslöschen wie Kreide von einer Tafel und erneut beginnen. In ihm war eine Bitterkeit, die er nicht loswerden konnte, die mit der Beharrlichkeit eines hungrigen Tieres an ihm nagte und kratzte und sich nicht vertreiben ließ. Diese Bitterkeit hatte viele Ursachen – er machte sich nicht die Mühe, sie aufzulisten. Am stärksten empfand er natürlich Bitterkeit über sich selbst. Er war in diesen Tagen immer über sich selbst verbittert, wie es schien, ein Fremder, aus dem Nichts gekommen, ein Mann, dessen Identität er kaum erkannte, ein nur zu bereites Unterpfand für die Wünsche und Bedürfnisse alter Männer, die seit tausend Jahren vergangen waren.
Er saß auf der Lichtung am Fluß, schaute über sie und den Flecken frisch gewendeter Erde an der Stelle, an der Cogline lag, hinweg und zwang sich dazu, sich an den alten Mann zu erinnern. Seine Verbitterung brauchte Linderung. Vielleicht würden Erinnerungen an den alten Mann dies bewirken. Er nahm sich einen Moment Zeit, um sich einige Handvoll kaltes Wasser aus dem Fluß ins Gesicht zu spritzen, es von Schmutz und Asche und Blut zu säubern, ließ sich dann auf einem sonnigen Fleck nieder und ließ seine Gedanken schweifen.
Wenn Walker sich an Cogline erinnerte, dachte er vor allem an den Lehrer, einen Mann, der zu ihm gekommen war, als sein Leben durcheinander und wirr gewesen war, als er die Rassen verlassen hatte, um allein am Hearthstone zu leben, wo man ihn nicht anstarren und über ihn flüstern würde, wo er nicht als der Dunkle Onkel bekannt sein würde. Die Magie war für Walker damals ein Mysterium gewesen, das Vermächtnis des Wunschgesangs von Brin Ohmsford, das durch die Jahre hindurch in einem Gewirr von Fäden herabgekommen war, die er nicht entwirren konnte. Cogline hatte ihm Möglichkeiten aufgezeigt, wie er die Magie kontrollieren konnte, so daß er sich ihr gegenüber nicht mehr hilflos fühlen mußte. Cogline hatte ihn gelehrt, wie er sein Leben ausrichten mußte, damit er Herr der weißen Hitze sein konnte, die in ihm wühlte. Er hatte ihm die Angst und die Verwirrung genommen und Walker seinen Sinn für das Wesentliche und seine Selbstachtung zurückgegeben.
Der alte Mann war sein Freund gewesen. Er hatte für ihn gesorgt, hatte sich auf eine Art um ihn gekümmert, die Walker, nach einiger Überlegung, als die Art erkannte, wie sich ein Vater um seinen Sohn kümmerte. Er hatte ihn unterwiesen und geleitet und war dagewesen, wenn er gebraucht wurde. Selbst als Walker reifer geworden war – und jener Abstand zwischen ihnen bestand, wenn Väter und Söhne sich als gleichberechtigt ansehen müssen, ohne es jemals selbst ganz zu glauben –, blieb Cogline so nahe bei ihm, wie Walker es zuließ. Sie hatten gekämpft und gestritten, sich mißtraut und beschuldigt und einander dazu herausgefordert, das zu tun, was richtig war, und nicht das, was leicht zu tun war. Aber sie hatten einander nie aufgegeben oder im Stich gelassen. Sie hatten niemals den Glauben an ihre Freundschaft verloren. Das Wissen um diese Tatsache half Walker jetzt.
Manchmal war es leicht zu vergessen, daß der alte Mann vor diesem schon andere Leben gelebt hatte, einige, von denen Walker noch immer kaum etwas wußte. Cogline war einst jung gewesen. Wie war das gewesen? Der alte Mann hatte es niemals erzählt. Er hatte mit den Druiden gelernt – mit Allanon, mit Bremen, vielleicht auch mit jenen, die zuvor vergangen waren, obwohl er das niemals wirklich gesagt hatte. Wie alt war Cogline gewesen? Wie lange hatte er gelebt? Walker erkannte plötzlich, daß er es nicht wußte. Cogline war bereits ein alter Mann gewesen, als Kimber Boh ein Kind gewesen und Brin Ohmsford auf der Suche nach dem Ildatch nach Darklin Reach gekommen war. Das war vor hundert Jahren gewesen. Was Walker von jener Zeit wußte, hatte er von Cogline. Der alte Mann hatte über diese Zeit gesprochen, über das Kind, das er aufgezogen hatte, über den Wahnsinn, den er nachgeahmt und sich dann zu eigen gemacht hatte, darüber, wie er Brin und ihre Gefährten zum Maelmord geführt hatte, damit sie den Mord Wraiths ein Ende bereiten konnten. Walker hatte jene Geschichten gehört. Dennoch kannte er damit nur einen sehr kleinen Teil des Lebens des alten Mannes – einen Tag aus der Zeitspanne eines ganzen Jahres. Was war mit dem Rest? Welche Teile seines Lebens hatte Cogline versäumt zu offenbaren – welche Teile waren jetzt für immer verloren?
Walker schüttelte den Kopf und schaute über die Bäume hinaus auf Paranor. Teile, die der alte Mann sicherlich nicht ungern vergessen hatte, entschied er. Walker beneidete Cogline nicht darum, daß er beschlossen hatte, sie geheimzuhalten. So geschah es mit dem Leben eines jeden. Alle Leute behielten Teile dessen, wer und was sie waren und wie sie gelebt hatten, für sich, Dinge, die nur ihnen gehörten, Dinge, die niemand sonst mit ihnen teilen sollte. Im Tode waren jene Dinge dunkle Höhlungen in den Erinnerungen jener, die weiterlebten, aber so mußte es sein.
Er stellte sich das bärtige Gesicht des alten Mannes vor. Er lauschte in der Stille auf den Klang seiner Stimme. Cogline hatte lange Zeit gelebt. Er hatte unzählige Leben gelebt. Er hatte länger gelebt, als er hätte leben sollen, am Hearthstone errettet, um nach Paranor zu gelangen und dafür zu sorgen, daß es zurückgebracht würde, und er war so gestorben, wie er es sich erwählt hatte, hatte sein eigenes Leben aufgegeben, damit Walker das seine behalten konnte. Es wäre Walker falsch erschienen, dieses Geschenk zu beklagen, denn wenn er es beklagt hätte, hätte er damit nur seinen Wert vermindert. Cogline hatte gelebt, um miterleben zu können, wie er zu jenem Druiden umgewandelt wurde, der der alte Mann niemals geworden war. Er hatte gelebt, um seine Entwicklung bis zu den Träumen von Allanon und der Erfüllung von Brin Ohmsfords Vermächtnis zu führen. Und unabhängig davon, ob es nun zum Guten oder zum Schlechten geschehen war, Walker war dank Cogline sicher durch die Geschehnisse hindurchgelangt.
Er spürte, wie ein Teil seiner Bitterkeit zu schwinden begann. Die Bitterkeit war falsch. Sich zu beklagen war falsch. Es gab Ketten, die einen festhielten und herabzogen. Nichts Gutes konnte daraus erwachsen. Was gebraucht wurde, waren Ausgewogenheit und Perspektiven, wenn die Zukunft eine Bedeutung haben sollte. Walker konnte sich erinnern – und sollte es auch tun. Aber die Erinnerungen waren dazu gedacht, das zu gestalten, was kam, die Möglichkeiten zu ergreifen, die vor ihm lagen, und sie den Zwecken zuzuführen, für die sie bestimmt waren. Er dachte erneut an die Druiden und ihre Machenschaften, an die Art, wie sie die Geschichte der Rassen gestaltet hatten. Er hatte ihre Bemühungen verachtet. Jetzt war er einer von ihnen. Cogline hatte gelebt und war gestorben, damit er es sein konnte. Seine Chance bestand darin, das besser zu machen, was er bei jenen so schnell kritisiert hatte, die vor ihm gegangen waren. Er mußte das Beste aus dieser Chance machen. Cogline konnte erwarten, daß er das tat.
Die Sonne glitt im Westen unter den Baldachin des Waldes, als er aufstand und sich ein letztes Mal zu der Stelle begab, an der der alte Mann begraben lag. Er fand sich jetzt besser als zuvor mit dem ab, was geschehen war, war jetzt besser mit den reinen Tatsachen ausgesöhnt. Cogline war gegangen. Walker blieb. Er würde Kraft und Entschlossenheit aus dem Beispiel des alten Mannes schöpfen. Er würde seine Erinnerung im Herzen tragen.
Als das Licht im Dunst der Sommerhitze karmesinrot und golden und purpurfarben wurde, ging er den Weg durch die sich verdunkelnden Wälder nach Paranor zurück.
In dieser Nacht träumte er von Allanon.
Es war das erste Mal seit dem Hearthstone, daß dies geschah. Sein Schlaf war tief und ruhig, und der Traum weckte ihn nicht, obwohl er hinterher dachte, daß es ein- oder zweimal nahe daran gewesen war. Er war erschöpft von seinem Kampf, und er hatte wenig gegessen. Er hatte gebadet, sich umgezogen und dann einen Becher Bier getrunken, während er in dem Studierzimmer gesessen hatte, das Cogline so geliebt hatte. Ondit hatte zusammengerollt zu seinen Füßen gelegen, die leuchtenden Augen hin und wieder auf ihn gerichtet, als wollte er fragen, was aus dem alten Mann geworden war. Als er so müde geworden war, daß er sich kaum noch hatte aufrecht halten können, war er zu seinem Schlafraum gegangen, unter die Decken gekrochen und hatte sich davongleiten lassen.
Der Traum war wohl sofort gekommen. Es war Nacht, und er ging allein auf dem schimmernden schwarzen Gestein entlang, das den Boden des Tales von Shale bedeckte. Der Himmel war klar und sternenerfüllt. Ein Vollmond schien weiß wie frisches Leinen vor dem gezackten Grat der Drachenzähne. Die Luft roch sauber und rein wie von jeher, und ein Windstoß strich mit kühler Berührung über sein Gesicht. Walker war schwarz gekleidet, mit einem Gewand mit Kapuze, mit Gürtel und Stiefeln, ein Druide, der im Kielwasser bereits vergangener Druiden verging. Er stellte nicht in Frage, wer er war. Er war aus der Dunkelheit des Schwarzen Elfensteins gekommen, durch das Feuer der Umwandlung in den Brunnen des Keep gelangt, zurückgekommen in die Welt der Menschen. Er war Herr von Paranor und Diener der Rassen. Es war ein seltsames, belebendes Gefühl. Das Gefühl schien dazuzugehören.
Schwache Momente glitten in dem Traum vorüber, und dann näherte er sich dem Hadeshorn, wo das Wasser schwarz und ruhig in der Nacht schimmerte. Wie Glas leuchtete der See glatt und glänzend im Mondlicht und spiegelte den Himmel und die Sterne wider. Das Gestein knirschte unter seinen Füßen, während er ging, aber jenseits dieses Geräuschs war nur Stille. Es kam ihm vor, als wäre er allein auf der Welt, der letzte Mensch, der sie bewanderte, ein einsamer Wächter über die übriggebliebene Leere.
Er erreichte den Hadeshorn und blieb stehen. Regungslos harrte er an seinem Ufer aus. Der Wind erstarb unterdessen, und die Stille drängte rund um ihn herum heran. Er griff aufwärts und zog die Kapuze seines Umhangs zurück. Er wußte nicht, warum. Mit entblößtem Kopf wartete er.
Er mußte nur einen Moment lang warten. Fast sofort begann der Hadeshorn zu brodeln. Sein Wasser kochte, als sei es in einem Kessel erhitzt worden. Dann begann es Strudel zu bilden und kreiste in einer langsamen und stetigen Bewegung, die sich von einem Ufer zum anderen erstreckte. Walker erkannte, was geschah. Er hatte es schon zuvor geschehen sehen. Der Hadeshorn zischte, Gischt erhob sich in weit über die Oberfläche aufragenden Geysiren und fiel dann in einem Wirrwarr von Edelsteinen in sich zusammen. Wehklagen begann. Er hörte den Klang von an einem fernen Ort gefangenen Stimmen, die um Erlösung baten. Das Tal erschauerte, als erkenne es die Schreie, als krümme es sich von ihnen fort. Walker Boh hielt stand.
Dann erschien Allanon erneut. Er erhob sich zu einem Chor von Schreien aus dem schwarzen Wasser. Aus der Unterwelt kam ein grauer, mit einem Umhang mit Kapuze bekleideter Geist, um mit dem Mann zu sprechen, der als sein Nachfolger erwählt worden war. Er schimmerte, als er sich erhob, durchscheinend im Mondlicht, denn die Haut und die Knochen seines sterblichen Körpers waren vor langer Zeit im Staub vergangen, und er war nur noch ein blasses Bild dessen, der er gewesen war. Er stieg aus den Tiefen empor, bis er auf der Wasseroberfläche stand, ließ sich dort schweigend nieder und sah Walker Boh an.
»Allanon«, grüßte der Dunkle Onkel mit einer Stimme, die er nicht als seine eigene erkannte.
– Du hast es gut gemacht, Walker Boh –
Die Stimme klang tief und volltönend und wogte von tief unten aus einem höhlenartigen Raum innerhalb des Schattens herauf.
Walker Boh schüttelte den Kopf. »Nicht sehr gut. Nur ausreichend. Ich habe getan, was ich tun mußte. Ich habe den, der ich war, für den aufgegeben, der Ihr mich werden lassen wolltet. Zuerst war ich verärgert darüber, daß es so sein sollte, aber ich habe diesen Ärger hinter mir gelassen.«
Die Wasser des Hadeshorn brodelten und zischten erneut, als der Schatten vorwärts kam und über die Oberfläche glitt. Es sah aus, als müsse er sich nicht bewegen. Er blieb stehen, als er bis auf eine Reichweite von etwa zehn Fuß an Walker herangekommen war.
– Das Leben ist eine Zeit, in der man wählen muß, Walker Boh. Der Tod ist eine Zeit, sich daran zu erinnern, wie man gewählt hat. Manchmal sind die Erinnerungen nicht unbedingt erfreulich –
Walker nickte. »Ich weiß, daß es so sein muß.«
– Trauerst du um Cogline –
Walker nickte erneut. »Aber auch das liegt hinter mir. Er hat gut gewählt. Sogar dieses letzte Mal.«
Der Arm des Schattens hob sich und folgte einem glitzernden Sprühregen, der wie Silberstaub herabfiel.
– Ich konnte ihn nicht retten. Sogar Druiden haben nicht die Macht, dem Tod zu widerstehen. Mir wurde es von Bremen mitgeteilt, als meine Zeit fast gekommen war. Cogline hat es von mir erfahren. Ich habe ihm alle Hilfe gegeben, die ich ihm geben konnte – eine Chance, in die Vier Länder zurückzukehren, wenn Paranor wiederhergestellt sein würde – eine Chance, dir bei deinem Kampf gegen die Schattenwesen ein letztes Mal zu helfen. Mehr konnte ich nicht tun –
Walker sagte nichts. Er sah die Erscheinung an, schaute unmittelbar durch sie hindurch und betrachtete weit entfernte, noch kommende und bereits vergangene Ereignisse und Coglines letzte Ruhestätte. Der Tod hatte den alten Mann beansprucht, aber er hatte ihn zu seinen Bedingungen beansprucht.
– Wenn ich könnte, würde ich dir all jene zurückgeben, die du verloren hast, Walker Boh. Aber ich kann es nicht. Ich kann dir nichts von dem geben, was vergangen ist, und nichts von dem, was noch verloren werden wird. Das Leben eines Druiden sieht viele dahinscheiden –
In seinem Traum wurde das Tal von einem Strom der Verschwommenheit verdunkelt, der wie Regen durch einen Wald oder wie Wolken über die Sonne streicht. Es war ein langsames, sanftes Vorüberziehen, und es brachte ein Gefühl mit sich, als seien Leben entstanden und nähmen ihren Verlauf, alles innerhalb von Sekunden. Da waren Gesichter, alle unbekannt. Da waren Stimmen, die lachend und auch schmerzerfüllt aufschrien. Die Zeit verging, Stunden wurden zu Tagen, Tage zu Jahren, und Walker war dort, unverändert, während der ganzen Zeit, beständig zurückgelassen, ewig allein.
– So wird es für dich sein. Erinnere dich –
Aber Walker brauchte sich nicht zu erinnern. Er hatte dafür Allanons Erinnerungen. Die Umwandlung hatte sie ihm zugänglich gemacht. Er hatte die Erinnerungen aller zuvor vergangenen Druiden. Er wußte, wie sein Leben aussehen würde. Er erkannte, was ihm bevorstand.
– Erinnere dich –
Das Flüstern des Schattens ließ die Zeit erneut stillstehen, das Tal von Shale kam wieder heran, und Walkers Gedankenfluß wurde erneut auf die Absicht des Traums gelenkt.
»Warum bin ich hier, Allanon?« fragte er.
– Du bist jetzt vollständig, Walker Boh. Du bist zu dem geworden, was du werden solltest, und es bleibt nichts mehr zu tun. Du trägst den Druidenschutz, du wirst ihn an meiner Statt tragen. Trage ihn jetzt von Paranor in die Vier Länder. Du wirst dort gebraucht –
»Ich weiß.«
Gischt zischte und sang. Allanons Gesicht unter der Kapuze senkte sich.
– Du weißt nicht. Du wurdest umgewandelt, Walker Boh, aber das ist nur der Anfang. Du bist ein Druide geworden, gewiß, aber ein Werden ist kein Sein. Du trägst die Verantwortung für die Rassen, für ihr Wohlergehen, Dunkler Onkel. Jene, von denen du dich einst absondern wolltest, sind jetzt deine Aufgabe. Sie warten –
»Um von den Schattenwesen befreit zu werden.«
– Deine Aufgabe ist es, ihnen zu zeigen, wie sie sich befreien können. Deine Aufgabe ist es, ihnen den Weg zu zeigen. Deine Aufgabe ist es, sie aus der Dunkelheit herauszuführen –
Walker Boh schüttelte verwirrt den Kopf. »Aber ich kenne diesen Weg nicht besser als sie.«
Die Oberfläche des Hadeshorn dampfte, und die Luft war von Nebel erfüllt. Die Feuchtigkeit legte sich auf Walkers Gesicht wie Frost an einem frühen Wintermorgen. Es war tödlich, die Wasser des Hadeshorn zu berühren, aber nicht für ihn. Denn die Druiden hatten vor langer Zeit Geheimnisse entdeckt, die sie in die Lage versetzten, den Tod zu durchdringen.
Allanons Stimme klang dunkel und gewiß.
– Du wirst den Weg finden. Du hast die Kraft und die Weisheit all jener, die zuvor vergangen sind. Du hast die Magie der Jahrhunderte. Verlasse Paranor und finde die anderen Kinder von Shannara. Jeder von euch wurde ausgesandt, um eine Aufgabe zu erfüllen. Ihr seid die Träger der Talismane, Walker Boh. Jene Talismane sollen euch unterstützen –
Walker schüttelte verwirrt den Kopf. »Welchen Talisman trage ich?«
Der Schatten Allanons schimmerte kurzzeitig in einem sich aus dem See erhebenden Wehklagen von Schreien und drohte zu verschwinden.
– Den mächtigsten Talisman von allen: den Druidenschutz, den du angenommen hast. Er kann niemals gesehen werden, aber er ist immer da und gehört dir allein. Seine Macht nimmt zu, wenn du ihn benutzt, er kräftigt sich mit jedem Gebrauch. Denk nach, Walker Boh. Bevor du die Reiter vernichtet hast, warst du weniger, als du es jetzt bist. So wird es bei jeder dir begegnenden und von dir bewältigten Herausforderung sein. Du bist noch im Kindesalter und beginnst gerade erst zu entdecken, was es bedeutet, ein Druide zu sein. Mit der Zeit wirst du wachsen –
»Aber im Moment...?«
– Du hast genug Verantwortung. Die Verantwortung bedingen Talismane, und die Talismane bedingen die Magie. Magie zusammen mit Wissen sollte das Ende der Schattenwesen herbeiführen können. So war es, als ich das erste Mal mit dir sprach. So ist es jetzt. Wenn ich könnte, würde ich dir mehr geben, Walker Boh. Aber ich habe dir bereits alles gegeben, was ich dir geben konnte, alles, was ich weiß. Erinnere dich daran, Dunkler Onkel. Ich bin aus eurer Welt gegangen und wurde in eine andere hineinversetzt. Ich habe keine Substanz mehr. Ich bestehe jetzt aus anderem. Ich sehe von meinem Standort aus nur unvollständig. Ich sehe nur Schatten dessen, was sein würde und muß mich darauf verlassen. Du kannst dich auf deine Sicht der Dinge verlassen. Geh, Walker. Finde die Nachkommen von Shannara und entdecke, was sie getan haben. In ihren Geschichten und in deiner eigenen wirst du finden, was du brauchst. Du mußt glauben –
Walker sagte dann nichts mehr und dachte einen Moment lang, daß er wieder einmal gefordert war, allein aufgrund von Vertrauen weiterzumachen. Aber das war nur das, was er schon die ganze Zeit tat, seit ihm die Träume zum ersten Mal erschienen waren und er dazu überredet worden war, zum Hadeshorn und zu Allanon zu ziehen. War es wirklich so schwer, zu akzeptieren, daß das Vertrauen ihn erneut leiten müßte?
Er betrachtete die fahle Gestalt vor sich, deren Umrisse schon fast transparent, deren Erinnerungen an Leben zuvor vergangen waren. »Ich glaube«, sagte er zu dem Schatten Allanons und meinte es auch so.
– Walker Boh –
Die Stimme des Schattens war weich und von einem Bedauern erfüllt, das Worte nicht verdeutlichen konnten.
– Finde die Kinder von Shannara. Du hast die visionäre Kraft der Druiden. Du hast die Weisheit, die sie brauchen. Laß sie nicht im Stich –
»Nein«, sagte Walker rauh. »Das werde ich nicht.«
– Vernichte die Schattenwesen, bevor sie die Vier Länder vollkommen zerstören. Ich spüre, wie sich ihre Krankheit sogar hier schon auszubreiten beginnt. Sie stehlen der Erde das Leben. Halte sie auf, Walker Boh –
»Ja, Allanon. Das werde ich.«
– Dann konzentriere dich auf mich, Dunkler Onkel. Konzentriere dich ein letztes Mal, bevor du gehst. Der Schlaf trägt uns dem Tagesanbruch entgegen, und wir müssen verschiedene Pfade beschreiten. Höre das letzte, was ich dir sagen werde, und laß deine Weisheit und deinen Verstand erkennen, was vor uns beiden verborgen bleibt. Konzentriere dich auf mich, Walker Boh, und hör mir zu –
Der Schatten näherte sich, Dampf in menschlicher Gestalt auf den Wassern des Hadeshorn, Nebel und graues Licht, das alles einhüllte, ein Geist, geformt aus erschreckender Dunkelheit und erklingenden Geräuschen.
Angespannt und unsicher wartete Walker Boh, den Blick auf das brodelnde Wasser gesenkt, auf die Widerspiegelung der Sterne und des Himmels, bis beides in der Schwärze der Schatten verschwand.
Dann spürte er, wie der andere seine Haut berührte, und er zitterte unkontrolliert.
Er erwachte bei Sonnenaufgang. Das Licht kroch schwach aus dem Gang jenseits seines verdunkelten Raumes. Er lag eine Zeitlang regungslos da und dachte über den Traum nach und darüber, was er ihm gezeigt hatte. Allanon hatte den Traum gesandt, damit er einen Ort hatte, wo er sein neues Leben beginnen konnte. Der Traum hatte seine Absicht, Par und Wren zu suchen, erneut bekräftigt, aber er hatte ihm auch einen Grund gegeben, an sich selbst zu glauben. Er konnte akzeptieren, wer und was er geworden war, wenn zumindest eine Chance bestand, daß er die verwüsteten Länder und ihre Bewohner aus der Unterwerfung durch die Schattenwesen herausführen konnte.
Finde die Kinder von Shannara. Laß sie nicht im Stich.
Dann erhob er sich von seinem Bett, wusch sich, zog sich an und frühstückte auf den Festungsanlagen, die im Licht des neuen Tages über das Land hinwegsahen. Er dachte erneut an Cogline, an all das, was der alte Mann ihn gelehrt hatte. Er wiederholte für sich die Litanei von Regeln und Einsichten, die ihm seine Umwandlung von einem sterblichen Menschen zu einem Druiden gegeben hatte, die gesamte Geschichte der gewesenen und wieder vergangenen Druiden. Er ging sorgfältig die Lehren über den Gebrauch seiner Magie durch, von denen er einige bereits ausprobiert hatte und einige noch ungeprüft geblieben waren.
Zuletzt zählte er noch einmal die Ereignisse des Traums auf und die Geheimnisse, die er ihm offenbart hatte. Und da waren Geheimnisse gewesen – einige wenige, wichtige, vor allem jenes zuletzt, als Allanon ihn berührt hatte. Was er erfahren hatte, begann bereits auf Antworten auf seine bisher unbeantworteten Fragen hinzudeuten. Die Geschichte der Vier Lander seit der Zeit des Ersten Konzils in Paranor bildete ein Muster für das, was jetzt geschah. Die Ereignisse der vergangenen Wochen gaben diesem Muster Farbe und Gestalt. Aber erst der von ihm hervorgebrachte Traum und die Einsichten brachten dieses Muster ans Licht, wo es deutlich erkennbar war.
Was noch immer fehlte, war der Grund, warum Wren mit der Aufgabe betraut worden war, die Elfen zurückzubringen.
Was fehlte, war der Grund, warum Par ausgesandt worden war, um das Schwert von Shannara zu finden.
Und vor allem fehlte die Wahrheit hinter dem Geheimnis der Schattenwesenmacht.
Schließlich erhob er sich und stieg hinab in die Tiefen der Festung. Ondit folgte ihm leise, er war nicht mehr als ein Schatten in seinem Rücken. Er würde die Moorkatze mit sich nehmen, beschloß er. Cogline hatte ihm die Katze immerhin überlassen. Es lag in seiner Verantwortung, für sie zu sorgen. Sie konnte nicht im Keep eingesperrt bleiben, und die Nähe, die sie teilten, könnte sich auch vielleicht als nützlich erweisen. Er lächelte, als er seine Gedanken überprüfte. Die Wahrheit war, daß er hoffte, Ondit würde ihm ein wenig der Kameradschaft geben, die ihm ohne Cogline fehlen würde.
Er stieg in den Brunnen der Festung hinab, legte dort seine Hände an die Steinmauern, griff hinein und tastete nach dem Leben, das dort ruhte. Die Magie kam zu ihm. Sie gehorchte seinem Rufen, und er sorgte dafür, daß niemand hereinkommen konnte, bis er zurückkehren würde.
Dann schloß er die Tore Paranors und ging wieder in die Welt hinaus. Er verließ die Klippe und betrat die Wälder, in denen die Hitze ausgeschlossen wurde und es schattig und kühl war. Ondit ging mit ihm. Er war dankbar, daß er wieder aus den einengenden Mauern befreit worden war, glitt in die Schatten, um Nahrung und Spuren zu suchen, kehrte aber hin und wieder an Walkers Seite zurück, um sicher zu sein, daß er noch da war. Sie zogen nördlich an dem Platz vorbei, an dem Cogline lag, und Walker wandte sich nicht zur Seite. Er hatte sich bereits von dem alten Mann verabschiedet. Es war das beste, es dabei zu belassen.
Der Tag neigte sich dem Ende zu, der brennende Glanz der Sonne entglitt westlich zu den Drachenzähnen, die Hitze löste sich in der Kühle der Abendschatten langsam auf. Walker und die Moorkatze zogen beständig weiter. Vor ihnen wurden die Wachfeuer der im Kennonpaß lagernden Föderationssoldaten entzündet. Sie lagerten um den Schein der Flammen und aßen. Nur einige Wächter wurden auf ihre Posten geschickt.
Um Mitternacht waren Walker und die Moorkatze ungesehen an ihnen vorbeigelangt und befanden sich auf dem Weg nach Süden.